Wie aus der A-4-Rakete die V-2 wurde

Nachdem Hitler zehn Jahre lang nur Desinteresse und Ablehnung für die Raketenentwicklung übrig hatte, entdeckte er auf einmal im Jahre 1943, als sich die Niederlage bereits abzuzeichnen begann, die A-4-Rakete und beschloss, sie als „Vergeltungswaffe“ für die verheerenden Luftangriffe der Alliierten auf deutsche Städte einzusetzen. Er verlangte von der Heeresversuchsanstalt in Peenemünde, die Versuchsrakete praktisch über Nacht in Massenproduktion herzustellen. Doch als im Herbst 1944 die ersten A-4, die nun V-2 hießen, abgefeuert wurden, waren die Alliierten bereits in der Normandie gelandet.

Das Raketenteam in Peenemünde hatte zehn Jahre lang unter der Aufsicht der Armee gearbeitet und war von den nationalsozialistischen Regierungsstellen mehr oder weniger widerwillig geduldet worden. Ständig mussten sie um Mittel ringen. Nun, als das Projekt endlich Erfolge versprach, mussten die Wissenschaftler befürchten, dass Regierung oder SS die Kontrolle über das Projekt an sich reißen und damit jede Weiterentwicklung im Raketenwesen und der Raumfahrt zunichte machen würden.

Das groteske politische Klima, in dem die Entwicklung der neuen Raketentechnik während des Krieges vor sich ging, spiegelt sich in den Erfahrungen Hermann Oberths wider. Von 1930 bis 1938 war Oberth in seinem Heimatland Rumänien als Schullehrer tätig und verfügte über keinerlei Mittel für experimentelle Arbeiten. Trotz aller Enttäuschungen gab er jedoch nie die Hoffnung auf, dass seine Raketen irgendwann entwickelt werden würden. In einem Interview mit der New York Times sagte er am 30. Januar 1931: „Ich hoffe, dass ich eines Tages – frühestens in fünfzehn Jahren – in einer Rakete fliegen kann, wenn nicht zum Mond, dann zum Mars oder Jupiter.“((Eider 1991, S. 20.))

Man hätte annehmen sollen, dass Oberth, der eigentliche Vater der Raumfahrt, als einer der ersten aufgefordert worden wäre, am Raketenprogramm der Wehrmacht mitzuarbeiten, als dieses 1932 in Gang kam. Auch wenn seine überragenden Fähigkeiten eher im theoretischen Bereich als in der praktischen Ingenieursarbeit lagen, hielt man ihn bis 1941 mehr aus politischen und nicht aus Eignungsgründen aus dem Raketenprogramm heraus.

Im April 1937 wurde Oberth nach Berlin eingeladen und traf dort mit Dornberger, von Braun, Busemann und Vertretern des Reichsluftfahrtministeriums zusammen. Oberth wusste nicht, dass das Treffen dazu diente, ihn im Rahmen des Aufbaus von Peenemünde auszuhorchen. Von Braun hatte damals keine Möglichkeit, seinen verehrten Lehrer an dem geheimen Raketenprogramm zu beteiligen.((Barth 1991, S. 180.)) Von Braun erklärte das Oberth später so: „Zwei Hindernisse haben es uns bisher unmöglich gemacht, Sie nach Peenemünde zu holen, Herr Professor. Einmal die Sache mit der Staatsbürgerschaft, deretwegen die Gestapo Schwierigkeiten machte, zum anderen ein für Sie sehr ehrenvoller Grund: Sie sind auch im Ausland sehr bekannt, und wir mussten fürchten, dass Ihre Anwesenheit dem feindlichen Spionagedienst verraten würde, was wir in Peenemünde treiben.“((Barth 1991, S. 181.))

Oberth schilderte in einem Brief vom 28. April 1948 an den österreichischen Wissenschaftler Eugen Sänger die Lage aus seiner Sicht:

„Bei mir wurde zunächst einmal bis 1938 überhaupt verhindert, dass ich nach Deutschland gerufen wurde. An sich waren die Gründe ja unhaltbar, die dabei ins Feld geführt wurden. Zum Beispiel, ich sei nicht arischer Abstammung (meine Eltern waren jedenfalls Vollarier), ich sei in meiner Arbeit oberflächlich und schluderhaft (so etwas kann man erst behaupten, wenn der Betreffende das bei irgendeiner Gelegenheit gezeigt hat), oder ich sei überhaupt kein Ingenieur und verstünde als Balkanbewohner von manchen technischen Dingen nicht einmal soviel wie in Deutschland ein Laie…

Als ich dann aus dem Umstand, dass in Deutschland offensichtlich kein Platz war, endlich die Konsequenz zog und mit ausländischen Stellen die Verbindung suchte, wurde ich dann rasch an die TH Wien berufen, aber nur um mich wirksamer kaltzustellen, wie mir mein damaliger Chef und mein Assistent ausdrücklich sagten.“((Barth 1984, 1. Band, S. 145.))

Als jemanden, der zuviel über Militärtechnik wusste, wollte der Nazistaat Oberth lieber im Auge behalten. Daher holte ihn die Luftwaffe ins „Großdeutsche Reich“ nach Wien, wo er im nahegelegenen Felixdorf einen Raketenversuchsplatz bauen durfte. Wernher von Braun besuchte Oberth in Wien und schrieb später: Er hatte „einen miserablen Prüfstand, einen Mechaniker… Oberth hätte, als er den Ruf nach Wien bekam, wissen sollen, dass er zur bedingungslosen Zusammenarbeit verurteilt war, sobald er auch nur einen Fuß auf den Boden des Dritten Reiches gesetzt hatte.“((Ley 1957a, S. 221.))

In einem Brief an Ley vom 24. Dezember 1948 erinnert sich Oberth an die damaligen Ereignisse:

„Ich erklärte daher Herrn Prof. Dr. Beck, dem Chef des Instituts für Kraftfahrwesen an der TH Wien, dem auch mein Büro unterstellt war, dass ich diese Art Tätigkeit satt habe und mich wieder nach Siebenbürgen zurückbegeben möchte. Antwort: ,Wir können Sie nicht mehr aus dem Reich herauslassen, solange Sie nicht deutscher Staatsbürger sind, denn Sie wissen trotz aller Geheimhaltungsmaßnahmen doch bereits zuviel, und wir hätten gar keine Handhabe gegen Sie, wenn Sie drAußen etwas ausplaudern wollten. Sie haben nur die Wahl, deutscher Staatsbürger zu werden oder ins KZ zu wandern.‘ Die Menschenschinderei in den KZs war mir damals noch nicht bekannt, aber ich zog gleichwohl die deutsche Staatsbürgerschaft vor.“

Von Braun versuchte, Oberths Einbürgerung zu beschleunigen, um ihn nach Peenemünde zu bringen. Oberth schrieb weiter:

„Ich wurde also im Juli 1941 deutscher Staatsbürger und kam im August 1941 nach Peenemünde, wo ich dann bis Dezember 1943 geblieben bin. Hier hatte ich alle für Deutschland greifbaren Patentanmeldungen und Ideen daraufhin zu prüfen, ob daran etwas sei, was sich auch in der Raketentechnik verwerten ließe… außerdem schrieb ich verschiedene Berichte, zum Beispiel ,Über die beste Teilung von Stufenaggregaten‘ und über ,Die Abwehr feindlicher Flieger durch große ferngelenkte Pulverraketen‘, wobei ich einen ganz neuen Typ von Pulverraketen vorschlug.“((Barth 1984, Band 1, S. 152–153.))

Auch wenn Oberth nur relativ kurze Zeit in Peenemünde war und dort von der eigentlichen Arbeit ausgeschlossen blieb, konnte er sich mit den jüngeren Wissenschaftlern, die ihn nur durch seine Bücher kannten, unterhalten und Gedanken austauschen. Zum Beispiel arbeitete Oberth bei den Stufenaggregaten sehr eng mit dem Leiter der Projektengruppe, Ludwig Roth, zusammen.

Oberths Aufenthalt in Peenemünde wurde von weiteren Enttäuschungen überschattet, nachdem er schon nicht an der A-4 mitarbeiten konnte. Er erlebte den britischen Luftangriff auf die Raketeneinrichtungen am 17. und 18. August 1943, und zwei Wochen später kam seine Tochter Ilse bei einem Unfall im Flüssigsauerstoffwerk Redl-Zipf in Österreich ums Leben.

Von Braun schrieb Oberth am 31. August:

„Darf ich Ihnen, sehr verehrter lieber Herr Kollege Oberth, zu dem schweren Schlag, der Sie und Ihre Familie durch den Tod Ihrer Tochter trifft, mein herzlichstes Beileid aussprechen. Es liegt eine besondere Tragik in dem Umstand, dass dieses junge Mädchen, das die schönsten Jahre seines Lebens gerade vor sich liegen sah, im Dienste einer Aufgabe fallen musste, die auf einer einmaligen und aus der Geschichte der Technik nicht mehr wegzudenkenden Pioniertat ihres Vaters aufgebaut war. Sie ist nun eingegangen in den immer größer werdenden Kreis der stillen Helden, die für die große Aufgabe ihr Leben hingegeben haben. Auch ihr Opfer ist für uns Zurückbleibende eine Verpflichtung, in unserem Kampf für unser großes Ziel nicht müde zu werden.“((Barth 1984, Band 1, S. 127.))

Startvorbereitung einer A-4 auf Prüfstand VII. Bild: Deutsches Museum, München
Startvorbereitung einer A-4 auf Prüfstand VII. Bild: Deutsches Museum, München

Die britischen Luftangriffe auf Peenemünde beendeten Oberths Arbeit an den Stufenaggregaten, auch andere fortgeschrittene Projekte wurden abgebrochen. Er wurde zur Westpfählisch-Anhaltische Sprengstoff-AG nach Reinsdorf bei Wittenberg versetzt und sollte dort „eine ferngesteuerte Feststoffrakete zur Fliegerabwehr entwickeln“, und er beginnt damit, „seine bereits 1935 in Mediasch konzipierte Feststoffrakete auf der Basis von Ammoniumnitrat zu verwirklichen“.((Oberth 1967, S. 121.))

Als Oberth zum ersten Mal die A-4 erblickte, erschrak er geradezu über die Fortschritte der Entwicklung. Dann glaubte er, die falsche Rakete sei gebaut worden. „Er meinte“, berichtete seine Tochter Erna Roth-Oberth in einem Interview 1992, „dass sich für militärische Anwendungen eine Pulverrakete weitaus besser eignete und auch billiger sei als die komplizierte Rakete mit flüssigen Treibstoffen“. Aber Wernher von Braun und seine engsten Mitarbeiter hatten sich treu an Oberths Pläne aus den zwanziger Jahren gehalten. Sie wollten ja auch gar keine Waffe bauen. Frau Roth-Oberth beteuert, dass von Braun in Peenemünde eine Rakete entwickele, „wie man sie braucht, wenn man in den Weltraum kommen will.“

Die Visionäre unter den Wissenschaftlern und Ingenieuren planten also eine Rakete, die eines Tages um die Erde und zum Mond fliegen sollte. Die Wehrmacht wollte eine Langstreckenwaffe für Angriffe auf militärische Ziele entwickeln. Aber die Nationalsozialisten hatten etwas anderes im Sinn.

Hitler wollte seine Pläne zur Neuordnung Europas mit Hilfe des Blitzkriegs durchsetzen. Daher legte er keinen Wert auf langfristige Forschungen und die Entwicklung neuer Langstreckengeschosse, nicht einmal Kurzstreckenraketen zur Luftabwehr interessierten ihn. Als die Briten 1938 in München für viele unerwartet vor Hitlers Aggressionen kapitulierten, schien Hitlers Vorgehensweise aufzugehen. Als ein Jahr später der Krieg ausbrach, „erwartete von Braun, wie die meisten Deutschen“, schreibt Stuhlinger, „keinen lange dauernden Krieg und war daher zuversichtlich, dass die A-4 nicht im Krieg eingesetzt würde“.((Ordway und Liebermann 1992, S. 113.))

Zur Zeit der Machtergreifung Hitlers 1933 war die Wehrmacht aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrags nur noch ein Schatten der Vorkriegsarmee. Die Offiziere sahen, nachdem der Kaiser 1919 abgedankt hatte, im greisen Reichspräsidenten Hindenburg denjenigen, der über die alten Werte der preußischen Armee wachte. Die konservative preußische Armeeführung stellte für Hitler ohnehin eine mögliche Bedrohung dar. Sie war als diejenige, die in einem Krieg den größten Blutzoll zu zahlen hätte, überhaupt nicht geneigt, die Expansionspläne des emporgekommenen österreichischen Gefreiten mitzutragen.

Anfangs gab sich Hitler alle Mühe, das Militär für sich einzunehmen. Dem diente unter anderem auch die Zerschlagung der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA) unter Ernst Röhm im Jahre 1934, der vorhatte, die SA zum Kern eines nationalsozialistischen Volksheeres zu machen. Hitler fürchtete die Ambitionen Röhms mehr als den Widerstand der Wehrmacht und wandte sich zunächst gegen ihn.

Trotzdem wollte Hitler keine unabhängig gesonnene militärische Führung neben sich dulden. Als Hitler 1934 in der „Nacht der Langen Messer“ mit seinen Widersachern und Konkurrenten in der nationalsozialistischen Bewegung aufräumte, ließ er auch General Kurt von Schleicher, dessen Frau und Adjutanten ermorden. Von Schleicher war Hitlers gefährlichster Gegner vor der Machtergreifung gewesen. Als letzter Kanzler der Weimarer Republik hatte von Schleicher ein wirtschaftliches Aufbauprogramm angeregt, das Hitler die soziale Basis rasch entzogen hätte.((Hahn 1991, S. 7.))

Als nächste wurden die ranghöchsten Offiziere der Wehrmacht, Generalfeldmarschall Werner von Blomberg und Generaloberst Baron Werner von Fritsch, ihrer Posten enthoben. Der erste, weil er eine Frau „zweifelhaften Rufs“ geheiratet hatte, der zweite unter dem falschen Vorwurf der Homosexualität.

Willy Ley schrieb darüber: „Die Nazipartei stieß auf ein paar alteingesessene Gruppen, die ihrer eigenen Tradition folgten und sich nicht änderten, jedenfalls nicht so schnell wie gewünscht. Das erste Beispiel hierfür ist die katholische Kirche. Auch die Wehrmacht blieb abseits vom politischen Geschehen, schon weil sie nicht die neuen politischen Einstellungen übernahm, von Begeisterung ganz zu schweigen.“((Ley 1957a, S. 223.))

1938 plante Ludwig Beck, Generalstabschef des Heeres und Hauptperson des Widerstandes, einen Umsturzversuch, als er Hitler nicht von dem Wahnsinn abbringen konnte, in die Tschechoslowakei einzumarschieren. Beck war davon ausgegangen, dass die europäischen Nationen eher den Krieg erklären würden, als Hitlers weitere Aggressionen hinzunehmen. Es gab zahlreiche Bemühungen seitens des Widerstandes, über den Vatikan und über andere Kanäle mit den Briten und Amerikanern in Kontakt zu treten. Doch die Briten lehnten jede Zusammenarbeit mit der Opposition strikt ab. Und 1941 hatte Churchill sogar ausdrücklich angeordnet, sämtlichen Friedensvorstößen des deutschen Widerstandes mit „absolutem Stillschweigen“ zu begegnen.

Der britische Premierminister Chamberlain stärkte Hitler den Rücken, als er 1938 in München den Einmarsch deutscher Truppen in die Tschechoslowakei hinnahm und dies auch noch als Friedenspolitik darstellte. Diejenigen im Generalstab, die wie Beck vor der Besetzung der Tschechoslowakei gewarnt hatten, weil sie einen Krieg auslösen würde, erschienen nun als überängstliche „Miesmacher“. Unter diesen Umständen hätte ein Militärputsch unmöglich erfolgreich sein können. General Beck reichte als Protest gegen die Besetzung der Tschechoslowakei seinen Rücktritt ein.

General Erich Fellgiebel, Leiter des Informationsamtes des Heeres, gratuliert Mitgliedern des Peenemünder Teams zum ersten erfolgreichen Start einer A-4 am 3. Oktober 1942. Links General Leo Zanssen, der Kommandeur von Peenemünde, neben ihm General Dornberger, dahinter Wernher von Braun. Dr. Rudolf Hermann im hellen Anzug, lächelnd, hinter ihm Dr. Gerhard Reisig. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits alle höheren Militärs, die das Raketenprogramm unterstützt hatten, abgelöst worden. Bild: Deutsches Museum, München
General Erich Fellgiebel, Leiter des Informationsamtes des Heeres, gratuliert Mitgliedern des Peenemünder Teams zum ersten erfolgreichen Start einer A-4 am 3. Oktober 1942. Links General Leo Zanssen, der Kommandeur von Peenemünde, neben ihm General Dornberger, dahinter Wernher von Braun. Dr. Rudolf Hermann im hellen Anzug, lächelnd, hinter ihm Dr. Gerhard Reisig. Zu diesem Zeitpunkt waren bereits alle höheren Militärs, die das Raketenprogramm unterstützt hatten, abgelöst worden. Bild: Deutsches Museum, München

Der deutsche Überfall auf Polen am 1. September 1939 löste dann den Zweiten Weltkrieg aus. Die deutsche Rüstungsindustrie konzentrierte sich auf die Produktion von Waffen für einen „Blitzkrieg“. Heeresoberbefehlshaber Walther von Brauchitsch räumte jedoch der Heeresversuchsanlage in Peenemünde höchste Dringlichkeit ein und beschleunigte die Bauzeit für die Werkstätten, Labors und Wohnungen. Er sah voraus, dass es sich nicht um einen „kurzen Krieg“ handeln würde.

In den drei Jahren von 1939 bis 1942 wechselten die Dringlichkeitsstufen des Raketenprogramms manchmal über Nacht, da verschiedene Machtgruppen die Kontrolle über die Kriegsstrategie an sich reißen wollten. Nur zwei Monate, nachdem die Bauarbeiten in Peenemünde beschleunigt worden waren, wurden plötzlich die Baustahlzuteilungen zugunsten der Rüstungsindustrie gekürzt. Das Raketenprogramm galt nicht mehr als vordringlich.

„Hitler hatte nach dem Blitzsieg gegen Polen das Interesse an Raketen verloren, auch die hohen Kosten der Versuchsstation Peenemünde waren ihm plötzlich ein Dorn im Auge geworden. Obwohl der Oberbefehlshaber des Heeres, Generalfeldmarschall von Brauchitsch, im September 1939 Peenemünde in die höchste Dringlichkeitsstufe des Heeres eingereiht hatte, strich Hitler am 23. November 1939 die Hälfte der Materialzuteilung für die Station. ,Ich werde in diesem Krieg keine Raketen gebrauchen, außerdem kennen Sie meine Skepsis diesen Experimenten gegenüber‘, waren seine Worte, und an General Becker begann er schärfste Kritik zu üben.“((Astronautik 1976, S. 80.))

Hitler misstraute der Wehrmacht von Anfang an. Schon 1940 beschloss er, eine eigene Waffenproduktion aufzubauen, die teils neben, teils in Konkurrenz zu der Wehrmacht stand. Nach einer Auseinandersetzung mit Hitler über die Tatsache, dass der Armee die Kontrolle über die Kriegführung mehr und mehr entzogen wurde, beging General Emil Becker, der die Heeresversuchsanstalt in Peenemünde gefördert hatte, im Frühjahr 1940 Selbstmord.

Ende 1941 verlor das Peenemünder Raketenteam eine weitere Stütze im Heeresoberkommando. Generalfeldmarschall von Brauchitsch wurde wegen Meinungsverschiedenheiten mit Hitler über den Russlandfeldzug seines Postens enthoben. Als 1940 „unsere besten Kräfte zur Wehrmacht eingezogen wurden und wir vor der Frage der Stillegung unserer Arbeiten standen, hatte er [von Brauchitsch] ohne Wissen Hitlers, aufgrund meines Vorschlags, die Genehmigung erteilt, aus seinen Fronttruppen 4000 Soldaten mit technischer Vorbildung, Ingenieure und Arbeiter, auszusuchen und als Arbeitskräfte in Peenemünde einzusetzen“, berichtet Dornberger.((Dornberger 1952, S. 79.)) Im gleichen Jahr verlor Deutschland die Schlacht um England. Die Luftwaffe war an ihre Grenzen gelangt. Dadurch gewann Peenemünde vorübergehend die höchste Dringlichkeitstufe zurück.

Daraus ergaben sich für die wissenschaftliche Forschung neue Möglichkeiten. „Werkstoffe, insbesondere Stahl, waren (in Peenemünde) wieder verfügbar – ein Faktor von entscheidender Bedeutung für die Forschungs- und Entwicklungsarbeiten… Als er [von Braun] das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik in Heidelberg besuchte, zeigte ihm der Direktor des Instituts, Professor Walther Bothe, einige Bauteile eines Zyklotrons, des ersten Gerätes dieser Art in Deutschland. Der Bau des Zyklotrons war zum Stillstand gekommen, weil es Bothe nicht gelang, die Genehmigung zum Kauf des benötigten Stahls zu erwirken. Von Braun schickte schnell ein paar Tonnen der Stahlzuteilung für Peenemünde nach Heidelberg, und der Bau des Zyklotrons an Bothes Institut konnte fortgesetzt werden.“((Stuhlinger und Ordway 1992, S. 81.))

Als die A-4 im März 1942 für den Flugtest fast fertig war, verdrängten die Vorbereitungen für den Einmarsch in die Sowjetunion sämtliche anderen Projekte, und das Raketenprogramm verlor einmal mehr seinen höchsten Dringlichkeitsstatus. Nach zehn Jahren Entwicklung fand dennoch am 3. Oktober 1942 der erste erfolgreiche Flugtest der A-4 statt. Aber – wie Dornberger vorausgesagt hatte – der Erfolg sollte die Lage nur noch verschlimmern.

„Unsere Forderungen gingen weit über das hinaus, was uns die militärischen Vorgesetzten im Bereich des Heimatheeres gewähren konnten. Sie griffen über in den Arbeitsbereich des Munitionsministeriums und verlangten den Entscheid Adolf Hitlers.“((Dornberger 1952, S. 79.)) Dornberger beschloss daher, sich an Munitionsminister Albert Speer zu wenden, um die benötigte Unterstützung für die Versuchsarbeiten an der A-4 zu erhalten. Früher hatte die Rüstungsindustrie dem Heereswaffenamt unterstanden. Das Munitionsministerium war diesem nun gleichrangig zur Seite gestellt worden, um das Militär zu kontrollieren.

Am 8. Januar 1943 trafen sich Dornberger und von Braun mit Speer. Sie erhielten die schlichte Auskunft: „,Der Führer kann sich noch nicht entschließen‘, eröffnete er [Speer] mir, ,dem Vorhaben eine höhere Dringlichkeitsstufe zu geben. Es fehlt ihm der Glaube an das Gelingen Ihres Plans.‘“((Dornberger 1952, S. 83.)) Im Anschluss an die Unterredung wandte sich Speer noch einmal wegen des Raketenprogramms an Hitler. Er ließ daraufhin Dornberger wissen: „Der Führer hat geträumt, dass keine A-4 jemals England erreichen könne.“((Dornberger 1952, S. 100.))

Speer betraute nun seinerseits Direktor Gerhard Degenkolb mit der Materialbeschaffung für die Herstellung der A-4 in Peenemünde. Degenkolb war Leiter des „Sonderausschusses Lokomotiven“ und für sein rücksichtsloses Vorgehen bekannt. „Unvermittelt besann ich mich“ schreibt Dornberger, „den Namen Degenkolb im Zusammenhang mit dem Freitod des von mir hoch verehrten Generals der Artillerie Professor Dr. Dr. Becker im Frühjahr 1940 erstmalig gehört zu haben“. In einer Rede kurz vor Beckers Tod hätte Degenkolb „seinen tiefen Hass gegenüber dem Heereswaffenamt und seinen Offizieren“ zum Ausdruck gebracht.((Dornberger 1952, S. 87.))

Degenkolb stellte einen völlig unrealistischen Plan auf, um die industrielle Produktion von A-4-Raketen bis Oktober 1943 auf monatlich 300 zu steigern. Im Dezember sollten bereits 900 monatlich montiert werden. Speers Entscheidung, die Raketenproduktion der „Industrie“ zu überantworten, war der erste konkrete Versuch, der Wehrmacht das Projekt Peenemünde aus der Hand zu nehmen. Unter den Wissenschaftlern verursachte die Entscheidung einen Aufruhr, denn ihnen war klar, dass der Zeitplan außerhalb jeder Realität lag.

Später schrieb Speer über den Plan, monatlich 900 V-2 produzieren zu wollen: „Es war absurd, den feindlichen Bomberflotten des Jahres 1944, die im Durchschnitt mehrerer Monate mit 4100 viermotorigen Flugzeugen dreitausend Tonnen Bomben pro Tag auf Deutschland abwarfen, eine Vergeltung entgegensetzen zu wollen, die täglich vierundzwanzig Tonnen Sprengstoff nach England befördert hätte… Es dürfte wohl einer meiner schwerwiegendsten Fehler in der Leitung der deutschen Rüstung gewesen sein, diese Entscheidung Hitlers nicht nur hingenommen, sondern sie auch befürwortet zu haben.“((Speer 1969, S. 375.))

Um den unrealistischen Produktionsplan zu erfüllen, erbot sich Reichsführer der SS Heinrich Himmler, Fremdarbeiter unter SS-Aufsicht einzusetzen. Hitler verwarf diesen Vorschlag zunächst aus Sorge vor Sabotage. Dornberger sollte die Serienfertigung der Rakete vorbereiten und ohne zusätzliche Arbeitskräfte einleiten. Sogar weitere deutsche Arbeitskräfte wurden ihm verweigert, weil das Projekt nach wie vor keine höchste Priorität hatte.

Am 7. Juli 1943 beschloss Hitler schließlich, Peenemünde die höchste Dringlichkeitsstufe im deutschen Rüstungsprogramm zu geben. An diesem Tag wurden Dornberger, von Braun und Ernst Steinhoff ins Führerhauptquartier bestellt, da Hitler nicht nach Peenemünde kommen wollte. „Ich konnte mir das nicht anders erklären als mit seiner Angst vor den eigenen Soldaten“, schrieb Dornberger später.((Dornberger 1952, S. 109.))

Hitler wurden Raketenmodelle und ein Film über den Abschuss einer A-4 vorgeführt. „Aber ich will vernichtende –, ich will vernichtende Wirkung!“, tobte Hitler in seiner üblichen Manie. Dornberger antwortete daraufhin: „… hindern Sie bitte die jetzt schon einsetzende Propaganda, die von kriegsentscheidender, alles vernichtender Wirkung dieser ,Wunderwaffen‘ spricht. Die Bevölkerung würde nur enttäuscht sein. Wir haben versucht, mit neuen Mitteln eine unwahrscheinliche Steigerung der Schussweite der Fernkampfartillerie zu erreichen.“((Dornberger 1952, S. 114.))

Dornberger versuchte laut eigener Aussage in dieser Unterredung wiederholt, Hitler von seinen „Wunderwaffen“-Phantasien abzubringen: „,Als wir die Entwicklung begannen, haben wir nicht an eine alles zerstörende Wirkung gedacht. Wir…‘ Wütend drehte sich Hitler zu mir um und brüllte: ,Sie! Freilich, Sie haben das nicht beabsichtigt, aber ich!‘“((Dornberger 1952, S. 115.)) Kurz danach wurde die A-4 in V-2 für „Vergeltung“ umbenannt (Abbildung 5.1).

Nun beschloss das Munitionsministerium auf Hitlers Weisung, monatlich 2000 V-2-Raketen herzustellen. Um den wahnsinnig überzogenen Zeitplan einzuhalten, wurde in Nordhausen am Harz das sogenannte Mittelwerk angelegt. Es bestand aus einem umfangreichen Tunnelgeflecht, welches in einen Berg hineingetrieben wurde.((Dornberger 1952, S. 110.))

Himmler mischt sich ein

Als im März 1943 Munitionsminister Albert Speer seine phantastischen Pläne zur A-4-Produktion in die Tat umzusetzen begann, tauchte im April plötzlich Heinrich Himmler in Begleitung der Armeegeneräle Emil Leeb und Friedrich Fromm, den Nachfolgern Beckers und von Brauchitschs, in Peenemünde auf. Himmler wollte die Raketenforschung kennenlernen, da sie so sehr ins „Rampenlicht“ gerückt sei.

Abbildung 5.1: Aufriss einer A-4. Der Instrumententeil unter dem Sprengkopf enthält den automatischen Steuerapparat, der jedoch noch nicht so weit entwickelt war, um die A-4 genau ins Ziel steuern zu können. Sie diente somit während des Krieges nur als Terrorwaffe und hatte keine kriegsentscheidende Bedeutung mehr.
Abbildung 5.1: Aufriss einer A-4. Der Instrumententeil unter dem Sprengkopf enthält den automatischen Steuerapparat, der jedoch noch nicht so weit entwickelt war, um die A-4 genau ins Ziel steuern zu können. Sie diente somit während des Krieges nur als Terrorwaffe und hatte keine kriegsentscheidende Bedeutung mehr.

Der SS-Reichsführer zeigte sich von dem A-4-Programm überaus beeindruckt und kündigte für Dornberger und die übrigen Militärs völlig überraschend an: „Ich übernehme Ihren Schutz gegen Sabotage und Verrat.“ Dornberger wurde bei dem Gedanken, die SS könnte die Kontrolle über Peenemünde bekommen, ganz blass. Er wandte sich an seine Vorgesetzten, und die Generäle Fromm und Leeb warfen ein, Peenemünde sei eine Heeresdienststelle und alle Abwehrfragen seien Sache des Heeres.((Dornberger 1952, S. 197.))

Auch wenn Himmler hier noch nachgeben musste, behielt er Peenemünde im Auge. Schon kurz nach Himmlers Besuch erfuhr Dornberger von weiterem Unheil; er schreibt darüber: „Eine Woche später brachte einer meiner Gruppenleiter aus Brunn die Nachricht mit, dass dort im Kreise von SS-Offizieren offen davon gesprochen werde, ich sei der Hemmklotz für die Entwicklung der Raketen in Deutschland… Der Hauptrufer im Streit sei der Hauptsturmführer Engel gewesen, der früher einmal kurze Zeit auf dem Raketenfiugplatz in Berlin tätig gewesen war und jetzt eine Raketenforschungsstätte der SS in Großendorf bei Danzig leitete.“((Dornberger 1952, S. 197.))

Dornberger ging sogleich zum Gegenangriff über und lud Engel und dessen Chef zu einem Besuch nach Peenemünde ein, um beide dieser Gerüchte wegen zur Rede zu stellen. Im Laufe der Unterredung gab Dornberger ihnen „einen Überblick über die Arbeiten meiner Abteilung auf dem Raketengebiet seit 1930. Erstaunt hörten die Herren zu, entschuldigten sich und betonten, sie hätten vom größten Teil des ihnen Mitgeteilten keine Ahnung gehabt.“((Dornberger 1952, S. 198.))

Himmler gab aber die Idee nicht auf, Peenemünde der Kontrolle der SS zu unterstellen. Schon am 28. Juni besuchte er die Anlage wieder, dieses Mal allein, ohne Militärbegleitung. Er blieb zwei Tage. Bei einer Vorführung geriet eine V-2 außer Kontrolle und zerschellte nur 100 Meter von der Landebahn des Luftwaffenflugplatzes und zerstörte drei dort abgestellte Flugzeuge. Darauf soll Himmler mit der spitzen Bemerkung reagiert haben: „Nun kann ich nach Berlin zurückkehren und guten Gewissens die Herstellung von Nahkampfwaffen anordnen!“((Irving 1965, S. 73.)) Doch Himmler behielt das Projekt weiter im Auge.

Eine jähe Wende zum Schlechteren brachte der 17. August 1943, als der britische Luftmarschall Arthur „Bomber“ Harris die Royal Air Force mit mehr als 600 Bombern nach Peenemünde losschickte, um „die Wissenschaftler zu töten“. Rund 1500 Tonnen Sprengstoff und Brandbomben wurden über der Raketenanlage und den umliegenden Wohnsiedlungen abgeworfen. 735 Menschen, überwiegend Frauen und Kinder, fanden bei dem Angriff den Tod, unter ihnen der Chef der Abteilung für Triebwerke Dr. Thiel und seine Familie. Die Mehrzahl der Opfer waren ausländische Zwangsarbeiter.((Emme 1964, S. 40.))

Bei dem britischen Luftangriff wurden 60 von 100 Gebäuden in Peenemünde getroffen. Die meisten waren jedoch nur relativ gering beschädigt. Arbeiter räumen hier Trümmer in der Montagehalle weg. Im Hintergrund an der Wand stehen einige montierte A-4-Raketen. Bild: Deutsches Museum, München
Bei dem britischen Luftangriff wurden 60 von 100 Gebäuden in Peenemünde getroffen. Die meisten waren jedoch nur relativ gering beschädigt. Arbeiter räumen hier Trümmer in der Montagehalle weg. Im Hintergrund an der Wand stehen einige montierte A-4-Raketen. Bild: Deutsches Museum, München

Britische Autoren wie David Collier, der sein Buch „Die Schlacht der V-Waffen“ Luftmarschall Roderic Hill, dem Organisator der britischen Abwehr gegen die V-1, widmete, erläutern die Motive des Angriffs. Collier schreibt: „Die V-2 war beim Entwicklungsstand von 1944 so zielungenau, dass sie ein Ziel so groß wie Norwich selbst bei dreiundvierzig Schüssen nicht traf, selbst wenn sie von Elite-Einheiten abgefeuert wurde.“ Daher konnte sie nur eingesetzt werden, so Collier weiter, „als Hitler ,Terrorangriffe‘ zur Vergeltung für die britischen ,Flächenangriffe‘ auf Berlin, Essen, München, Hamburg und Köln befahl“.((Collier 1965, S. 140–141.))

War der Luftangriff auf Peenemünde im August 1943 den Verlust von 40 britischen Flugzeugen wert?, fragt er weiter. „Der Angriff war eine beeindruckende Demonstration übertriebenen Bombenabwurfs, denn viele der Getöteten waren ausländische Zwangsarbeiter, deren Tod den Alliierten keinen Nutzen brachte und sogar von den Organisatoren des Luftangriffs bereut wurde.“((Collier, S. 143.))

Der Schwiegersohn von Premierminister Churchill, Duncan Sandys, der vom Kriegskabinett mit den Untersuchungen über das deutsche Raketenprogramm beauftragt worden war, hatte Sir Arthur „Bomber“ Harris angehalten, vor allem die Unterkünfte der Peenemünder Wissenschaftler zu bombardieren. Aber wegen eines Radarfehlers gingen die meisten Bomben drei Kilometer südlich auf den Wohnkomplex der Fremdarbeiter in Trassenheide nieder.

26 Jahre später, am 21. Juli 1969, einen Tag nach der ersten amerikanischen Mondlandung, schickte der Parlamentsabgeordnete Duncan Sandys ein Telegramm an Wernher von Braun. Darin schreibt er: „Beste Glückwünsche für Ihren großartigen Beitrag zu dieser historischen Leistung. Ich bin dankbar, dass Ihre glänzende Karriere nicht bei dem Bombenangriff auf Peenemünde vor 26 Jahren abgekürzt wurde.“((Washington Post 1969.))

Etwa 60 von den rund 100 Gebäuden in Peenemünde waren beschädigt worden, die meisten jedoch nur leicht. Die empfindliche Anlage zur Herstellung flüssigen Sauerstoffs und das zentrale Kraftwerk blieben erhalten. Jedoch musste die Arbeit in Peenemünde für ungefähr sechs Wochen unterbrochen werden.

Der größte Schaden, den der Luftangriff anrichtete, lag ganz woanders. Er betraf nicht die Anlagen, Gebäude und auch nicht die Wissenschaftler, sondern die Tatsache, dass die Bombardierung zum Anlass genommen wurde, die Raketenherstellung der Wehrmacht zu entziehen und in die Hände der SS zu legen.

Wernher von Braun sagte dazu 1966 in einem Artikel des Paris Match:

„Nachdem wir mit unserer Forschungs- und Entwicklungsarbeit Fortschritte gemacht hatten und mit der neuen V-2 ein paar einigermaßen erfolgreiche Flüge gelungen waren, wurde von Speers Ministerium für Bewaffnung und Munition in Berlin die Entscheidung gefällt, die V-2 in Serie herzustellen. Nach dem ursprünglichen Plan des Ministeriums sollten Fertigungsstraßen an drei oder vier verschiedenen Orten in Deutschland und Österreich in Betrieb genommen werden – sämtliche in bestehenden überirdischen Fabriken. (Die Tausenden von Bauteilen, aus denen die Rakete zusammengesetzt werden sollte, wurden bei zahlreichen Fabriken in ganz Deutschland in Auftrag gegeben.) Noch während die Fabriken für die Montagearbeiten umgerüstet wurden, erlitten alle vier Einrichtungen innerhalb von zwei Wochen schwere Bombenschäden.

Daraufhin gab Hitler selbst den Befehl, die Endmontage der V-2 unter die Erde zu verlegen. Die Installationen, Vorrichtungen und Werkzeuge in den drei oder vier Fabriken wurden zu einem unterirdischen Öldepot in der Nähe von Nordhausen, südlich des Harzes, transportiert… SS-General Kammler wurde von Hitler und Himmler angewiesen, so viele gelernte und ungelernte Zwangsarbeiter zu beschaffen wie nötig, um die vom Ministerium gesetzten Produktionsziele zu erfüllen… Die Gefangenen wurden aus verschiedenen Konzentrationslagern ausgewählt und nach Dora geschafft, einem von Stacheldraht umgebenen Gefangenenlager in der Nähe einer der Eingänge zu dem ehemaligen unterirdischen Depot.

Als Entwickler der Rakete war es auch unsere Verantwortung, dafür zu sorgen, dass unsere Zeichnungen und Spezifikationen von den Hunderten von Firmen, die an der Serienproduktion beteiligt waren, eingehalten wurden. Wir hatten Vertreter aus Peenemünde zur Qualitätskontrolle in allen größeren Firmen, die am V-2-Programm beteiligt waren, das Mittelwerk eingeschlossen. Diese Vertreter konnten uns in Peenemünde auf jede Abweichung von den Spezifikationen oder jeden Mangel in der Fertigung oder Verarbeitung, der das exakte Funktionieren der Rakete oder eines ihrer Bauteile beeinträchtigen würde, hinweisen.

Es sollte kaum überraschen, dass der Versuch, die Massenproduktion einer noch nicht ausgereiften Konstruktion, einer grundlegend neuen Waffe wie der V-2-Rakete zu forcieren, eine Unmenge technischer Schwierigkeiten nach sich zog. Während Speers Ministerium die Leitung im Mittelwerk zur raschen Steigerung der Produktionsrate drängte, explodierten noch immer die in Peenemünde gestarteten (und von Militäreinheiten bereits bei Übungen eingesetzten) experimentellen Prototypen der Rakete auf dem Abschussgelände. Entweder sie versagten mitten im Flug oder sie kamen wegen eines fehlerhaften Lenk- und Steuersystems von der Flugbahn ab. Diese Situation zwang mich zu zahlreichen Reisen zu den Fertigungsanlagen überall in Deutschland, die das Mittelwerk mit mangelhaften Bauteilen für die Montage belieferten, sowie zu einigen Besuchen im Mittelwerk selbst.“((Stuhlinger und Ordway 1992, S. 114–115.))

Einen Monat nach dem Luftangriff auf Peenemünde ernannte Himmler SS-Obergruppenführer Hans Kammler zum Leiter des zum Munitionsministerium gehörenden Mittelwerks mit seinen unterirdischen Fabrikanlagen. Allerdings gingen alle seine Berichte direkt an Himmler und nicht an Speer. Kammler war in SS-Kreisen durchaus kein Unbekannter. Als er die Verantwortung für die Raketenproduktion übernahm, „hatte er durch seine Beteiligung an Planung und Bau der Verbrennungsanlagen in Auschwitz und der Zerstörung des Warschauer Ghettos im vorangegangenen Sommer schon einen Namen in der Nazi-Hierarchie“.((Kennedy 1983, S. 24.))

Kammler ließ die Arbeitssklaven in einem Zeltlager mit dem Tarnnamen „Dora“ unterbringen, das dem berüchtigten KZ Buchenwald angegliedert war. Die „Löhne“ wurden der SS ausbezahlt, der das Lager unterstellt war.((Kennedy 1983, S. 23.)) Die meisten unterirdischen Grabungsarbeiten wurden mit der Hand ausgeführt. Tausende von Gefangenen fanden dabei den Tod.

Am 10. Dezember 1943 besuchte Albert Speer mit Mitgliedern seines Stabes das Mittelwerk. Seine Beschreibung der dortigen Zustände spricht für sich: „Die Verhältnisse für diese Häftlinge waren in der Tat barbarisch… die sanitären Bedingungen waren ungenügend, Krankheiten weit verbreitet, die Gefangenen hausten an ihren Arbeitsstätten in feuchten Höhlen und daher war die Sterblichkeit unter den Häftlingen außerordentlich hoch.“((Speer 1969, S. 380.))

Speer berichtet von einem aufschlussreichen Vorfall im Sommer 1944: „Ich erinnere mich an einen Rundgang durch die Linzer Stahlwerke, wo die Häftlinge sich frei zwischen den übrigen Arbeitskräften bewegten. In den hohen Werkshallen standen sie an den Maschinen, dienten als Hilfskräfte für die gelernten Arbeiter, die sich ungezwungen mit ihnen unterhielten. Nicht SS, sondern Soldaten des Heeres bewachten sie… Im Gegensatz zu den dahinsiechenden Menschen in den Höhlen des Mittelwerks waren sie gut genährt.“((Speer 1969, S. 384.))

Wernher von Braun, der selbst im Mittelwerk war, berichtete über die Zustände, welche die SS dort geschaffen hatte. Obwohl jeder Mittelwerkbesucher striktes Stillschweigen geloben musste, teilte er seine Erfahrungen mit einigen seiner engsten Mitarbeiter und Freunde.

„Es war teuflisch… Meine erste Reaktion war, mit einem der SS-Posten zu sprechen. Der aber sagte mir mit unmissverständlicher Schroffheit, ich solle mich um meine eigenen Angelegenheiten kümmern, oder ich würde mich selbst in einem dieser gestreiften Arbeitsanzüge wiederfinden! Ich hätte nie geglaubt, dass Menschen so tief sinken können. Aber ich erkannte, dass jeder Versuch, mit Argumenten der Menschlichkeit zu überzeugen, völlig sinnlos wäre… Diese Individuen haben sich von den grundlegendsten Prinzipien der menschlichen Moral so weit entfernt, dass dieser Schauplatz unerMesslichen Leidens sie völlig ungerührt lässt.

Also nahm ich ein Werkstück, ging zu einem der höheren SS-Offiziere und erklärte ihm, dass wir eine so schlechte Verarbeitung einfach nicht akzeptieren können. ,Wie können Sie eine bessere Arbeitsqualität erwarten‘, sagte ich, ,wenn Sie nicht dafür sorgen, dass Ihre Arbeiter wenigstens halbwegs gesund bleiben? Unsere Fähigkeit, brauchbare A-4-Raketen herzustellen, hängt ganz von der Arbeit dieser Leute ab. Wenn Sie nicht bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen erhalten, werden wir nie eine höhere Arbeitsqualität erreichen als jetzt… Die Ingenieure und Wissenschaftler, welche die Häftlinge ausbilden, können nicht mehr tun, als sie jetzt schon leisten. Es liegt an Ihnen, die physischen und geistigen Fähigkeiten der Arbeiter zu verbessern!… Wenn Sie keine besseren Produkte liefern können, ist Ihr ganzes Projekt hier ein Fehlschlag! Schaffen Sie bessere Bedingungen für Ihre Arbeiter, und sie werden bessere Arbeit leisten!“((Stuhlinger und Ordway 1992, S. 104–105))

Nach dem britischen Luftangriff auf Peenemünde konnte Heinrich Himmler schließlich die Kontrolle über Teile des Raketenprogramms an sich reißen. Die Produktion der V-2 wurde in einen unterirdischen Betrieb, das sogenannte Mittelwerk am Harz, ausgelagert. Zwangsarbeiter mussten dort unter Aufsicht der SS unter schlimmsten Bedingungen arbeiten. Tausende fanden dabei den Tod. Das Bild zeigt einen der unterirdischen Tunnel im Mittelwerk. Bild: Deutsches Museum, München
Nach dem britischen Luftangriff auf Peenemünde konnte Heinrich Himmler schließlich die Kontrolle über Teile des Raketenprogramms an sich reißen. Die Produktion der V-2 wurde in einen unterirdischen Betrieb, das sogenannte Mittelwerk am Harz, ausgelagert. Zwangsarbeiter mussten dort unter Aufsicht der SS unter schlimmsten Bedingungen arbeiten. Tausende fanden dabei den Tod. Das Bild zeigt einen der unterirdischen Tunnel im Mittelwerk. Bild: Deutsches Museum, München

Einige Wochen nach dem Luftangriff im August wurde Arthur Rudolph von Peenemünde ins Mittelwerk geschickt, um die Herstellung der V-2 zu überwachen. „Ich hatte das übermächtige, schreckliche Gefühl, dass ich wie ein Tier im Käfig saß und in den Klauen des SS-Systems gefangen war“, erinnert er sich.((Franklin 1987, S. 76.))

Später beschrieb Rudolph die Zustände im Mittelwerk folgendermaßen:

„Als ich zum ersten Mal sah, was dort vor sich ging, war ich völlig schockiert. Ich versuchte sofort, mit einem SS-Aufseher zu sprechen, aber der fiel mir gleich ins Wort: ,Das geht Sie nichts an. Seien Sie still, oder Sie werden die gleiche Uniform tragen!‘ Etwas später versuchte ich es noch einmal bei einem höherrangigen SS-Posten. ,Schauen Sie das einmal an‘, sagte ich und zeigte auf einige Werkstücke, ,diese Arbeit ist nicht gut genug. Diese Stücke entsprechen nicht annähernd unseren Toleranzen. Das ist sicher nicht böser Wille oder Sabotage, sondern einfach nur Übermüdung und Schwäche. Wenn wir nicht dafür sorgen, dass die Arbeiter physisch leistungsfähig bleiben, erhalten wir keine akzeptablen Produkte und können unsere Produktionsquoten nicht einhalten!‘

Der Erfolg war bescheiden. Die Bedingungen für die Häftlinge, die unter meiner Leitung an der A-4 arbeiteten, verbesserten sich geringfügig. Ich weiß aber nicht, ob es auch in anderen Fertigungsbereichen, insbesondere bei den unglücklichen Häftlingen, die in den Sprengbereichen arbeiten mussten, Verbesserungen gegeben hat.“((Stuhlinger und Ordway 1992, S. 104.))

Die Versuche Rudolphs und anderer Spezialisten aus Peenemünde, die Bedingungen für die Zwangsarbeiter zu verbessern, werden durch kürzliche Aussagen früherer Dora-Insassen hinreichend bezeugt. In den Medien wurden jedoch immer wieder die Tausenden Zwangsarbeiter, die beim Anlegen der Mittelwerk-Tunnel unter der Knute der SS ums Leben kamen, und jenen in den unterirdischen Produktionsanlagen, die Arthur Rudolph und andere Ingenieure beaufsichtigten, in einen Topf geworfen.

Andere neuere Autoren zogen die Aussagen Arthur Rudolphs in Zweifel, er habe genauso wenig zu essen gehabt wie die Häftlinge. Frau Rudolph erwähnte einmal gegenüber der Verfasserin, ihr Mann habe in der Zeit, als er im Mittelwerk unter Tage arbeiten musste, 30 Kilogramm Körpergewicht abgenommen, so dass sie damals fürchtete, er werde sterben, wenn er weiter in den Tunneln arbeiten müsse.

US-Leutnant Milton Hochmuth hat wahrscheinlich einen „objektiveren“ Bericht über die Situation abgegeben als die meisten heutigen Autoren, die es mit der historischen Wahrheit nicht so ernst nehmen. „Ich war [1945] der erste Nachrichtenoffizier, der zum Mittelwerk kam“, schrieb er vierzig Jahre später an US-Senator Sam Nunn.

„Ich verhörte den V-2-Montageleiter, einen Mann namens Sawatzki… [Arthur] Rudolph war der zuständige Ingenieur, und zwar nur für die V-2… Ich war überrascht, zahlreiche offensichtlich wohlgenährte, gesunde Häftlinge [Zwangsarbeiter] zu sehen und nahm mir sogar die Zeit, mit einem etwas länger zu sprechen… Am nächsten Tag begab ich mich in ein kleines Dorf, wo in einer großen Munitionsfabrik die Geschossköpfe der V-2 mit Sprengstoff bestückt wurden. Auch dort arbeiteten Zwangsarbeiter. Ich war als erster Amerikaner in dem Dorf, noch bevor Truppen einer der beiden Seiten eingerückt waren.

Auch diese Leute wirkten recht gesund, jedenfalls waren sie kräftig genug, um mit Plünderungen zu beginnen, und stark genug, Nähmaschinen und dergleichen wegzutragen, die sie sich angeeignet hatten. Das bestätigt die Tatsache, dass man keine grausamen Methoden anwendet, um Arbeiten ausführen zu lassen, die Sorgfalt und Präzision verlangen.“

Hochmuth äusserte sich auch zu den Anwürfen, die das US-Justizministerium gegen Arthur Rudolph im Zusammenhang mit dessen Tätigkeit im Mittelwerk vorbrachte: „Die Russen haben sich nie damit abgefunden, dass von Brauns Gruppe zu den Amerikanern überwechselte und ihre großzügigen Angebote ausgeschlug. Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass sich die Russen ins Fäustchen lachen, wenn ein Mitglied des ,Paperclip‘-Exodus durch Ausstreuung falscher Informationen, die nicht erhärtet, aber auch nicht so leicht widerlegt werden können, in Schwierigkeiten kommt.“

Himmler gab sich nicht damit zufrieden, die Serienfertigung der V-2 unter SS-Aufsicht gestellt zu haben. Er wollte dem Heer die Kontrolle über sämtliche Raketenarbeiten entziehen, vor allem die wichtige Forschungsarbeit in Peenemünde. Dazu musste er General Dornberger ausschalten. Am 21. Februar 1944 wurde Wernher von Braun zu einer persönlichen Unterredung mit Himmler bestellt, wobei der SS-Chef ihm großzügige Unterstützung anbot, wenn er sich von der Wehrmacht trennte und für die SS arbeitete.

Von Braun antwortete ihm: „Herr Reichsführer, ich kann mir keinen besseren Chef denken als General Dornberger… Die V-2 ist wie eine kleine Blume. Wenn eine Blume gedeihen soll, braucht sie Sonnenschein, eine gut ausgewogene Menge Dünger und einen behutsamen Gärtner. Ich fürchte, was Sie vorhaben, ist ein dicker Strahl flüssigen Kunstdüngers. Und der, verstehen Sie, könnte unsere kleine Blume töten.“((Von Braun 1956, S. 143.))

In einem Schreiben an den Schriftsteller David Irving erklärte von Braun in den 1960er Jahren, Himmler hätte „nicht im Traum daran gedacht, mir freie Hand zu lassen. Ich glaubte eher, dass er mich an seinen Schützling Kammler weiterreichen wollte, und der hätte mir bei der nächsten Gelegenheit das Genick gebrochen… Himmler versuchte zuerst, die ,Dornberger/von-Braun-Front‘ aufzubrechen, um zunächst Dornberger loszuwerden und sich dann mit mir gesondert zu beschäftigen.“

Himmler setzte nun seine eigenen „Vergeltungswaffen“ gegen die widerspenstigen Raketenspezialisten ein. Am 5. März entspannten sich von Braun und einige Kollegen in geselliger Runde in Zinnowitz, und die Unterhaltung drehte sich natürlich auch um die Raumfahrt. „Wir arbeiteten mindestens 16 Stunden am Tag“, erinnert sich Gerhard Reisig, „und das sieben oder acht Tage in der Woche. Es gab eine große Party, und glücklicherweise fand sich auch etwas Alkohol, der unsere Zungen etwas löste. ,Wir wollen in den Weltraum fahren, und zur Hölle mit diesem ganzen Militärkram‘ und ähnliche Sachen wurden wohl gesagt. Auf der Party hörte aber eine Gestapo-Agentin (eine Zahnärztin) alles mit, und dann passierte es.“

Zehn Tage später wurden von Braun, Klaus Riedel und Helmut Gröttrup von der Gestapo verhaftet und ins Gefängnis nach Stettin gebracht. Nach zwei Wochen „wurden mir von einem SS-Militärgericht Aussagen zur Last gelegt, die A-4 sei niemals als Kriegswaffe konzipiert worden, ich hätte mit ihrer Entwicklung nur den Raumflug im Sinne gehabt, und ich bedauere den bevorstehenden Kriegseinsatz. Da diese Auffassung in Peenemünde weit verbreitet war, fühlte ich mich relativ sicher, wenn das die einzige Beschuldigung war, die sie mir vorwerfen konnten. Aber sie gingen weiter und behaupteten, ich halte ein Flugzeug startbereit, um mich mit wichtigen Raketenunterlagen nach England abzusetzen.“((Ebenda.)) Nur weil Dornberger drohte, dass es ohne von Braun keine A-4 gäbe, und sich Albert Speer persönlich einschaltete, wurden die Verhafteten wieder freigelassen.

Es gab noch weitere Vergeltungsschläge. Am 4. August 1944 starb der Raketenpionier Klaus Riedel bei einem Autounfall in Peenemünde. Dazu sagte seine Frau Irmgard in einem Gespräch mit Karl Wenzel Günzel, welches in dessen Riedel-Biographie 1988 erschien:

„Karl Günzel: Wollen Sie mir etwas über den Tod Ihres Mannes berichten?

Irmgard Riedel: Warum nicht? Abends war im Kasino eine Besprechung. Einer von uns wurde nach Paris versetzt. Als ich bei Sonnenaufgang aufwachte, war Klaus nicht da. Ich rief im Werk an, aber niemand gab Auskunft. Hans Hüter kam und sagte: „Klaus liegt auf der Station, er ist mit dem Auto im Sperrgebiet gegen einen Baum gefahren – er ist tot.“ Ich war verzweifelt. – Magnus von Braun (Wernhers Bruder) kam, und als ich die näheren Umstände des Unfalls erfuhr, war meine erste Reaktion ein Schrei: „Das ist ja Mord – er ist ermordet worden.“ Magnus von Braun versuchte mich zu beruhigen und sagte: „Du darfst nicht von Mord reden.“ Ich habe dann später stets von einem Unfall geredet, aber nur aus Angst, etwas falsch zu machen. Wir waren als Forscherfamilien jederzeit von Gestapoleuten in Zivil umringt, aber keiner von uns wusste, wer diese Leute in Wirklichkeit waren.

Günzel: Willy Genthe, Verwaltungsdirektor der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, sagt in einer eidesstattlichen Erklärung vom 12.5.1952 aus, dass der rechte Achsschenkel am Wagen angesägt gewesen sei und er selbst diese angesägte Stelle gesehen habe.

Riedel: Ich kannte Herrn Willy Genthe und seine Frau gut, warum sollte dieser ehrenwerte Mann lügen? – Natürlich war im Werk bekannt, dass Klaus ab und zu mal etwas gegen die Nazis und gegen die SS sagte.“

Am 6. Juni 1944 kündigte die Landung der Alliierten in der Normandie die bevorstehende Niederlage Deutschlands an. Hitlers Druck verstärkte sich, die „Vergeltungswaffe“ V-2 einzusetzen. Immer wieder wurden Termine festgelegt und immer wieder mussten sie verschoben werden.

Am 20. Juli 1944 versuchte der Generalstabsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg Adolf Hitler während einer Besprechung in der Wolfsschanze mit einer Bombe zu töten. Die Bombe explodierte zwar, Hitler blieb jedoch am Leben. Anschließend begann eine umfassende Säuberung der Wehrmacht, und alle oppositionellen Elemente wurden ausgeschaltet. Die SS erhielt die fast uneingeschränkte Kontrolle über sämtliche Vorgänge im Dritten Reich.

Da die Alliierten 1943 auf einer „bedingungslosen Kapitulation“ Deutschlands bestanden hatten, blieb dem Widerstand wenig Spielraum, in der Bevölkerung Unterstützung für weitere Schritte gegen Hitler zu finden. Über die Gründe dieser Politik der Alliierten ließ John Wheeler-Bennett vom britischen Foreign Office keinen Zweifel aufkommen. Er schrieb nach der Hinrichtung der Attentatsverschwörer in einem internen Papier:

„Die Sache steht für uns nun besser, als wenn der Anschlag vom 20. Juli gelungen und Hitler ermordet worden wäre… Der derzeitigen Säuberung fallen vermutlich zahlreiche Individuen zum Opfer, die uns… nach der Niederlage Nazideutschlands Schwierigkeiten gemacht hätten…

Die Gestapo und die SS haben uns einen unschätzbaren Dienst erwiesen, indem sie eine Reihe jener entfernt haben, die nach dem Krieg zweifellos als die ,guten Deutschen‘ dagestanden hätten. Daher ist es zu unserem Vorteil, dass die Säuberung anhält, da es uns vielerlei künftige Verlegenheiten erspart, wenn Deutsche das Umbringen von Deutschen erledigen.“((Kanter 1993, S. 56–57.))

Am 8. August 1944, knapp einen Monat nach dem misslungenen Anschlag auf Hitler, wurde der inzwischen beförderte Kammler zum Sonderbevollmächtigten des gesamten A-4-Programms ernannt. „Nach dem 20. Juli kuschten die Heeresdienststellen in der Heimat bis hinauf zum Oberkommando der Wehrmacht vor der SS, vor Himmler. Sie kuschten unwillig, aber sie gaben nach“, berichtete Dornberger.((Dornberger 1952, S. 256.)) Bereits zwei Wochen vor dem Attentatsversuch gegen Hitler hatte Kammler Dornberger als Gefahr für die Öffentlichkeit bezeichnet und gefordert, ihn vor das Kriegsgericht zu stellen, „da er Deutschlands Kriegsanstrengungen durch ein hoffnungsloses Projekt schwächt“.((Irving 1965, S. 238.))

Am 31. August 1944 übernahm Kammler die Kontrolle über sämtliche V-2-Einsätze. „Dornberger sollte weiterhin für die Verbesserung der Waffen verantwortlich sein, aber… er durfte bei der Kampfplanung nichts zu sagen haben.“((Ordway und Sharpe 1979, S. 193.)) Dornberger, von Braun und das ganze Peenemünde-Team wussten, dass die V-2 für die Serienproduktion noch nicht ausgereift war, geschweige denn für den militärischen Einsatz.

Die ersten V-2, die am 6. September 1944 auf Paris abgeschossen werden sollten, kamen nicht hoch. Zwei Tage später schlugen drei Raketen irgendwo auf dem Land ein. Monatelang kam es zu Pannen aller Art. Etwa 10 Prozent der Raketen kamen nicht von der Abschussrampe weg, weitere 20 Prozent explodierten in 2000 oder 3000 Meter Höhe und bis zu 40 Prozent explodierten nach etwa fünf Kilometern in der Luft. Erst später fand man heraus, dass der Fehler in der zu schwachen Struktur der Rakete lag. Wegen ihres unfertigen Entwicklungsstandes meinte Dornberger, die V-2 sei eher „ein fliegendes Laboratorium“ und weniger eine zu fürchtende Kriegswaffe.((Emme 1964, S. 42.))

Die militärische Wirkung der V-2 ist maßlos übertrieben worden. Luftwaffenchef Sir Philip Joubert bezeichnete die V-2-Angriffe nicht als Regen, „sondern nur ein Nieseln von Raketen“.((Joubert 1957, S. 114.)) Nach Jouberts Angaben verloren die britischen und amerikanischen Luftverbände bei ihren Angriffen auf Peenemünde rund 450 Flugzeuge sowie etwa 2900 Piloten und Besatzungsmitglieder, um das V-2-Programm zu stoppen. Weit weniger Engländer – etwa 2700 Zivilisten – verloren ihr Leben durch V-2-Einwirkung (1115 Raketen in sieben Monaten).((Joubert 1957, S. 171.)) Im Vergleich dazu kamen bei Sir Arthur Harris‘ Flächenbombardements in neun Tagen des Juli 1943 allein in Hamburg 40.000 Zivilisten um.((Irving 1965, S. 88.)) Der ehemalige Peenemünder Gerhard Reisig stellte kürzlich fest: „Ich war während des Bombenangriffs in Dresden. Für mich ist es immer noch ein Wunder, dass ich lebe. Ich war in Russland an der Front, und es war dort weit weniger schlimm als das, was ich in Dresden erlebte.“

Obwohl es allgemein heißt, London sei das Hauptziel der V-2 gewesen, ging der Großteil der Raketen auf dem Festland nieder (1675), und 88 Prozent davon hatten das wichtige alliierte Nachschubzentrum Antwerpen zum Ziel.

Von seinem Vater erfuhr von Braun im Oktober 1944 von der bevorstehenden Jalta-Konferenz und der geplanten Aufteilung Deutschlands. Die Raketenwissenschaftler begannen nun, ihre Flucht vor den heranrückenden russischen Truppen und das Überlaufen zu den Amerikaner vorzubereiten. Allgemein herrschte bereits Chaos. „Im Januar 1945“, so erzählte von Braun später, „hatte ich zehn Befehle auf meinem Schreibtisch. Fünf davon stellten mir den Tod durch Erschießen in Aussicht, falls wir abrücken, aus fünfen las ich von meiner Erschießung, falls wir nicht aus Peenemünde fortgingen.“((Ordway und Sharpe 1979, S. 254.)) Für die wenigsten Mitglieder des Peenemünde-Teams gab es irgendeinen Zweifel, was sie nach Kriegsende tun würden. Dornberger war der Auffassung: „Weitaus die meisten unserer Wissenschaftler und anderen Männer waren in der westlichen Kultur und Lebensweise großgeworden. Uns gefiel das. Als Deutsche passten wir nicht zu dem slawischen Bild der Russen. Unsere Entscheidung, nach Westen zu gehen, hatte keine wirtschaftlichen Gründe. Der kulturelle Aspekt war das Ausschlaggebende.“((Thomas 1961a, S. 59.))

Am 17. Februar verließ der erste Zug mit 525 Leuten Peenemünde. Mit am meisten sorgte die Wissenschaftler, was sie mit den über zehn Jahre angesammelten technischen Unterlagen tun sollten. Der Peenemünder Ingenieur Dieter Huzel sagte dazu: „Diese Schatzkammer von Dokumenten enthielt das A und O der ganzen deutschen Raketenentwicklung… Diese Dokumente waren von unschätzbarem Wert. Wer immer sie erbte, konnte beim Raketenbau da weitermachen, wo wir aufgehört hatten, und nicht nur aus unseren positiven Resultaten Vorteil ziehen, sondern auch aus unseren Fehlern – dem eigentlichen Bestandteil von Erfahrungen. Sie stellten Jahre intensiver Anstrengungen in einer brandneuen Technologie dar, von der wir alle überzeugt waren, dass sie eine grundlegende Rolle im künftigen Lauf der Menschheit spielen würde.“((Huzel 1962, S. 151.))

Von Braun hatte den Befehl erhalten, alle geheimen Papiere zu vernichten. Statt ihn auszuführen, beauftragte er Huzel und Bernhard Tessmann, den Peenemünder Chefzeichner, damit, 14 Tonnen wertvolle Dokumente auf Lastwagen zu laden und sie an einer geeigneten Stelle zu vergraben. Später gelangte dieses Material in die USA.

Im Grunde war die A-4 nie eine „Vergeltungswaffe“ gewesen, wie Hitler sie sich in der Endphase des Krieges verzweifelt gewünscht hatte. Und Dornberger wusste genau: Mit der V-2 könnte sich der Kriegsverlauf nicht ändern lassen.

Am Abend des 12. Juni 1942, wenige Stunden vor dem ersten Flugtest der A-4, hatte Dornberger zu seinem Team gesagt: „In der Rakete ist nun die Möglichkeit gegeben, über Erde und Luft hinaus den Weltraum zunächst als Verbindungsweg zwischen den Kontinenten zu benützen. Auf dem Wege zu dem dermaleinst mit unbedingter Sicherheit kommenden Raumschiff ist die Peenemünder Entwicklung ein erster Schritt.“((Klee und Merk 1963, S. 110.))

Als die Raketenwissenschaftler, die Vertreter der Wehrmacht und der Regierung gespannt den Start der ersten A-4 erwarteten, geschah folgendes: „Der Motor zündete mit einem fürchterlichen Dröhnen und die Rakete hob majestätisch ab – aber nur etwa eine Sekunde lang, bis die Brennstoffzufuhr versagte und die Rakete auf ihre Flossen zurücksackte. Die Flossen waren nicht fest genug, dem Aufprall standzuhalten, sie wurden zerdrückt, die A-4 stürzte um und zerbarst in einer gewaltigen Explosion.“((Von Braun 1956, S. 139.))

Am 16. August stand der zweite Versuch an. Der Start gelang. Zwar durchbrach die Rakete „zur großen Erleichterung der Ingenieure ohne Zwischenfall die gefürchtete Schallmauer, denn viele Aerodynamiker hatten vorausgesagt, dass die Rakete durch ,Überschallerscheinungen‘ in Stücke zerrissen würde, doch dann begann sie zu schwanken und zerbrach hoch in der Luft wegen einer Schwäche in der Außenhaut.“((Ebenda.))

Mit verstärkter Außenhaut startete die Rakete am 3.10. zum dritten Test, nach 85 Kilometer Höhe und 190 Kilometer Weite schaltete der Motor programmgemäß nach 63 Sekunden ab. Auf die Rakete hatte der Künstler Gerd de Beek das Maskottchen des Raketenteams aufgemalt – die Frau im Mond.

Damit die Wissenschaftler niemals ihr eigentliches Ziel aus dem Auge verlieren, hatte der Maler Gerd de Beek an einer A-4 die Heldin der Raketenforscher aufgemalt – die Frau im Mond, hier nachgestellt auf dem Gelände des heutigen Museums. Bild: Wikipedia/Raboe001
Damit die Wissenschaftler niemals ihr eigentliches Ziel aus dem Auge verlieren, hatte der Maler Gerd de Beek an einer A-4 die Heldin der Raketenforscher aufgemalt – die Frau im Mond, hier nachgestellt auf dem Gelände des heutigen Museums. Bild: Wikipedia/Raboe001

In einem Fernsehinterview der frühen 80er Jahre schilderte Krafft Ehricke diesen Start so:

„Das waren die ,Wildwest‘-Tage der Raketentechnik und der Raumfahrt. Man musste nicht kilometerweit Abstand halten – man konnte fast neben der Rakete stehen. Und ich stand auf dem Dach eines jener hohen Gebäude, von wo aus ich auf den Abschussbereich hinuntersah… Wir alle jubelten vor Begeisterung (als die Rakete aufstieg). Es ist schwer zu beschreiben, was man empfindet, wenn man an der Schwelle eines neuen Zeitalters steht… wie Kolumbus oder Magellan empfunden haben… Dieses Gefühl hatten viele von uns und in mir war es absolut überwältigend. Ich fiel fast vom Dach, so aufgeregt war ich… Wir wussten, das Raumfahrtzeitalter hatte begonnen.“

Dornberger beschrieb eine Szene nach dem gelungenen Start so: „Professor Oberth, der Schöpfer der modernen Raketentechnik, kam mir entgegen… Als er mir zum Glückwunsch seine Hand reichte, konnte ich ihm nur sagen, dass dieser Tag, der uns den ersten Schritt in den Weltraum tun ließ, auch für ihn ein Tag des Erfolges und der Freude sein müsse und dass vielmehr er für das Geschenk so vieler grundlegender Gedanken, die er nun verwirklicht sähe, zu beglückwünschen sei.“((Dornberger 1952, S. 22.))

An jenem Abend gab Dornberger eine kleine Feier und hielt vor „der kleinen Gemeinde meiner engsten Mitarbeiter“ eine kurze Ansprache: „Wir haben mit unserer Rakete in den Weltraum gegriffen und haben zum ersten Mal… den Weltraum als Brücke zwischen zwei Punkten auf der Erde benützt. Wir haben bewiesen, dass der Raketenantrieb für die Raumfahrt brauchbar ist. Neben Erde, Wasser und Luft wird nun auch der unendliche leere Raum als Schauplatz kommenden, kontinenteverbindenden Verkehrs hinzugefügt werden. Dieser 3. Oktober 1942 ist der erste Tag eines Zeitalters neuer Verkehrstechnik, dem der Raumschiffahrt!“((Dornberger 1952, S. 23.))

Den gesamten Zweiten Weltkrieg erlebte Willy Ley, von Brauns Amateurkollege aus den ersten Tagen des Raketenbaus, nach seiner Flucht aus Nazideutschland Anfang 1936 in New York. Er hatte keinen Zugang zu geheimen Informationen, aber er hatte jahrelange Erfahrungen mit dem Raketenbau. Er kannte die Leute, die sie bauten, und verfügte über ein waches politisches Verständnis der Vorgänge in Nazideutschland. Was anderen über die V-2 unbegreiflich blieb, selbst wenn sie über erstrangige „Nachrichtenquellen“ verfügten, konnte Ley sich aus dem, was er von früher wusste, leicht zusammenreimen.

So schrieb er im Frühjahr 1945:

„Wie Arthur Clarke von der Britischen Interplanetarischen Gesellschaft war auch ich zwischen zwei Gefühlen hin- und hergerissen. Soweit es den Krieg betraf, … hoffte ich sehnlichst, all die deutschen Propagandageschichten als solche abtun zu können. Was aber die Zukunft der Raketenforschung betraf, so wäre eine 20-Tonnen-Rakete mit einer Reichweite von 200 Kilometer und mehr eine ausgesprochene Trumpfkarte. Man möchte auf diese Waffe zeigen und ausrufen: ,Seht her, es ist möglich. Aber ihr habt es nicht geglaubt!‘“

Dass sie keine wirksame Kriegswaffe ist, versteht sich fast von selbst. Eine Waffe, die an ,weit verstreuten Stellen‘ niedergeht, ist lediglich eine Terrorwaffe, aber keine, die einen Krieg entscheiden kann.“

„Sie müssen eine leichte Hochleistungstreibstoffpumpe erfunden haben“, vermutete Ley. „Mit solchen Treibstoffpumpen… kann man sogar ein Raumschiff bauen! In der Tat ist das keine Frage der Zukunft mehr, das erste Raumschiff wurde schon gebaut, wird aber nicht als solches verwendet. Ja, wir können es ruhig zugeben, die V-2 ist das erste Raumschiff.“

Ley war sich außerdem im klaren, in welcher politischen Klemme seine früheren Raketenfreunde steckten. Dabei war er allerdings pessimistischer, als die weitere Entwicklung zeigen sollte. „Es wird wahrscheinlich notwendig werden“, schrieb er, „die V-2 nach dem Krieg neu zu erschaffen… Wir können nicht hoffen, Peenemünde einzunehmen… Die Nazis werden dafür sorgen, dass alles gründlich zerstört ist, bevor wir dort ankommen. Und Himmler hat sicherlich Listen von all denen, die etwas über diese Arbeit wissen. Wenn sie den alliierten Bombenangriffen entgehen, werden sie von der Gestapo erschossen… Aber die Neuschaffung kann nach dem Krieg zuversichtlich angegangen werden, denn Peenemünde hat bewiesen, dass es möglich ist.“((Ley 1945, S. 122.))

Neulich, am 14. September 1991, besuchten zahlreiche Presse- und Fernsehleute zusammen mit über 200 Wissenschaftlern, Ingenieuren, Technikern und anderen früheren Peenemündern die ehemalige Heeresversuchsanstalt an der Ostsee, die nach der deutschen Wiedervereinigung teilweise wieder zugänglich war.

Modell des Prüfstands VII im Raumfahrtmuseum von Peenemünde. Im Hintergrund eine A-4-Rakete. Bild: Wikipedia/Einsamer Schütze
Modell des Prüfstands VII im Raumfahrtmuseum von Peenemünde. Im Hintergrund eine A-4-Rakete. Bild: Wikipedia/Einsamer Schütze

Die Russen waren im Mai 1945 nach Peenemünde vorgestoßen. Sie nahmen mit oder zerstörten, was sie dort vorfanden. Heute steht nur noch das Kraftwerk, das bis 1990 Strom für das Netz der damaligen DDR erzeugte. Die Russen versuchten, auch das Flüssigsauerstoffwerk dem Erdboden gleich zu machen, doch die äussere Struktur blieb bis heute erhalten.

Der mitgereiste Jan Heitmann von der britischen Zeitschrift After the Battle beschreibt Peenemünde „als die Wiege der modernen Raketentechnik“ und war von der Offenheit überrascht, mit der die Wissenschaftler bei dem Wiedersehen 1991 über ihre Arbeit während des Krieges sprachen. Er sei davon überzeugt, dass sie „ihnen durch Vorgänge, auf die sie keinen Einfluss hatten, aufgezwungen wurden.“ Er schloss seinen Beitrag mit der Hoffnung, im Oktober 1992 „werden die Überlebenden des Peenemünder Raketenteams wiederkommen und den 50. Jahrestag ihres größten Triumphes während der Kriegszeit feiern: den ersten erfolgreichen Abschuss einer Rakete, welcher die Tür zum Weltraum aufgestoßen hat.“((Heitmann 1991, S. 25.))

Leider wurde nichts aus der für den 3. Oktober 1992 geplanten Feier der Peenemünde-Veteranen. Sie wurde zu einem internationalen Politikum. Vier Tage vor der geplanten Veranstaltung schrieb The Washington Post „Die deutsche Luft- und Raumfahrtindustrie sowie die Regierung haben sich dem Druck des Auslands gebeugt und die geplante Feier zum 50. Jahrestag des ersten erfolgreichen Starts von Hitlers ,Wunderwaffe‘, der V-2, abgesagt“. Marc Fisher, der Bonner Korrespondent der Zeitung, schreibt weiter: „Die deutsche Entscheidung, den Jahrestag nicht stattfinden zu lassen, steht im krassen Gegensatz zu der britischen Reaktion auf eine ähnliche Kontroverse im vergangenen Mai. England setzte sich damals über deutsche Einwände von Gefühllosigkeit hinweg und errichtete ein Denkmal für Arthur ,Bomber‘ Harris, den Erfinder der Flächenbombardierung, wodurch Dresden dem Erdboden gleichgemacht wurde und 135.000 Menschen umkamen.“

William E. Schmidt, der London-Korrespondent der New York Times, meinte, der britische Unmut über die geplanten Peenemünde-Feierlichkeiten seien Ausdruck einer „antideutschen Kampagne“, die in der britische Presse aus Furcht vor einer deutschen Wirtschaftsübermacht nach der Wiedervereinigung angeheizt werde.

Die Bundesregierung gab dem britischen Druck schließlich nach und sagte die Feierlichkeiten ab. Trotzdem reisten zahlreiche betagte ehemalige Peenemünder aus Deutschland, aus anderen europäischen Ländern und den USA an jenen Ort an der Ostsee, den sie 50 Jahre nicht gesehen hatten, und gedachten dort des Anbruchs des Raumfahrt-Zeitalters.

Krafft Ehricke hatte schon Jahre zuvor zutreffend festgestellt: „Das Peenemünder Erbe ist nicht die Kriegsrakete, sondern der unermessliche Schatz an Grundlagenwissen über die ersten Schritte zum kühnsten Abenteuer des Menschen – den Flug zu anderen Welten.“((Ehricke 1950, S. 87.))

In den Weltraum vorzudringen, war noch immer das Ziel der deutschen Raumfahrtpioniere, als der Krieg zu Ende ging und sie ihre Reise nach Amerika antraten.