Nach Amerika – Operation Paperclip

Es war der 2. Mai 1945, als Wernher von Brauns jüngerer Bruder Magnus mit dem Fahrrad den Kühgund bei Oberjoch im Allgäu hinunterradelte, um die US-Amerikaner zu suchen, die dort in der Nähe sein sollten. In gebrochenem Englisch erklärte er dem Obergefreiten Frederick Schneikert, den er auf dem Weg traf, er wolle „Ike“ sprechen (General Eisenhowers Spitzname). Der Soldat – ein Dolmetscher bei der 44. Infanteriedivision – staunte nicht schlecht, als Magnus ihm eröffnete, er und eine Gruppe Landsleute hätten die V-2 gebaut und wollten sich den Amerikanern ergeben. 1977 erinnerte sich Schneikert: „Es war klar, was sie taten – Verrat, denn Deutschland war immer noch im Krieg!“((Herald Times Reporter 1977, S. 6.))

Magnus hatte die Weisung erhalten, die kleine Gruppe Peenemünder noch am selben Tag nach Schattwald in Österreich zu bringen. Zur Gruppe gehörten außer den Brüdern von Braun noch Generalmajor Walter Dornberger, Bernhard Tessmann, Oberstleutnant Herbert Axster aus Dornbergers Abteilung, Hans Lindenberg und Dieter Huzel. Sie wurden zunächst nach Reutte gebracht, wo sie auf einige weitere Peenemünder stießen, und später nach Garmisch-Partenkirchen, wo zuletzt etwa 500 Männer des Raketenprogramms und einige ihrer Angehörigen interniert und verhört wurden.

Während die Peenemünder hofften, man würde ihnen Verträge anbieten, um in Amerika an ihrem Lebensziel weiterarbeiten zu können, überlegte das amerikanische Militär noch, wie man überhaupt mit diesen Leuten verfahren sollte. Seit mehr als einem Jahr war klar, dass den Alliierten als wichtigste Kriegsbeute wahrscheinlich die Früchte deutscher Wissenschaft und Ingenieurskunst in die Hände fallen würden. Was man aber genau mit diesen Fachleuten anfangen sollte, welchen Nutzen man aus ihrem Wissen und ihrer Entwicklungsarbeit während des Krieges ziehen sollte, war im einzelnen nicht klar.

Noch bevor die Amerikaner deutschen Boden betraten, hatten die Militärs mehrere Gruppen von Fachleuten zusammengestellt, deren Aufgabe es war, in den befreiten Staaten sofort namhafte Wissenschaftler ausfindig zu machen, herauszubekommen, an welchen Projekten sie gearbeitet hatten, und entsprechende Unterlagen sicherzustellen. Das höchste Interesse galt dabei natürlich dem deutschen Atombombenprojekt. Ein ganz neues Beutekonzept bildete sich heraus: „Geistige Reparationsleistungen“.

Während des Krieges hatte Hitler, wie Clarence Lasby feststellte, „ein Reservoir von Fähigkeiten zur Verfügung, das auf der Welt seinesgleichen suchte. Während des 20. Jahrhunderts waren die deutschen Universitäten Anziehungspunkte der Forschung, deutschen Wissenschaftlern wurden die meisten Nobelpreise verliehen, und kurz vor Ausbruch des Krieges hatten deutsche Physiker die Kernspaltung entdeckt.“((Lasby 1975, S. 12.))

Zwischen Mai 1945 und Dezember 1952 holte die US-Regierung im Zuge von „Operation Paperclip“ insgesamt 642 ausländische Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker ins Land.((Lasby 1975, S. 5.)) Die bekanntesten von ihnen war die Gruppe um Wernher von Braun, die ausdrücklich darauf bestand, als Team zusammenzubleiben.

Wettlauf um die besten Köpfe

Als die Alliierten im März 1945 die Westfront durchbrachen, folgten im Troß mehr als 3000 Experten. Jedoch „mussten die optimistischen Pläne Washingtons und Londons, welche die Beutesicherstellung mit Worten wie ,ordnungsgemäß‘ und ,systematisch‘ beschrieben, sehr bald den Realitäten im Feld weichen.“ Beobachter sprachen in bezug auf das CIOS (Combined Intelligence Objectives Subcommittee, ein Geheimdienstunterausschuss des US-Kongresses zur Festlegung der Kriegsziele), nur noch von CHAOS.((Lasby 1975, S. 23.)) Aber nicht nur Briten und Amerikaner jagten in Europa deutsche Wissenschaftler, die Russen taten dasselbe.

Im April 1945 gelang es Wernher von Braun mit dem Argument, die 450 nach Bleicherode nahe Nordhausen verlegten Peenemünder Flüchtlinge wären besser vor den alliierten Luftangriffen geschützt, wenn man sie aufteilte, das technische Personal aus den Fängen des Hans Kammler und der SS zu befreien. Er selbst, Dornberger und eine kleine Gruppe begaben sich nach Oberjoch, um dort auf die Amerikaner zu warten.

Von den Amerikanern schließlich nach Garmisch-Partenkirchen gebracht, wurden von Braun, Dornberger und andere führende Peenemünder endlos verhört. Die verschiedensten Militärspezialisten, die diese Verhöre leiteten, hatten zum größten Teil „wenig oder gar keine Ahnung von dem, was ihre Gefangenen wirklich wussten“.((Ordway und Sharpe, S. 273.)) In der Zwischenzeit jagte Major Robert Staver, ein 28jähriger amerikanischer Maschinenbauingenieur, hinter den übrigen verstreuten Raketenspezialisten her. Außerdem wollte er die im Mittelwerk zurückgelassenen V-2-Teile und die versteckten technischen Zeichnungen und Pläne sicherstellen, bevor diese den Briten oder Russen in die Hände fielen.

Mehrere amerikanische Wissenschaftler, vor allem der jüdisch-ungarische Aerodynamiker Theodore von Kármán und der Physiker Fritz Zwicky vom California Institute of Technology, hatten keinen Zweifel daran, dass das Erbe der Peenemünder Forscher höchst wertvoll war. Daher wurde auf Betreiben von Kármáns als eine der ersten Maßnahmen bereits Ende Mai 1945 beschlossen, den Peenemünder Windkanal in Kochel zusammen mit zwanzig Spezialisten in die USA zu verfrachten.

Anfang Mai 1945 ergaben sich Wernher von Braun und eine kleine Gruppe führender Leute aus Peenemünde der US-Armee. Links Charles L. Stewart von der amerikanischen Gegenaufklärung, neben ihm Oberstleutnant Herbert Axster und (im Hintergrund) Dieter Huzel, Wernher von Braun, Magnus von Braun und Hans Lindenberg. General Dornberger gehörte ebenfalls zu der Gruppe. Bild: NASA, Marshall Space Flight Center
Anfang Mai 1945 ergaben sich Wernher von Braun und eine kleine Gruppe führender Leute aus Peenemünde der US-Armee. Links Charles L. Stewart von der amerikanischen Gegenaufklärung, neben ihm Oberstleutnant Herbert Axster und (im Hintergrund) Dieter Huzel, Wernher von Braun, Magnus von Braun und Hans Lindenberg. General Dornberger gehörte ebenfalls zu der Gruppe. Bild: NASA, Marshall Space Flight Center

Dr. Fritz Zwicky war zwischen April und Juli 1945 an der Inspektion von Forschungseinrichtungen und den Verhören von Wissenschaftlern beteiligt. Er schreibt über seine „zweimonatige intensive Arbeit am Peenemünder Überschall-Windkanal in Kochel“: „Die SS hatte zwar befohlen, alle Unterlagen in Kochel zu vernichten und die Anlage zu sprengen, aber diese Befehle waren nicht ausgeführt worden… Während meines gesamten Aufenthalts in Kochel arbeiteten die Deutschen mit großem Eifer und mit einem ungewöhnlichen Kooperationsgeist für uns, was besonders angesichts der Tatsache überraschte, dass unser Team ihnen wegen Versorgungsschwierigkeiten meistens nicht einmal das versprochene Mittagessen geben konnte, was der einzige Lohn für ihre Mühen war.“

Dr. Zwicky schlug vor, 50 deutsche Fachleute zusammen mit dem Windkanal in die USA zu bringen, denn es könnten „mehrere Jahre Arbeit gespart werden, wenn man sich des deutschen Personals bediente“.((Zwicky 1945, S. 76.)) Als Zwicky Kochel verließ, wurde bereits damit begonnen, den von Dr. Hermann entwickelten Windkanal auseinanderzubauen und für die Verschiffung fertig zu machen (siehe Abbildung 6.1).

Abbildung 6.1: Ergebnisse von Dr. Hermanns Windkanalexperimententen. Beim Verhör durch Dr. Zwicky und ein Team amerikanischer Wissenschaftler skizzierte Dr. Hermann Ergebnisse seiner Versuche im Überschall-Windkanal in Peenemünde. Bild: Fritz Zwicky, Report on Certain Phases of War Research in Germany, 1945
Abbildung 6.1: Ergebnisse von Dr. Hermanns Windkanalexperimenten. Beim Verhör durch Dr. Zwicky und ein Team amerikanischer Wissenschaftler skizzierte Dr. Hermann Ergebnisse seiner Versuche im Überschall-Windkanal in Peenemünde. Bild: Fritz Zwicky, Report on Certain Phases of War Research in Germany, 1945

Besonders begeistert war Dr. Zwicky von dem „Projekt A“, einem „Superüberschallkanal“ für den Bereich Mach 7 bis 10, der als nächstes Modell für die Peenemünder Versuche geplant war. Der Entwurf sah eine Arbeitskammer von 1 Quadratmeter vor, deren Betrieb 57.000 Kilowatt Energie benötigte. Elf Kompressoren sorgten für die Luftzufuhr. Zwicky meinte, das Projekt A wäre eine sehr flexible Einrichtung geworden, da „verschiedene Kombinationsstufen der Kompressoren hätten benutzt werden können, um unterschiedliche Arbeitsbereiche gleichzeitig zu betreiben.“ Zusammenfassend schrieb er:

„Der Verfasser empfiehlt dringend, dieses Projekt A gründlich zu prüfen und einen Kanal dieser – oder ähnlicher – Art in den USA zu bauen, am besten mit Hilfe der Peenemünder Ingenieure; ein solcher Plan würde unter den gegenwärtigen Umständen einen erheblichen Zeitgewinn bedeuten.“((Zwicky 1945, S. 5.))

In Garmisch verliefen die Verhöre völlig ungeordnet. Dr. Zwicky berichtete nach seiner Rückkehr in die USA: „Es gab zu viele technische Teams, britische wie amerikanische. Sie gingen Hals über Kopf an die Befragungen heran, ohne sich gegenseitig abzustimmen und ohne sich um vorangegangene Erkenntnisse zu kümmern. General Dornberger, ein energischer und gescheiter Mann, und seine Mitarbeiter an der V-2 … beobachteten dieses unerwartete und schlampige Vorgehen der britischen und amerikanischen Teams mit kritischen Augen, und es war nicht zu übersehen, dass sie unsere Mission für eine ziemliche Farce hielten.“((Zwicky 1945, S. 174.))

Die brauchbarsten Informationen kamen zustande, als einzelne Mitglieder des Raketenteams aufgefordert wurden, ihre Aussagen selbst aufzuschreiben. In diesem Zusammenhang legte von Braun ein Papier mit dem Titel „Übersicht über die bisherige Entwicklung der Flüssigkeitsrakete in Deutschland und deren Zukunftsaussichten“ vor, worin er die Vision einer völlig neuen Technik entwickelte.

„Wir betrachten die von uns entwickelte Stratosphärenrakete A-4 (der Öffentlichkeit als V-2 bekannt) als eine vom Krieg bedingte Zwischenlösung, als eine Lösung, die noch bestimmte inhärente Schwächen hat.

Wir sind überzeugt, dass die vollständige Beherrschung der Raketenbaukunst die Verhältnisse in der Welt genauso verändern wird, wie es bei der Luftfahrt der Fall war, und dass sich diese Veränderung auf zivile wie militärische Anwendungsbereiche erstreckt. Andererseits wissen wir aus unserer Erfahrung, dass die Beherrschung dieser Kunst nur möglich ist, wenn große Geldsummen für ihre Entwicklung eingesetzt werden, und dass Rückschläge und Opfer zu erwarten sind, genauso wie es bei der Entwicklung des Flugzeuges der Fall war.“

Die Entwicklung der A-4 setze eine Vielzahl wissenschaftlicher Voruntersuchungen voraus, betonte von Braun, darunter Tests im Windkanal „in allen Geschwindigkeitsbereichen von 0 bis 1500 Meter pro Sekunde … Prüfstandversuche mit der Raketenbrennkammer und der gesamten Triebwerkszelle“; außerdem die Entwicklung von Lenkvorrichtungen und den Einsatz von Simulatoren, Messmethoden „zur Darstellung der gesamten Raketenflugbahn“ sowie Untersuchungen zur „drahtlosen Kommunikation zwischen der Rakete und dem Boden“.

Nach einer kurzen Darstellung der bisherigen deutschen Raketenarbeit vor und in Peenemünde diskutierte von Braun die fernere Zukunft der Raketen und umriss die Arbeit für die nächsten dreißig Jahre Raumfahrtforschung:

„Die Entwicklung von Flüssigkeitsraketen bietet unserer Meinung nach die folgenden Möglichkeiten, von denen einige von überaus großer Bedeutung sind: Die Entwicklung von Langstreckenverkehrsflugzeugen und von Langstreckenbombern mit extrem hoher Geschwindigkeit… Der Bau gesteuerter mehrstufiger Raketen, die eine Höchstgeschwindigkeit von über 7500 Meter pro Sekunde außerhalb der Erdatmosphäre erreichen. Bei einer solchen Geschwindigkeit würde die Rakete nicht mehr zur Erde zurücksinken, da sich Schwerkraft und Zentrifugalkraft gegenseitig ausgleichen. In diesem Fall flöge die Rakete auf einer Gravitationsbahn ohne eigenen Antrieb um die Erde, genauso wie der Mond… Von einer solchen Rakete ließe sich ständig die gesamte Erdoberfläche beobachten… [Die Mannschaft] könnte physikalische und astronomische Versuche durchführen, die wegen der fehlenden Atmosphäre nur in dieser Höhe in Angriff genommen werden können…“

Auch Walter Dornberger verfasste auf Verlangen des Untersuchungsausschusses am 17. Mai 1945 einen Bericht über die Arbeit in Peenemünde. Darin heißt es: „Auch wenn der erste Schritt in den Weltraum sein Entstehen militärischen Befehlshabern verdankt, so ist doch im Gegensatz zu allen widersprechenden Theorien der Beweis erbracht worden, dass der Weltraum für friedliche Zwecke erobert werden kann. Es muss nur sichergestellt werden, dass die einmal erworbenen Erfahrungen nicht verlorengehen. Derjenige Staat wird im Weltraum der erste sein, der zuerst den Mut für klare Entscheidungen aufbringt.“

Es dauerte noch zwölf Jahre, bis die Sowjets ihren Sputnik starteten und den USA zeigten, wie töricht es war, von Brauns und Dornbergers Mahnungen nicht entschlossen genug aufgegriffen zu haben. Es vergingen sogar dreizehn Jahre, bis die USA überhaupt ein erstes ziviles Raumfahrtprogramm begannen, obwohl die deutschen Raumfahrtpioniere den Amerikanern schon 1945 dargelegt hatten, wie die Zukunft im Weltraum aussehen könnten.

Inzwischen war Major Staver in der Nordhausener Untertagefabrik auf einen reichen Schatz von V-2-Teilen gestoßen. Vor den anrückenden Amerikanern hatten die SS-Wachmannschaften das Mittelwerk fluchtartig verlassen, und Häftlinge, die sich selbst befreit hatten, wiesen den Amerikanern den Weg in das unterirdische Labyrinth, wo Hunderte V-2 in unterschiedlichen Fertigungsstufen standen. Oberst Holger Toftoy, der sich als Chef des Waffenamtes der Nachrichtendienste in Paris aufhielt, stimmte mit Staver darin überein, dass die Raketen und Raketenteile zusammen mit „bis zu hundert Spezialisten innerhalb von dreißig Tagen“ in die USA gebracht werden sollten. Das ganze sollte abgewickelt sein, „bevor sich die US-Marine oder die Briten entschließen, dasselbe zu tun.“((Lasby 1975, S. 43.))

Nach dem Krieg kamen im Zuge von „Operation Paperclip“ 118 Fachleute aus Peenemünde und 400 Tonnen V-2-Teile in die USA. Das gab Amerika einen Vorsprung auf dem Weg ins Raumfahrtzeitalter. Das Bild zeigt eine modifizierte V-2, die im Juli 1950 auf Cape Canaveral gezündet wird. Bild: US-Energieministerium
Nach dem Krieg kamen im Zuge von „Operation Paperclip“ 118 Fachleute aus Peenemünde und 400 Tonnen V-2-Teile in die USA. Das gab Amerika einen Vorsprung auf dem Weg ins Raumfahrtzeitalter. Das Bild zeigt eine modifizierte V-2, die im Juli 1950 auf Cape Canaveral gezündet wird. Bild: US-Energieministerium

General Toftoy beauftragte Major James P. Hamill vom geheimdienstlichen Technikamt mit der Durchführung des Planes. Später schrieb Hamill über seinen Auftrag: „Wir wussten von der Anlage in Nordhausen, lange bevor wir sie eroberten. Aus den schriftlichen Befehlen, die ich erhielt, ging hervor, dass Nordhausen zur russischen Zone gehören würde und dass sämtliche Pläne und Anlagen den Sowjets überlassen werden sollten. Diese Befehle kamen von höchster Stelle. Aber inoffiziell und unter vier Augen wurde mir gesagt, soviel Material wie möglich abzutransportieren, ohne jedoch den Eindruck zu erwecken, wir hätten dort geplündert.“((Akens und Satterfield 1962, S. 29.))

Abbildung 6.2: Die bemannte A-9. In der Planungsabteilung Peenemündes wurde an dieser bemannten Version einer A-9 gearbeitet. Anstelle eines Sprengkopfs ganz vorn ist eine Pilotenkanzel eingebaut. Das Fahrgestell ist vor dem Piloten und im Mittelteil erkennbar. Solche und ähnliche Pläne waren für den militärischen Gebrauch relativ wertlos. Von Braun stellte sie in den zahlreichen Verhören durch die Amerikaner in der Hoffnung heraus, dass er und sein Team in den USA in zivilen Raumfahrtprogrammen eingesetzt werden würden. Bild: „Peenemünde East Through the Eyes of 500 Detained at Garmisch“, 1945
Abbildung 6.2: Die bemannte A-9. In der Planungsabteilung Peenemündes wurde an dieser bemannten Version einer A-9 gearbeitet. Anstelle eines Sprengkopfs ganz vorn ist eine Pilotenkanzel eingebaut. Das Fahrgestell ist vor dem Piloten und im Mittelteil erkennbar. Solche und ähnliche Pläne waren für den militärischen Gebrauch relativ wertlos. Von Braun stellte sie in den zahlreichen Verhören durch die Amerikaner in der Hoffnung heraus, dass er und sein Team in den USA in zivilen Raumfahrtprogrammen eingesetzt werden würden. Bild: „Peenemünde East Through the Eyes of 500 Detained at Garmisch“, 1945

Am 25. Mai erhielt Staver die Genehmigung, die Fachleute aus dem Gebiet von Nordhausen in die amerikanische Zone zu verlegen. Und am 20. Juni – nur wenige Tage, bevor das Gebiet zur russischen Zone wurde – evakuierte Staver die rund eintausend Peenemünder Familien, die er hatte ausfindig machen können. Vierhundert Tonnen V-2-Teile wurden nach Antwerpen und von dort weiter nach White Sands in Neumexiko geschafft.

Den amerikanischen Wissenschaftlern vor Ort war klar geworden, dass sie nur dann die in Deutschland gemachten technischen Entwicklungen voll nutzen könnten, wenn sie die Wissenschaftler und so viel von ihren Anlagen, Dokumenten und Plänen wie nur irgend möglich in die USA mitnahmen (Abbildung 6.2). Sie begriffen auch, wie außerordentlich wichtig es wäre, den deutschen Wissenschaftlern und Ingenieuren eine Fortsetzung ihrer Arbeiten zu ermöglichen.

In einem Protokoll der Verhöre hieß es:

„In Hinblick auf die 200 qualifizierten Ingenieure und Wissenschaftler im Divisionshauptquartier in Garmisch-Partenkirchen zeigt sich deutlich, dass man in zwei oder drei Wochen unmöglich alles über die Raketenwaffen erfahren oder tiefer in die wissenschaftlichen Aspekte dieser Arbeiten eindringen kann… Bis jetzt haben die meisten der Leute zwar bereitwillig gesprochen, aber ob das so bleibt, hängt davon ab, ob man genug Vertrauen aufbauen kann, dass das Team nicht auseinandergerissen wird, sondern die Gelegenheit erhält, die Arbeiten fortzusetzen, wenn auch in viel bescheidenerem Umfang.

Wenn die Behörden die Höhendaten haben wollen, wie es Professor von Braun vorschlägt, oder A-4- und A-9-Raketen abschießen wollen, könnte viel Zeit gewonnen und Gefahren für Material und Leben vermieden werden, wenn die einzigartigen Erfahrungen dieses Teams genutzt werden.“

Im fernen Washington waren ganze Heere von Bürokraten und Politikern damit beschäftigt festzulegen, was mit dem besiegten Deutschland im allgemeinen und mit der wissenschaftlichen Elite im besonderen geschehen solle.

Das US-Außenministerium „war schnell bei der Hand, um die Einwanderung deutscher Wissenschaftler zu unterbinden“, berichtet Lasby. Sie sollten in Deutschland verbleiben, wo sie sich besser „kontrollieren“ ließen. Von Anfang an forderten die Bürokraten im Außenministerium, die nie einen der deutschen Wissenschaftler gesprochen oder zu Gesicht bekommen hatten, alle deutschen Staatsbürger müssten „entnazifiziert“ werden, da sie eine „Kollektivschuld“ an den Schrecken des Hitler-Regimes trügen.

Finanzminister Henry Morgenthau forderte gar, Deutschland zu entindustrialisieren und in ein Agrarland umzuwandeln. Die britische Haltung gegenüber dem besiegten Deutschland bezeugt eine Äusserung William Malkins, eines Rechtsberaters des britischen Außenministeriums: „Deutschland ist, wie sich im Krieg gezeigt hat, eine überaus leistungsfähige Industrieorganisation, fähig zu umfangreicher und unaufhörlicher Produktion… Falls die deutsche Industrie in Friedenszeiten eine ähnliche Leistungsfähigkeit beibehält, wird sich das bankrotte Großbritannien sicherlich nie erholen.“((Bower 1987, S. 83.))

Da der Krieg gegen die Japaner im Pazifik noch nicht vorbei war, vertrat das US-Militär den Standpunkt, dass keine Zeit zu verlieren sei, um die in Deutschland entwickelte Technik eventuell noch kriegsentscheidend einzusetzen, und hatte daher wenig Verständnis für das bürokratische Gerangel. Den zivilen und militärischen Experten, welche die Deutschen verhörten, war durchaus bewusst, dass die Deutschen wertvolle Beiträge leisten konnten, dass sie aber gleichzeitig wenig Interesse an Politik hatten.

Dr. Zwicky schreibt rückblickend, dass „man viel mehr an wertvoller Arbeit aus den Deutschen hätte herausholen können, wären wir nicht anfänglich zu skeptisch und fest davon überzeugt gewesen, dass sie als fanatische Nazis nicht mit uns zusammenarbeiten würden.“ Die Tatsache, dass die Wissenschaftler keine ausgeprägten politischen Loyalitäten zeigten, was ihnen später sogar als mangelndes Demokratieverständnis ausgelegt wurde, führte Zwicky „auf einen schweren Mangel an Erziehung, Einsicht und sogar Interesse an der Innen- und Außenpolitik, Soziologie und Wirtschaft“ zurück.((Zwicky 1945, S. 175.))

Am 30. Juni legte Generalmajor M. Barnes, Leiter der technischen Abteilung im Hauptwaffenamt des Pentagons in Washington, einen Plan vor, wie eine ausgesuchte Gruppe Peenemünder Forscher in die USA verbracht werden könnte.((Ordway und Sharpe 1979, S. 287.)) Das Kriegsministerium stellte sich hinter ihn, und am 6. Juli setzte der Generalstab das „Operation Overcast“ in Gang. Zunächst wurde die Einreise von 350 Forschern gestattet, die mithelfen sollten, „den japanischen Krieg abzukürzen und unsere Militärforschung nach dem Krieg zu unterstützen“. In der Anweisung stand, dass „kein bekannter oder mutmaßlicher Kriegsverbrecher in die USA gebracht werden dürfe“ und die Beschäftigung der Wissenschaftler „zeitlich begrenzt“ wäre.((Lasby 1975, S. 77.))

General Toftoy fuhr nach Washington ins Pentagon, um Beratungen über sein Raketenteam zu führen, das noch in Garmisch-Partenkirchen wartete. Er wollte dreihundert Raketenexperten nach Amerika bringen, erhielt aber nur die Erlaubnis, etwa einhundert Personen als „privilegierte Gruppe von Kriegsgefangenen“ einreisen zu lassen.((Lasby 1975, S. 153.))

Dieter Huzel beschreibt, was die ungefähr vierhundert Peenemünder Veteranen in Garmisch taten, um sich die Zeit zu vertreiben, während die Bürokraten in Washington nach Wegen suchten, um die angeblichen „Kriegsverbrecher“ von Amerika fernzuhalten. Man veranstaltete eine „universitätsreife“ Vorlesungsreihe über „Thermodynamik, Astronomie, Kernphysik, Mathematik, Ballistik, Meteorologie, Lenksysteme sowie viele andere Themen und sogar über die Kunst des Schachspiels, worauf dann zwangsläufig ein Schachturnier folgte“.((Huzel 1962, S. 192.))

Und weiter: „Es bildete sich bald ein kleines Orchester und gab einfache Abendkonzerte im Hörsaal… Eine Theatergruppe fand sich zusammen und ,produzierte‘ vier Stücke, zu deren Aufführungen jeder seinen eigenen Stuhl mitbringen musste.“ Magnus von Braun und ein ehemaliger Soldat arbeiteten Oscar Wildes Stück Ernst sein! in ein Musical um, das Deutschen und Amerikanern gleichsam gefiel.((Ordway und Sharpe 1979, S. 275.))

Die Peenemünder Gruppe hielt „Vollversammlungen“ ab, auf denen Deutsche wie Amerikaner sprechen konnten, und über alle Entscheidungen, die zu treffen waren, wurde abgestimmt. Während ihrer Internierung fanden die meisten auch zum ersten Mal Zeit, über ihre Kriegserfahrungen nachzudenken. Darüber erzählt Huzel: „Wir merkten, dass in Peenemünde alles etwas abgelöst war. Der Krieg war für uns nicht real… Er war ein fernes Ärgernis, ein Teufel, der sich gegen uns verschworen hatte, um unsere ohnehin schwere technische Aufgabe noch unmöglicher zu machen, und nur gelegentlich seinen Zorn an uns ausließ.“

„Real waren nur die täglichen Aufgaben und die langfristigen Entwicklungsziele, auf die wir hinarbeiteten. Aus heutiger Sicht, im Jahr 1962, muss ich sagen, unterschied sich die Haltung der Peenemünder Ingenieure gegenüber der V-2 wenig von der, wie heute die Ingenieure bei Convair die Atlas oder die Ingenieure bei Douglas die Thor [zwei US-amerikanische Interkontinentalraketen] sehen.“((Huzel 1962, S. 194.))

Um sich auf sein neues Leben in Amerika vorzubereiten, begannen viele, darunter auch Arthur Rudolph, Englisch zu lernen. Er erzählt: „Es gab nur ein englisch-deutsches Wörterbuch für alle 500 Leute in dem Lager… Ich hatte das Problem, dass ich es nur um sechs Uhr morgens bekam, und dann auch nur für eine halbe Stunde.“((Franklin 1987, S. 96.)) Also machte sich Rudolph daran, sich sein eigenes Wörterbuch zusammenzustellen. Es umfasste gegen Ende seines Aufenthaltes in Garmisch 18.000 Wörter.

Im Juli endlich setzten sich General Toftoy, Major Staver und Dr. Richard Porter von General Electric mit von Braun zusammen, um zu entscheiden, wer einen sechsmonatigen Arbeitsvertrag für die USA erhalten sollte. Toftoy erstellte daraufhin eine Liste mit 127 Namen.

Am 21. Juli wurde außerdem bekannt, dass eine ausgewählte Gruppe den Briten „überstellt“ würde, um im Rahmen von „Operation Backfire“ mit V-2-Raketen in der britischen Besatzungszone bei Cuxhaven zu experimentieren. In diesem Zusammenhang wurde Dornberger im August nach London überstellt, angeblich um dort vernommen zu werden. Tatsächlich fand er sich vor der für die Untersuchung von Kriegsverbrechen zuständigen Abteilung wieder, wo ihm Oberstleutnant Andrew P. Scotland eröffnete, da die Briten Obergruppenführer Kammler nicht ausfindig machen konnten, um ihm in Nürnberg den Prozess zu machen, wolle man sich stattdessen an ihn als .„Sündenbock“ halten.((Ordway und Sharpe 1979, S. 303.))

In seinem Bericht über die Arbeiten an der V-2 hatte Dornberger bereits in Garmisch festgestellt: „Obgleich die Entwicklung keineswegs als abgeschlossen gelten konnte und ich gegen die sofortige Verwendung als Waffe Einspruch erhob, lag nach den Ereignissen vom 20. Juli 1944 die gesamte Verantwortung und die Bestimmung des Einsatzzeitpunkts in den Händen der SS. Mir blieb nur die Position des technischen Beraters, verantwortlich für die Heimatorganisation.“

Später erzählte Dornberger über diese Zeit: „Ich verbrachte nach dem Krieg zwei Jahre als Kriegsgefangener in England. Zuerst wollte man mich für den Abschuss von Raketen auf das ungeschützte London hängen. Aber nicht ich hatte sie abgeschossen – Kammler war es. Ich hatte die Aufgabe, sie herzustellen und an die Front zu schicken. Hätte man mich dafür gehängt, hätte jeder, der an der Entwicklung von Kriegswaffen beteiligt war, ein ähnliches Schicksal erwarten müssen.“((Thomas 1961a, S. 59.))

Die Reaktion auf Operation Backfire ließ nicht lange auf sich warten. „Die Vereinigten Staaten waren aufgebracht. Man hatte Großbritannien schon lange im Verdacht, Overcast anzapfen zu wollen, womit Wissenschaftler nach Amerika geholt werden sollten, die die Briten selbst gern hätten.“((Ashman und Wagman 1988, S. 217.)) Nach seiner Freilassung wurde Dornberger als Berater der Luftwaffe in die USA eingeladen. Er verbrachte dort zwei Jahre im Luftfahrt-Entwicklungszentrum Wright-Patterson in Dayton, „wo ich über 150 Berichte über die Zukunft der Raketen und das Raketenwesen schrieb“.((Ashman und Wagman 1988, S. 60.))

Am 6. September erhielt Dieter Huzel von Wernher von Braun die Nachricht nach Cuxhaven, dass er auf „Liste 1“ für die Ausreise in die USA stehe. Von Braun, der selbst drei Wochen darauf in Amerika war, fügte hinzu:

„Ich darf die Gelegenheit zum Anlass nehmen, daraufhinzuweisen, dass der Begriff ,Angehörige‘ im Zusammenhang mit bestimmten Rechten in den künftigen Arbeitsverträgen Ihre Verlobte nicht einschließt. Wenn Ihre früher erklärte Heiratsabsicht noch so ernsthaft fortbesteht, wie ich früher den Eindruck hatte, möchte ich Ihnen dringend nahelegen, die Angelegenheit vor Ihrer Abreise rechtlich zu regeln. In der Hoffnung, Sie als frisch gebackenen Ehemann in Amerika wiederzusehen, verbleibe ich mit besten Grüßen.“((Huzel 1962, S. 202.))

Am 21. Januar 1946 schiffte sich Dieter Huzel mit der dritten Gruppe Peenemünder zur Reise in die Neue Welt ein. Etwa zwanzig derer, die ausgesucht worden waren, hatten aus persönlichen Gründen beschlossen, erst einmal in Deutschland zu bleiben. Dr. Walter Häussermann sagte beispielsweise gegenüber der Autorin, dass er 1945 von Dr. John von Neumann in Darmstadt befragt worden sei. „Zu dem Zeitpunkt war ich sehr interessiert, in die USA zu gehen. Aber es gab ein Problem. Meine Frau war damals wohl wegen des Hungers sehr krank geworden.“ Der unumgängliche lange Krankenhausaufenthalt durchkreuzte erst einmal alle Pläne.

Doch Häussermann erhielt eine weitere Einladung und traf am 2. Januar 1948 in New York ein. Als er in späteren Jahren in Gesprächen mit russischen Technikern oft gefragt wurde, ob er gezwungen worden sei, in die USA zu gehen, hätte er geantwortet: „Es machte mir immer Spaß zu sagen, ich sei ein gutes Beispiel dafür, dass ich ,Nein‘ sagen konnte und es akzeptiert wurde, und als ich später ,Ja‘ sagte, wurde das auch akzeptiert. Es fiel ihnen schwer, das zu glauben.“

Auch Krafft Ehricke war nicht sofort bereit, in die USA zu gehen. Er hoffte, seine Frau Ingeborg irgendwo in Berlin zu finden. Er machte sich zu Fuß von Bayern nach Berlin auf, wo er sie schließlich wiederfand. Später schloss er sich dem Peenemünde-Team in Fort Bliss in Texas an.

Viele der 20 Spezialisten, die trotz Einladung in die USA in Deutschland geblieben waren, arbeiteten hier ebenfalls für die Amerikaner. Alle anderen waren bis Mai 1946 in den USA.

„Friedensgefangene“

Nach Darstellung Krafft Ehrickes waren die deutschen Raketenspezialisten in Fort Bliss „Friedensgefangene“. Sie hatten keine festen Zusagen, sondern nur vage Versprechen erhalten, dass sie mit ihren Familien zusammenleben könnten. Ihre Visa berechtigten sie nicht, später die amerikanische Staatsangehörigkeit zu beantragen, und die Arbeitsverträge liefen nur über sechs Monate. Sie wurden von Soldaten bewacht und durften nicht allein ausgehen. Ähnlich erging es den „Gefangenen“ in Wright Field, Ohio, wohin man die Aerodynamiker gebracht hatte. Hier war die Unzufriedenheit sehr viel stärker.

Im Februar 1946 wurde eine Änderung der amerikanischen Politik unumgänglich. Die Mehrzahl der Deutschen wollte nicht mehr nach Deutschland zurückkehren, sondern amerikanische Staatsbürger werden. Zwar war der Krieg mit Japan zu Ende, aber militärische und politische Analytiker sahen voraus, dass das Ende des Krieges keinen dauerhaften Frieden, sondern neue Spannungen mit der Sowjetunion bringen würde. Sie wussten auch, dass sich die Russen in einem schonungslosen Wettstreit mit den Amerikanern um die „geistigen Reparationen“ befand.

Im gleichen Monat wurde „Operation Overcast“ von einer neuen Politik abgelöst, und man wählte dafür einen anderen, weniger spektakulären Decknamen. „Man erinnerte sich daran, dass man in Witzenhausen beim Aussuchen der Raketenexperten eine Büroklammer (paperclip) an die Akte jener heftete, die übernommen werden sollten. Auf diese Weise wurde ,Operation Paperclip‘ die Geheimbezeichnung für dieses Programm. Der Name stand für eine neue Absicht und eine neue Hoffnung.“((Lasby 1975, S. 155.))

Unter „Paperclip“ wurde die Einreisequote auf 1000 Wissenschaftler erhöht, die Familienangehörigen durften nachkommen und „man bot indirekt die Einbürgerung an“. Die politische Lage in Europa hatte sich geändert. Es stellte sich als immer wichtiger heraus, dass man den Russen den Zugriff auf deutsche Fachkenntnisse verwehrt hatte. Selbst das US-Handelsministerium erließ einen Plan im „nationalen Interesse“, wonach etwa 50 Paperclip-Spezialisten in der amerikanischen Industrie sowie in gemeinnützigen Einrichtungen der Forschung und Lehre untergebracht werden sollten.((Lasby 1975, S. 9.))

Zu Beginn des Jahres 1946 waren 165 der unter Operation Overcast zulässigen 350 deutschen Wissenschaftler in die USA gekommen, darunter über hundert Raketenspezialisten. In den anschließenden Monaten fanden zwischen den militärischen Kommandostellen, dem Außen-, Handelsund Justizministerium sowie dem Weißen Haus regelrechte Grabenkämpfe darüber statt, wo die Grenze für die Einwanderung weiterer deutscher Fachleute und deren Einbürgerung gezogen werden sollte. Das Außenministerium war besonders darüber besorgt, dass Kriegsverbrecher eingeschleust werden könnten und verlangte Vorsichtsmaßnahmen. Schließlich wurde ein Kompromiss gefunden, wonach „Paperclip“ zur Bedingung machte, dass die USA „keine eingefleischten Nazis“ beschäftigen würden, andererseits wollte man aber weder einfache Parteimitglieder noch solche Deutschen belangen, die im Naziregime geehrt und ausgezeichnet worden waren.((Lasby 1975, S. 177.))

In Amerika selbst hatte es bislang nur wenig Protest gegeben und kaum einer wusste überhaupt, dass deutsche Fachleute in die USA gebracht wurden. Der Krieg ging weiter, außerdem sollten sie nur vorübergehend bleiben. Mit „Operation Paperclip“ und den Versprechungen auf dauerhaften Aufenthalt und der Möglichkeit für die Spezialisten, ihre Familien in die neue Heimat nachzuholen, wurde das Projekt bekannter und sowohl Gegner wie Befürworter der Aktion meldeten sich zu Wort.

Schon im Februar 1946 wussten die Amerikaner, dass die Russen an einem umfangreichen Raketenprogramm arbeiteten. Die Sowjets hatten viele Einrichtungen in ihrer Besatzungszone wieder in Betrieb genommen und andere von ihnen „requirierte“ Fachleute nach Russland geschafft.((Lasby 1975, S. 152.)) Zu diesem Zeitpunkt hielten sich die Amerikaner noch immer an die früher vereinbarten Bestimmungen, so zum Beispiel die Direktive 1067 der Stabschefs vom November 1944, die in Übereinstimmung mit dem Morgenthauplan jede wissenschaftliche Forschung in der amerikanischen Besatzungszone verbot. Die alliierte Vorschrift Nr. 25 verlangte die vollständige Demontage und Auflösung aller deutschen Forschungsstätten.((Brower 1987, S. 146.))

Am 11. Oktober 1946 forderten die Sowjets alle Wissenschaftler in ihrer Zone auf, sich bei der Militärregierung zu melden.((Brower 1987, S. 147.)) In der Nacht des 21. Oktober 1946 umstellten sowjetische Soldaten in einer Nacht-und-Nebel-Aktion die Wohnungen Tausender Wissenschaftler und Techniker. Sie holten die verschreckten Bewohner aus den Betten und teilten ihnen mit, sie müssten sich sofort fertig machen, um in die Sowjetunion deportiert zu werden.((Lasby 1975, S. 178.)) Die Schätzungen, wie viele Personen in dieser Nacht verschwanden, reichen von 15.000 bis 40.000. Jedenfalls füllten die Russen mit ihnen 92 Eisenbahnzüge.((Bar-Zohar 1967, S. 152.)) Allein aus Berlin verschwanden 400 Personen.

General Clay erinnerte die Sowjets zwar daran, dass Gauleiter Sauckel in Nürnberg dafür gehängt wurde, Zivilisten deportiert zu haben, um sie als Zwangsarbeiter einzusetzen, doch das hinterließ in Moskau wenig Eindruck.((Lasby 1975, S. 182.)) Im Gegenzug erlaubte General Eisenhower schließlich die Wiedereröffnung einiger deutscher Forschungsstätten, allerdings mehr aus dem Grund, arbeitslose und vertriebene Wissenschaftler in der amerikanischen Besatzungszone davon abzuhalten, die großzügigen Angebote der Sowjets anzunehmen.((Brower 1987 S. 147.))

In Reaktion auf Vorwürfe, die USA „ließen zu, wie Russland und Großbritannien die Crème der deutschen Wissenschaftler absahnen“,((Huzel 1962, S. 220.)) beschloss die US-Armee im Dezember 1946, der Presse einige Informationen über die nach Amerika geholten deutschen Wissenschaftler zukommen zu lassen. Auch einige Mitglieder der Von-Braun-Gruppe wurden mit Journalisten zusammengebracht. Nach diesen Gesprächen erschien noch im gleichen Monat der erste Artikel in El Paso Herald Post unter der Überschrift „Deutsche Wissenschaftler planen eine Tankstelle im Himmel für die Reise zum Mond“.

Abbildung 6.3: Zeichnung aus der „Dokumenten-Schatzkiste“, die Amerika in die Hände fiel. 1946 wurde von Spezialisten der US-Armee das Handbuch der A-4 vom Februar 1945 ins Englische übersetzt. Es enthielt technische Detailzeichnungen der einzelnen Komponenten. Das Bild zeigt eine Schemazeichnung aller Öffnungen der Rakete für Zugänge und Anschlüsse. Bild: Handbuch A-4
Abbildung 6.3: Zeichnung aus der „Dokumenten-Schatzkiste“, die den USA in die Hände fiel. 1946 wurde von Spezialisten der US-Armee das Handbuch der A-4 vom Februar 1945 ins Englische übersetzt. Es enthielt technische Detailzeichnungen der einzelnen Komponenten. Das Bild zeigt eine Schemazeichnung aller Öffnungen der Rakete für Zugänge und Anschlüsse. Bild: Handbuch A-4

Anfang 1947 änderten sich jedoch die Töne der Berichterstattung. Die liberale Presse schwenkte auf die Argumente einer kleinen, aber lautstarken Opposition um. Lasby bezeichnete diese Opposition als „relativ kurzatmig“ und „fast ausschließlich auf den amerikanischen Liberalismus beschränkt“.((Lasby 1975, S. 191.)) The Daily Worker, die Zeitung der Kommunistischen Partei der USA schrieb, wie nicht anders zu erwarten, die Deutschen seien „wieder bei ihrem Lieblingsspiel“, Waffen zu bauen. Die Zeitung verlor kein Wort darüber, wofür die andere Supermacht, deren Sprachrohr sie war, die entführten Deutschen einsetzte.

Ende Dezember 1946 drückten 40 Persönlichkeiten, unter ihnen Albert Einstein, A. Philipp Randolph und Rabbi Stephen S. Wise, in einem Schreiben an Präsident Eisenhower ihre „tiefe Sorge“ über die deutschen Wissenschaftler aus. In dem Schreiben heißt es:

„Wir halten diese Individuen für möglicherweise gefährliche Träger rassistischen und religiösen Hasses. Ihre frühere herausragende Rolle als Mitglieder oder Anhänger der Nazi-Partei wirft die Frage auf, ob sie geeignet sind, US-Bürger zu werden oder Schlüsselpositionen in der amerikanischen Industrie, Wissenschaft und Lehre einzunehmen. Wenn man es schon für vordringlich hält, sich dieser Leute zu bedienen, möchten wir Sie ernstlich ersuchen, sicherzustellen, dass man ihnen keine Daueraufenthaltserlaubnis oder gar die Staatsbürgerschaft der Vereinigten Staaten gewährt. Denn das würde ihren antidemokratischen Auffassungen Gelegenheit geben, unsere nationale Einheit zu unterminieren und zu zerstören.“((Lasby 1975, S. 193.))

Hat sich einer dieser 40 Leute je mit einem der Raketen-Spezialisten – der Gruppe, die am häufigsten mit „Operation Paperclip“ in Verbindung gebracht wurde – getroffen und mit ihm gesprochen? Nein. Gab es irgendwelche Belege für die Behauptung, dass es sich bei diesen Wissenschaftlern um „herausragende“ Mitglieder der NSDAP oder um „Träger von Religions- und Rassenhass“ handelte? Nein. In diesen Anklagen drückten sich die „Bedenken“ einiger Bürokraten des Außenministeriums aus, die auf diese Weise an die Öffentlichkeit gebracht wurden.

Auch von der Gesellschaft zur Verhinderung des Dritten Weltkriegs kam Protest. Diese Gruppe mit „mehreren tausend Mitgliedern“ hatte sich 1944 gebildet und widmete sich dem Ziel, alle künftigen Kriege dadurch zu verhindern, dass man „Deutschlands Kriegspotential auf allen Feldern zurückstutzt“.((Lasby 1975 S. 195.)) Die Gesellschaft vertrat die gleichen Vorurteile wie das US-Außenministerium, dass es nämlich keinen Unterschied zwischen „Nazis“ und dem „deutschen Volk“ gebe.

Rabbi Stephen Wise, Präsident des American Jewish Congress, überprüfte die Akten und die Vergangenheit einiger deutscher Spezialisten, deren Frauen und Verwandten auf Nazi-Verbindungen. In einigen Fällen mögen weitere Nachfragen gerechtfertigt gewesen sein, aber in der Studie zu „Operation Paperclip“, die der Jewish Congress April 1947 herausgab, hieß es pauschal: „Alle diese Leute beteiligten sich aktiv an den Kriegsanstrengungen der Nazis“ und „alle waren der unamerikanischen Vorstellung einer Herrenrasse und der arischen Überlegenheit ausgesetzt und haben sie in unterschiedlichem Grad übernommen“.((Lasby 1975 S. 197.))

Der heftigste Widerstand gegen Operation Paperclip kam aus bestimmten Kreisen amerikanischer Wissenschaftler, allen voran der Federation of American Scientists (FAS), worin vor allem die Kernphysiker des Manhattan-Projekts zusammengeschlossen waren. Sie hatten sich nach Darstellung des französischen Schriftstellers Michel Bar-Zohar „noch immer nicht von dem Schock über die Tausenden von Toten erholt, die der Abwurf der Atombombe über Hiroshima und Nagasaki gekostet hatte und für die sie sich verantwortlich fühlten“.((Bar-Zohar 1967, S. 142.))

Die Vereinigung beharrte nicht nur auf der „Kollektivschuld aller Deutschen“, um ihre Sache gegen importierte Wissenschaftler zu rechtfertigen. Sie versuchte sogar die Arbeit dieser Wissenschaftler verächtlich zu machen.

1960 äusserte sich General Curtis LeMay dazu: „Eine Mehrheit unserer Wissenschaftler wollte einfach nicht, dass diese Deutschen hier waren. Und das ist nicht so abwegig, wie es scheint. Offen gesagt, viele von ihnen fürchteten sich vor ihren eigenen Schwächen. Ihnen war die Konkurrenz der Deutschen nicht gerade willkommen.“((Lasby 1975, S. 109.))

Es gab einen weiteren Gesichtspunkt im Kampf um „Operation Paperclip“. Dazu schreibt Lasby, die für „Paperclip“ Verantwortlichen „bewerteten jeden Einzelfall, nachdem das Motiv der Parteizugehörigkeit und der Grad der politischen Überzeugung des Betreffenden geprüft worden war. Sie wiesen Kriegsverbrecher, überzeugte Nationalsozialisten, aber auch solche ab, die aus der Parteizugehörigkeit Nutzen gezogen oder die Partei großzügig unterstützt hatten. Wer nur formal Parteimitglied war oder Auszeichnungen für wissenschaftliche Leistungen im Zuge der Kriegsanstrengungen erhalten hatte, wurde nicht abgelehnt. Die meisten Gegner berücksichtigten das menschliche Dilemma derer nicht, die unter der Nazi-Diktatur leben mussten. Sie betrachteten Widerstand gegen Hitler – und mögliches Märty-rertum – als normalen Beurteilungsmaßstab und verurteilten alle, die diese Voraussetzungen nicht erfüllten, als der amerikanischen Staatsangehörigkeit unwürdig.“((Lasby 1975, S. 211.))

Nach diesen Kriterien hätte kaum ein Deutscher in die USA auswandern dürfen, zumal die meisten Widerstandskämpfer – auch wegen mangelnder Unterstützung der Alliierten – von den Nazis umgebracht worden waren.

Wenn man darüber klagt, dass nicht mehr Deutsche ihr Leben im Widerstand gegen die Nazis riskiert haben, dann müsste man ehrlicherweise heute die gleichen Maßstäbe an die amerikanischen Bürger anlegen. Die Wissenschaftler aus Deutschland, die sich nicht öffentlich gegen Hitler aussprachen, kann man für moralisch gleichgültig oder feige halten, man kann sie aber nicht als Unterstützer des Nazi-Regimes oder gar als dessen „glühende Verehrer“ abstempeln. Die meisten der Raketenspezialisten hatten sich auf ihre Arbeit konzentriert, um sich von den Schrecken des Krieges abzuschotten, und hielten sich selbst für unpolitisch.

Als „Operation Paperclip“ 1952 auslief, hatte die Armee von insgesamt 573 ehemaligen Deutschen 210 unter Vertrag, und davon waren nur 132 in Fort Bliss am Raketenprogramm tätig. Diese Gruppe bildete aber, wie Lasby sich ausdrückt, eine Art „Blitzableiter für die Kritiker“.((Lasby 1975 S. 252.)) Und das wohl deshalb, weil sie die größte Gruppe Deutscher in einem Einzelprogramm war. Sie traten nicht als Individuen, sondern als Team in Erscheinung, und – das war wohl am wichtigsten – sie wussten unter der Führung Wernher von Brauns, warum sie in den USA waren und was sie dort erreichen wollten. Außerdem waren sie bereit, sich bei jedem, der ihnen zuhören wollte, für ihr Raumfahrtprogramm stark zu machen.

In den letzten zehn Jahren wurden wohl die unredlichsten Versuche gemacht, die amerikanische Nachkriegsgeschichte umzuschreiben, nur um die Behauptungen des Amtes für Sonderermittlungen (OSI) im US-Justizministerium zu untermauern, dass „glühende Nazis“, die man niemals in die USA hätte hineinlassen dürfen, durch „Operation Paperclip“ eingeschleust worden seien. Zu diesen Studien gehören unter anderen die Bücher von Linda Hunt (Secret Agenda) und Tom Bower (The Paperclip Conspiracy), worin nicht nur haltlose Behauptungen wiederholt, sondern auch alle Tatsachen unterschlagen werden, die ihren politisch motivierten Argumenten entgegenstehen.

Die gegen Arthur Rudolph vorgebrachten Anwürfe sind nur die jüngsten Beschuldigungen dieser Art gegen die deutschen Wissenschaftler, besonders aber gegen Wernher von Braun. Dabei werden teilweise die gleichen Argumente benutzt, wie sie bereits in den sechziger Jahren der Ostagent Julius Mader im Auftrag der Stasi ausgestreut hatte.

Es ist nicht verwunderlich, wenn die Sowjets aus Furcht, die Amerikaner könnten ihnen in der Raumfahrt den Rang ablaufen, wilde Beschuldigungen gegen die Deutschen vorbrachten und sie als „Hitlers Nazi-Wissenschaftler“ hinstellten. Dementsprechend überrascht es auch nicht, dass sich das OSI bei seinen Ermittlungen und Anklagen weitgehend auf Materialien stützte, die ihm aus dem Ostblock zugespielt wurden.

Linda Hunts Buch von 1991 ist wohl die hinterhältigste und verlogenste Darstellung von „Operation Paperclip“. Da schon auf dem Buchumschlag Arthur Rudolph zusammen mit einem Hakenkreuz erscheint, erwartet der Leser eigentlich neue Aufschlüsse über Rudolphs Beteiligung an der Herstellung der V-2 während des Kriegs.

Unbestreitbar sind auch einige Leute mit zweifelhafter Vergangenheit in die USA gekommen, entweder weil sie besondere technische oder nachrichtendienstliche Fähigkeiten mitbrachten oder weil sie andernfalls für die Russen gearbeitet hätten. Die Gefahr, dass die Sowjets Wissenschaftler einfach deportieren könnten, bezeichnet Hunt jedoch als haltlose „Rechtfertigung“, die Deutschen in die USA zu bringen, obwohl seit 30 Jahren bekannt ist, dass die Sowjets Tausende deutscher Wissenschaftler entführt hatten.

Die schlimmste Verdrehung des Buches ist wohl diese, wo Hunt fragt: „Warum haben wir aus Männern Helden gemacht, die zu einem der größten Übel der modernen Geschichte beitrugen? Einige davon waren sicherlich hochbegabte Wissenschaftler. Wernher von Braun zum Beispiel war brillant und hat Unschätzbares zum amerikanischen Waffen- und Raumfahrtprogramm beigetragen. Aber auch er war ein Nazi-Kollaborateur. Welchen Preis mussten wir letztlich für das Wissen der Deutschen bezahlen? Die verbreitetste Antwort ist, er brachte uns auf den Mond. Aber wie rechnet man das gegen Mord auf?“ – als wäre von Braun jemals solcher Verbrechen bezichtigt worden.((Hunt 1991, S. 267.))

Im Unterschied zu Linda Hunt hatte von Braun das Naziregime am eigenen Leib erfahren und er hatte auch gewisse Erfahrungen mit dem kommunistischen System. Im August 1949 verlieh England ihm „eine der höchsten Auszeichnungen für einen Mann seines Faches – er wurde zum Ehrenmitglied der Britischen Interplanetarischen Gesellschaft ernannt“. In seiner Dankeserklärung verglich von Braun das Leben unter der Bedrohung durch die Gestapo mit der Lage „von 700 Millionen Menschen, die unter kommunistischer Herrschaft leben“.((Thomas I960, S. 133.))

Hunt versteigt sich gar zu der Behauptung, „Operation Paperclip“ sei eine sowjetische Operation gewesen, um Nazis nach Amerika zu schleusen und die demokratischen Ideale zu unterhöhlen. Sie vergißt in diesem Zusammenhang zu erwähnen, dass „Operation Paperclip“ und die deutsch-amerikanischen Raumfahrtpioniere seit Ende des Krieges den heftigsten Angriffen seitens der Sowjets ausgesetzt waren. Aber selbst unter der Annahme, die Sowjets steckten hinter „Operation Paperclip“ (wofür Hunt keinerlei Beweise liefert) und die Leute, die in die USA geholt wurden, seien „glühende Nazis“ gewesen, ist zu berücksichtigen, dass ihr Buch vierzig Jahre nach den Ereignissen geschrieben wurde. Man sollte eigentlich inzwischen wissen, was ein solcher sowjetischer Plan bewirkt haben könnte. Ist er aufgegangen? Haben diese Deutschen wirklich antidemokratische Ideologien verbreitet, wie man damals und Linda Hunt heute noch befürchtet?

Aus sowjetischer Sicht haben die Deutschen in Amerika in der Tat etwas Verwerfliches vollbracht, noch verwerflicher als das, was Hunt anfuhrt. 1950 kam die Mehrheit aus der Gruppe der deutschen Raumfahrtpioniere nach Huntsville in Alabama, um dort in der Abteilung für ballistische Ferngeschosse der Armee zu arbeiten. Sie entwickelten jene Mittelstreckenraketen, mit denen die NATO Westeuropa gegen das sich ausweitende Sowjetreich verteidigte. Dadurch lenkten die Raketenfachleute den Hass der Sowjets auf sich und wurden zur Zielscheibe von Angriffen östlicher Geheimdienste und linker Gruppen in den USA.

Als die Deutschen in Huntsville, einem damals gottverlassenen Ort im amerikanischen Süden, eintrafen, lebten dort knapp 15.000 Menschen, die fast alle auf den riesigen Baumwollplantagen arbeiteten. Heute steht dort dank der Arbeit von Wernher von Braun und seiner Mitarbeiter das größte Raumfahrtmuseum der USA, eine Sternwarte, ein eigenes Sinfonieorchester, eine Theaterbühne, ein Kunstmuseum und die wohl modernste Anlage zur Entwicklung und Erprobung von Raketen irgendwo auf der Welt: das Marshall Space Flight Center der NASA. Das Wissenschaftlerteam, das jene Raketen baute, womit amerikanische Astronauten zum Mond flogen, arbeitete seit 1948 auch an dem Plan, Menschen zum Mars zu bringen. War das die Nazi-Ideologie? Eine deutsche war es vielleicht, aber wann haben die Nazis je ein Raumfahrtprogramm betrieben?

Man könnte Hunt vielleicht zugute halten, dass sie nie in Huntsville gewesen ist und nie die Gelegenheit hatte, einen der Raumfahrtpioniere aus Deutschland zu sprechen. Aber ich bin ihr dort im Frühjahr 1985 auf einer Pressekonferenz persönlich begegnet. Sie bezieht sich in ihrem Machwerk sogar auf diese Begegnung und beschuldigt mich, eine Jüdin, des Antisemitismus, nur weil ich Arthur Rudolph verteidigt habe.

Im gleichen Atemzug berichtet sie, dass Wernher von Braun Major der SS war – was eine allgemein bekannte Tatsache ist. Sie unterschlägt aber die andere bekannte Tatsache, dass von Braun einmal von der SS verhaftet wurde, weil er „die Kriegsanstrengungen sabotiert“ habe. Frau Hunt kann uns nicht erklären, weshalb sie jemanden, den die SS wegen Sabotage eingesperrt hat, zum „glühenden Nazi“ macht.

Im März 1985 trafen sich die Raumfahrtpioniere aus Deutschland zu einer Gedenkfeier in Huntsville, Alabama. Hier werden sie vor einem Saturn-V-Triebwerk, das sie mitentwickelt haben, fotografiert. Links vom Foto Wernher von Brauns Nachfolger in Huntsville, Dr. Eberhard Rees, rechts davon Konrad Dannenberg. Bild: Marsha Freeman
Im März 1985 trafen sich die Raumfahrtpioniere aus Deutschland zu einer Gedenkfeier in Huntsville, Alabama. Hier werden sie vor einem Saturn-V-Triebwerk, das sie mitentwickelt haben, fotografiert. Links vom Foto Wernher von Brauns Nachfolger in Huntsville, Dr. Eberhard Rees, rechts davon Konrad Dannenberg. Bild: Marsha Freeman

Es ist nach wie vor ein schwerwiegender Vorwurf, jemanden einen Nazi zu nennen. In ihrem Buch berichtet Hunt seitenweise über die furchtbaren Experimente, die Mediziner mit KZ-Häftlingen angestellt haben. Tatsächlich sind auch einige dieser „Nazi-Ärzte“ nach dem Krieg in die USA gebracht worden. Keiner von diesen erscheint jedoch auf dem Umschlag ihres Buches. Nur das Foto von Arthur Rudolph prangt dort.

Nach dem Tode Wernher von Brauns im Jahre 1977 wurden die Überlebenden aus dem Team der deutschen Raumfahrtpioniere zur leichten Beute für selbsternannte „Nazijäger“ und Autoren wie Linda Hunt, die nach dem Krieg der Kommunistischen Partei der USA und den Sowjets als „fellow travelers“ dienten.

Linda Hunts erste Angriffe auf den „Nazi“ Arthur Rudolph erschienen 1985 im Bulletin of the Atomic Scientists, worin 40 Jahre zuvor die Kampagne gegen „Operation Paperclip“ begonnen hatte. 1982 wurde Arthur Rudolph, unter dessen Leitung die Mittelstreckenrakete Pershing entstand, ohne Gegenwart eines Anwaltes von Staatsanwälten des OSI verhört.

Man eröffnete ihm, die Regierung sei im Besitz von Beweisen und Zeugenaussagen, die belegen, dass er sich als V-2-Produktionsleiter im Mittelwerk bei Nordhausen grausamer Verbrechen schuldig gemacht hätte. Rudolph wusste nicht, dass „Beweise“ und „Zeugen“ vom KGB und dem ostdeutschen Stasi stammten.

Rudolph war damals Ende siebzig und bei schlechter Gesundheit. Er lebte als Pensionär in Kalifornien, weit ab von seinen früheren Kollegen, die noch in Huntsville waren. Unter diesen Bedingungen ging er auf das „Angebot“ der Staatsanwaltschaft ein – stillschweigend die USA zu verlassen und seine US-Staatsbürgerschaft aufzugeben, anstatt einen langen, anstrengenden Prozess über sich ergehen zu lassen. Das war der erste „Sieg“ des OSI.

Um die deutsche Staatsbürgerschaft zurückzuerhalten, musste Rudolph sich auch in Deutschland einer eingehenden Untersuchung unterziehen. Nach einem Jahr Prüfung kam die Bundesregierung dann zu dem Schluss, dass sich nicht ein einziger Zeuge oder Beweis gegen den Raumfahrtpionier auffinden ließ, und gewährte Rudolph deshalb die Staatsbürgerschaft. So von allen Vorwürfen befreit, verklagte Rudolph im Februar 1992 die USA auf Wiederanerkennung seiner US-Staatsbürgerschaft.

Das Vermächtnis der deutschen Raumfahrtpioniere in den USA – die europäische Kultur, klassische Bildung und tonnenweise technische Zeichnungen und Beschreibungen, die sie mitbrachten – spricht für sich selbst. Außerdem sind 126 jener, die mit „Operation Paperclip“ in die USA kamen, bis 1960 dadurch ausgezeichnet worden, dass man sie als Amerikaner der Wissenschaft aufgeführt hat.

Dieter Huzel erzählt anschaulich, wie die Deutschen selbst ihren Weg von Peenemünde in die USA gesehen haben. Anläßlich des ersten erfolgreichen Flugtests der Redstone-Rakete schrieb er: „Der Kreis hat sich geschlossen. Er begann in Peenemünde und setzt sich nun in Cape Canaveral fort. Wenn spätere Generationen auf diese Zeit zurückblicken, werden sie die beiden Orte und die beiden Ereignisse als eines sehen, gerade so wie ein ferner Doppelstern wie ein einzelner Lichtpunkt erscheint. Der Abzug von Peenemünde war nicht das Ende eines Weges, sondern in Wahrheit der Beginn des langen, langen Weges zu den Sternen.“((Huzel 1962, S. 230.))