Eine wissenschaftliche Mobilisierung bei Peenemünde

Zur Versuchsanstalt Peenemünde-Ost auf der Ostseeinsel Usedom gehörten wissenschaftliche Labors und Werkstätten, Teststände und Produktionsstätten zum Bau der Raketen. Hier leitete General Walter Dornberger acht Jahre lang ein Team von Wissenschaftlern und Ingenieuren, das schließlich das Aggregat 4 (A-4) baute (Abbildung 4.1).

Vor dem Ende des 2. Weltkrieges entwickelte hier die Heeresversuchsanstalt Flüssigkeitsraketen, betrieb Atmosphärenforschung und legte die Grundlage für die spätere bemannte Raumfahrt. Peenemünde war damals eine der am besten ausgerüsteten Forschungsstätten der Welt. Sie umfasste alles, was die Wissenschaftler für ihre Aufgaben benötigten: Büros für die technische Planung, für Aeroballistik und Mathematik, Windkanal-Aerodynamik, Labors und Werkstätten zur Entwicklung von Werkstoffen und Lenksystemen, Kontrollgeräten, Telemetrie und ähnliches. Darüber hinaus gab es zahlreiche Versuchslabors und eine Abteilung für „besondere Projekte“.

Die wissenschaftlichen und technischen Durchbrüche gelangen, weil die deutsche Wissenschaftstradition damals noch lebendig war. Die Peenemünder Forscher waren durch Bernhard Riemann, Ludwig Prandtl und Adolf Busemann mit der mathematischen Physik oder Aerodynamik vertraut. Sie hatten Zugang zu den neuesten Erkenntnissen zum Beispiel in der Kernphysik, zu der Marie Curie, Lise Meitner, Ida Noddack, Enrico Fermi, Otto Hahn und Werner Heisenberg beigetragen hatten. Das Peenemünder Raketenprogramm war deshalb so erfolgreich, weil es sich auf die Grundlagen der europäischen und besonders der deutschen Wissenschaft der vergangenen hundert Jahre stützte. Als sich 1929 die Wehrmacht für Raketen zu interessieren begann, bastelten nur einige Raumfahrtbegeisterte amateurmäßig, ohne Geld, ohne wissenschaftliche Ausstattung und ohne wirkliche Erfolgsaussichten an ersten Modellen herum. Als die Entwicklungsanstalt in Peenemünde zehn Jahre später auf vollen Touren lief, arbeiteten viele der besten Wissenschaftler dort oder waren über universitäre oder industrielle „Beraterverträge“ mit dem Projekt verbunden.

Abbildung 4.1: Luftbild der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, aufgenommen von der britischen Luftwaffe. Abgeschieden an der Mündung des Flüsschens Peene gelegen war Peenemünde ein ideales Versuchsgelände für die Raketenkonstrukteure. Die Teststände befanden sich an der Nordostspitze der Insel Usedom.
Abbildung 4.1: Luftbild der Heeresversuchsanstalt Peenemünde, aufgenommen von der britischen Luftwaffe. Abgeschieden an der Mündung des Flüsschens Peene gelegen war Peenemünde ein ideales Versuchsgelände für die Raketenkonstrukteure. Die Teststände befanden sich an der Nordostspitze der Insel Usedom.

Die Aufgabe war, ein Geschoss herzustellen, das Überschallgeschwindigkeiten erreicht und dabei stabil bleibt, die oberen Schichten der Atmosphäre durchquert, wo herkömmliche Verbrennungsmotoren versagen, mit vielfacher Schallgeschwindigkeit wieder in die Atmosphäre eintritt, seinen eigenen Sauerstoff mitführt und unbemannt außer Sichtweite der Bodenkontrolle fliegt. Dazu mussten völlig neue Wege in der Aerodynamik beschritten und neue Formen der chemischen Verbrennung gefunden werden. Man benötigte neue leichte Werkstoffe, neue elektronische Mess-, Kontroll- und Kommunikationsinstrumente.

Anders als bei dem hochgeheimen Manhattan-Projekt in den USA, das zur Herstellung der Atombombe diente, standen die Peenemünder Forschungen für die wissenschaftliche Diskussion in Deutschland weit offen.

Bei Ausbruch des Krieges im September 1939 wurden die Sicherheitsbestimmungen in Peenemünde sogar noch gelockert, um Experten außerhalb der Wehrmacht die Teilnahme an dem Projekt zu erleichtern. Vom 28. bis 30. September fanden in Peenemünde „Tage der Weisheit“ statt. Zu dieser „gestirnsgleichen Zusammenkunft von Wissenschaftlern aus dem herausragenden System der technischen Institute“ Deutschlands wurden 36 Professoren des Maschinenbaus, der Physik und Chemie, der Technischen Hochschulen bzw. Universitäten in Darmstadt, Dresden, Berlin und Göttingen eingeladen.((Ordway und Sharpe 1979, S. 35.))

Wernher von Braun, Walter Thiel und Klaus Riedel trugen den versammelten Wissenschaftlern, darunter auch einige ihrer früheren Lehrer, den Stand der Entwicklung vor. Dabei betonten sie, dass binnen zweier Jahre greifbare Ergebnisse vorliegen müssten, und riefen die Anwesenden dazu auf, sich an der Lösung mehrerer Probleme zu beteiligen: Flugbahnverfolgung nach dem Prinzip der Dopplerverschiebung, Gyroskop- und Funktechnik, Radiowellenausbreitung in der Ionosphäre, Antennendiagramme, neue Messmethoden für den Überschall-Windkanal, Rechenmaschinen für die Flugmechanik und anderes.

Bei seinem Verhör am 21. April 1945 gab Professor Alwin Walter, ein Mathematiker aus Darmstadt, der an jenem „Tag der Weisheit“ dabei gewesen war, zu Protokoll, dass damals „eine militärische Atmosphäre“ völlig gefehlt habe. Dr. Ernst Steinhoff, in Peenemünde für Instrumente, Lenkung und Messungen zuständig, hatte vor dem Krieg bei Professor Walter studiert, der zusammen mit dem Physiker Erich Regener an Fragen der Lufttemperaturmessung in großen Höhen arbeitete.((Peenemünde East 1945, S. 98.))

Diese Art des regen und offenen Austauschs auf Symposien und bei Besuchen wurde während der Kriegsjahre beibehalten. Walter berichtete, dass er etwa zweimal im Jahr nach Peenemünde kam, da er an Flugbahnberechnungen der A-4 arbeitete. Die Verträge für die wissenschaftliche Arbeit wurden sehr weitläufig abgefasst, um den Instituten einen möglichst breiten Zugang zu bieten, berichtete von Braun.((Ordway und Sharpe 1979, S. 36.))

Mehrere Darmstädter Professoren, die im Rahmen dieser Verträge arbeiteten, gehörten zum „Vorhaben Peenemünde“ (VP) oder zur „Arbeitsgemeinschaft VP“. Entsprechende Beziehugen gab es auch mit anderen Hochschulen, zum Beispiel in Dresden. Die Verträge erlaubten nicht nur eine breite wissenschaftliche Diskussion, sondern mit ihnen waren auch Wissenschaftler vom Wehrdienst befreit und vor der SS geschützt. Die TH Darmstadt war von Peenemünde so mit Aufträgen eingedeckt, dass die Universität „ihren Leuten praktisch die Freistellung vom Kriegsdienst garantieren konnte“, berichtete Professor Walter. Er selbst wurde nur für eine Woche eingezogen und kehrte dann an die Universität zurück.((Peenemünde East 1945, S. 98.))

Als 1945 Peenemünde vor den anrückenden russischen Truppen geräumt werden musste, hatten die Wissenschaftler und Ingenieure der Versuchsanstalt die erste Lenkrakete der Welt gebaut, Raketen aus getauchten U-Booten gestartet, den Einsatz von Nuklearantrieben für künftige Weltraumflüge geprüft und erste Entwürfe für Raketensonden, Satellitenstarteinrichtungen und bemannte Raumschiffe angefertigt. Dieses Vermächtnis brachten sie nach dem Krieg mit in die USA.

Mit dem Forschungsprogramm von Peenemünde lässt sich eigentlich nur das spätere Apollo-Programm der USA vergleichen, das den ersten Menschen auf den Mond brachte. Und daran waren ehemalige Peenemünder maßgeblich beteiligt.

Raketen und das Militär

Walter Dornberger hatte 1952 während seiner Arbeit in den Vereinigten Staaten ein Buch geschrieben, worin er auf seine fünfzehnjährige Beteiligung an der Raketenentwicklung von 1930 bis 1945 zurückblickte. In V-2 schreibt er:

„Nie hätte eine private oder staatliche Stelle für die Entwicklung von Großraketen zu rein wissenschaftlichen Zwecken Hunderte von Millionen Mark zur Verfügung gestellt… Wir haben eine der ganz großen Aufgaben der Menschheit, der Umstände nicht achtend, aufgegriffen und eine erste brauchbare Lösung gefunden. Wir haben die Tore geöffnet, den Weg in die Zukunft gewiesen…

Durch Zusammenfassung junger, begeisterungsfähiger, durch keinen Rückschlag zu erschütternder Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker der verschiedensten Gebiete an einer Stelle, durch hilfsbereite und umfassende Zurverfügungstellung der wissenschaftlichen und technischen Einrichtungen haben wir, abseits vom wilden Zeitgeschehen um uns, erfolgreich Probleme und Fragen angepackt, deren Lösung und Beantwortung noch weit in der Zukunft zu liegen schienen…

Ohne die Rakete als Waffe in Erwägung zu ziehen, sind die von ihr ausgehenden allgemeinen Zukunftsmöglichkeiten ungeheuer. Aus Traum kann nun Wirklichkeit, aus Hoffnungen und theoretischen Überlegungen kann nun das Raumschiff werden. Hierfür hat unser Arbeiten, unser Schaffen und Gelingen die ersten Beiträge geliefert.“((Dornberger 1952, S. 291–294.))

Walter Dornberger wurde 1894 in Gießen geboren. Die Familientradition entschied über seine Laufbahn. Er erzählt darüber: „In deutschen Familien übernahm der älteste Sohn die Familiengeschäfte, der zweite ging zum Militär und der dritte konnte tun, was er wollte. Ich war der zweite Sohn. Daher ging ich im August 1914 zur deutschen Armee, obwohl ich eigentlich Architekt werden wollte. Im November jenes Jahres zerfiel mein sorgloses Glück, als der Erste Weltkrieg ausbrach.“((Thomas 1961a, S. 46.))

Am 27. Oktober 1918 geriet Oberleutnant Dornberger in Gefangenschaft und brachte zwei Jahre in einem Lager in Südfrankreich zu. Wegen mehrerer Ausbruchversuche „verbrachte er die meiste Zeit in Einzelhaft“.((Thomas 1961, S. 46.)) Nach seiner Entlassung war er froh, dass er in Diensten der Wehrmacht verbleiben konnte, andernfalls hätte er sich dem rasch wachsenden Arbeitslosenheer anschließen müssen.

Die Auflagen der Versailler Verträge machten es Deutschland unmöglich, sich gegen äussere Angriffe zu verteidigen, und bis 1925 hielten sich ausländische Truppen auf deutschem Boden auf. Die Armee durfte nicht mehr als 100.000 Mann unter Waffen halten und bestand aus sieben Infanterie- und drei Kavalleriedivisionen. Alle noch vorhandene Munition und alle Waffenfabriken mussten der Alliierten Hohen Kommission übergeben werden. Der deutsche Generalstab wurde aufgelöst.

Weiterhin war es „strengstens verboten“, Waffen, Munition und Kriegsgerät zu importieren. Es gab keine Luftwaffe, auch keine Flugzeuge für die Marine. Die Produktion von Flugzeugen musste eingestellt werden, und ihr Import, auch der von Ersatzteilen, war untersagt.

Hitler verdankte seinen Aufstieg zum gewissen Teil seiner Entschlossenheit, sich öffentlich gegen die unhaltbaren wirtschaftlichen Auflagen und die Zerschlagung nationaler Souveränität durch das – wie er es nannte – „Versailler Diktat“ auszusprechen. Keine der demokratischen Parteien hatte dies gewagt.

Die Versailler Verträge enthielten zwar sehr genaue militärische Beschränkungen, doch die „neuen physikalischen Prinzipien“ des Raketenwesens fielen nicht darunter, ähnlich wie der ABM-Vertrag (Anti-Ballistic Missile) von 1970 die „neuen physikalischen Prinzipien“ gelenkter Strahlenwaffen nicht berücksichtigte. In beiden Fällen steckte zur Zeit des Vertragsabschlusses die technologische Entwicklung noch in den Anfängen, um als militärisch bedeutsam zu erscheinen.

In den 1920er Jahren sah sich die Wehrmacht vor eine besondere Aufgabe gestellt. „So war das Heereswaffenamt begreiflicherweise auf der Suche nach neuen, die Bestimmungen des Vertrages nicht verletzenden Waffenentwicklungen, welche geeignet waren, die Kampfkraft der wenigen Verbände zu erhöhen.“((Dornberger 1952, S. 25.)) „Warum sollte es sich mit der Rakete anders verhalten als mit der Kernenergie, mit dem Flugzeug oder mit den meisten anderen revolutionierenden technischen Erfindungen?“ fragte Dornberger später, als er die Bemühungen der Wehrmacht um die Raketenentwicklung beschrieb.((Emme 1964, S. 30.))

Das Projekt wurde dem Artillerie-Offizier Karl Emil Becker unterstellt. Er hatte „…den ersten Anstoß [für sein Interesse am Raketenwesen] durch Hermann Oberths Buch Die Rakete zu den Planetenräumen erhalten. Auf der Grundlage dieses Buches wurden am Institut seines Doktorvaters, Professor (Julius) Cranz, Arbeiten über Raketenballistik und Reaktionsantrieb ausgeführt.“((Astronautik 1976, S. 80.)) Als Student half Becker Cranz 1926 bei der Abfassung des Lehrbuchs der Ballistik.

Als Chef des Heereswaffenamtes und der Abteilungen für Ballistik und Munition hatte Oberst Dr. Becker 1929 Hauptmann Ritter von Horstig damit beauftragt, die gesamte verfügbare Raketenliteratur sorgfältig durchzusehen, darunter auch Robert Goddards Aufsatz aus dem Jahre 1919. Das Literaturstudium „lief sich aber bald tot“, weil sich darunter nichts finden ließ, was Grundlage eines Versuchsprojekts hätte sein können.((Winter, 1990, S. 45.))

Im Frühjahr 1929 wurde Walter Dornberger in die Ballistikabteilung des Heereswaffenamtes versetzt. Er hatte 1929 an der Universität Berlin sein Maschinenbaudiplom abgelegt und später noch den Doktortitel erworben. In der Tradition von Scharnhorst und Carnot gehörte er zu den Berufsoffizieren mit Ingenieursausbildung.

Am 17. Dezember 1930 trafen sich Becker und Dornberger mit Oberstleutnant Erich Karlewski. Als Ergebnis der Unterredung bewilligte das Heereswaffenamt die notwendigen Gelder für ein Raketenprogramm, hauptsächlich für eine Versuchsanlage am Standort Kummersdorf-West, 28 Kilometer südlich von Berlin, und einige kleinere Beträge zur Förderung der Arbeit von Amateur-Raketenerfindern, die möglicherweise zu dem Programm beitragen könnten.

Im folgenden Jahr beauftragte Dornberger Paul Heylandts Gesellschaft für Industriegasverwertung mit der Entwicklung eines kleinen Flüssigtreibstoffmotors mit einem Schub von 30 Kilogramm, basierend auf jenem Modell, das Max Valier in seinen Raketenautos verwendete. Eine folgenschwere Explosion beendete jedoch im März 1934 diese industrielle Versuchsreihe.((Winter, 1990, S. 46; Winter 1983, S. 52.))

Anfang der 1930er Jahre war die Raketenforschung für Dornberger eine Quelle ständiger Enttäuschungen. „Auf der einen Seite stritten Theoretiker und Professoren bei den Berechnungen der Flugbahnen zum Mars und zur Venus um die sechste Dezimalstelle hinter dem Komma. Auf der anderen Seite schrieb ein Abteilungsleiter des Waffenamtes 1931 einen Bericht an seine Vorgesetzten, worin er behauptete, dass eine mit Flüssigbrennstoff betriebene Rakete nie allein vom Boden abheben könnte“, beklagte sich Dornberger.((Emme 1964, S. 31.)) Aber er gab nicht auf.

Im Frühjahr 1932 besuchten Becker, Dornberger und von Horstig den Raketenflugplatz des Vereins für Raumschiffahrt (VfR) in Berlin-Reinickendorf. „Wir waren sehr zufrieden, als Nebel mit ihnen einen Vertrag für 1000 Reichsmark unterschrieb, zahlbar nach dem erfolgreichen Abschuss der Mirak II in Kummersdorf“, berichtete von Braun.((Von Braun 1956, S. 129.))

Generalmajor Walter Dornberger leitete die Raketenversuche des Heeres in Peenemünde von 1930 bis 1945. Bild: National Air and Space Museum, Smithsonian Institution, A-5347Acm
Generalmajor Walter Dornberger leitete die Raketenversuche des Heeres in Peenemünde von 1930 bis 1945. Bild: National Air and Space Museum, Smithsonian Institution, A-5347Acm

Der Fehlschlag des Raketenversuchs im August 1932 (siehe Kapitel 3) brachte Dornberger zu der Überzeugung, dass die Raketenentwicklung auf streng wissenschaftlicher Basis angegangen werden müsse. Reine Laienexperimente führten nicht weiter. Denn „der Traum vom Vorstoß in den Weltraum trübte den meisten ,Erfindern‘ den Sinn für das Praktische, für das Nächstliegende, für das Grundlegende“.((Klee und Merk 1965, S. 11.))

„Zwei Jahre lang versuchte das Heereswaffenamt vergeblich, Grundlagen in die Hand zu bekommen“, berichtete Dornberger. „Diese Arbeiten kamen nicht vorwärts. Dazu trat die Gefahr, dass, durch unbedachte Schwatzhaftigkeit, das Heereswaffenamt als Geldgeber für Raketenentwicklung bekannt werden konnte. Wir mussten daher andere Wege beschreiten.“((Dornberger 1952, S. 32.))

Da die Industrie nicht für die neue Sache zu begeistern war und wegen der möglichen Waffenverwendung Geheimhaltung geboten war, überzeugte Dornberger Oberst Becker, eine unabhängige, gut ausgerüstete Versuchsanlage in Kummersdorf einzurichten und den höchsten technischen Wissensstand einzubringen.

Der unbeirrbare von Braun war entschlossen, Unterstützung für seine Raumfahrtträume aufzutreiben. Obwohl sich das Heer trotz wiederholter Bitten Nebels geweigert hatte, dem VfR irgendwelche Unterstützung zukommen zu lassen, erzählt von Braun, „beschloss ich schließlich, dem Löwen in seiner Höhle zu trotzen und – mit meinen mageren wissenschaftlichen Daten versehen – rief ich Oberst Becker an. Er war keineswegs so ein Ungeheuer, wie ihn Nebel geschildert hatte…, er schien vielseitig interessiert, warmherzig und war durch und durch Wissenschaftler.“((Von Braun 1956, S. 130.))

Wernher von Braun erhielt einen Vertrag, und mit Wirkung vom 1. Oktober 1932 trat der damals 20jährige als Zivilangestellter in Kummersdorf an. Er hatte den Auftrag, Raketen mit Flüssigbrennstoff zu entwickeln. Oberst Becker verhalf ihm außerdem zu einem Stipendium, damit er sein Physikstudium an der Universität Berlin fortsetzen konnte.

Walter Riedel (nicht verwandt mit Klaus Riedel), der mit Max Valier zusammengearbeitet hatte, war in einem anderen Heeresprojekt bei der Gesellschaft für Industriegasverwertung in der Nähe Berlins tätig. „Papa“ Riedel, wie man ihn nannte, schloss sich der Von-Braun-Gruppe an, als die Projekte in Kummersdorf zusammengefasst wurden. Zu Beginn des nächsten Jahres wurde auch Arthur Rudolph, ein weiterer früherer Mitarbeiter Max Valiers, angeworben, als er die von ihm konstruierte „fertige Alkohol-Sauerstoff-Raketenanlage“ vorstellte, die „auf Anhieb zwei in jeder Hinsicht erfolgreiche Testzündungen am Boden bestand“.((Von Braun 1956, S. 132.)) Schließlich stieß noch Heinrich Grünow, ein „Genie in Mechanik“, zu dem kleinen Team.

Zunächst wurde ein Prüfstand gebaut, mit dem „einige nützliche Informationen erzielt“ werden konnten. Während man auf dem Raketenflugplatz nur die Schubkraft und die Brenndauer des Motors messen konnte, ließen sich in Kummersdorf zusätzlich Verbrauch und Fließgeschwindigkeit des Brennstoffes, die Verbrennungstemperatur und andere Parameter feststellen – der erste Ansatz, die Raketenentwicklung auf wissenschaftliche Füße zu stellen.((Ley 1957a, S. 200.))

Beim ersten Test mit einem Raketenmotor kam es am 21. Dezember 1932 in Kummersdorf zu einer Explosion, die den Prüfstand vernichtete. Der Prüfstand wurde sofort wieder aufgebaut, und der zweite Versuch nach drei Wochen „hat wenige Sekunden einwandfrei gearbeitet“. Der Motor hätte 300 Kilogramm Schub entwickeln sollen, doch dann brannte „der Ofen“ durch. Dornberger berichtet lakonisch: „Die ersten Kühlungsschwierigkeiten machten uns zu schaffen.“((Dornberger 1952, S. 35.))

Unbeirrt beschloss Dornberger, mit der Entwicklung eines Motors mit 300 Kilogramm Schub fortzufahren und nicht nur den Motor, sondern gleich die vollständige Rakete zu testen. Beim Apolloprogramm nannten die Ingenieure das einen „Komplettest“. Dadurch konnte man parallel zur Entwicklung des Antriebs auch an der Flugstabilität, der Lenkung und Überwachung arbeiten. Die ganze Anlage erhielt die Bezeichnung A-1, was für „Aggregat 1“ stand.

Um die A-1 für den Test vorzubereiten, war ein Jahr harte Arbeit erforderlich. Dabei brannten immer wieder Motoren durch, mussten Teile neu konstruiert werden, gab es Erfolge und viele Fehlschläge. Dornberger berichtet, dass man nach einigen Fehlversuchen bald ein Triebwerk hatte, das „einwandfrei arbeitete“.((Dornberger 1952, S. 44.)) Die A-1 selbst war 1,4 Meter lang, fasste 40 Kilogramm Treibstoff, hatte ein Startgewicht von 150 Kilogramm und entwickelte für 16 Sekunden 300 Kilogramm Schubkraft.((Schulze 1965, S. 1.))

Aber mit der A-1 fand nie ein Flugversuch statt. Eines der Probleme, welches alle kleinen Raketen mit der A-1 gemein hatten, war die Steuerung und Kontrolle. Auch wenn die Motoren einwandfrei arbeiteten, gerieten die Raketen im Flug rasch außer Kontrolle. Willy Ley meinte später: „Was wir über Raketenstabilität wussten, passte auf eine Postkarte und ließ dort sogar noch Lücken frei.“((Ley 1957a, S. 200.))

Aufnahme von l934 eines Raketentriebwerks, das Arthur Rudolph für das Aggregat 1 in der Heeresversuchsanstalt in Kummersdorf entwickelt hatte. Bild: Deutsches Museum, München
Aufnahme von l934 eines Raketentriebwerks, das Arthur Rudolph für das Aggregat 1 in der Heeresversuchsanstalt in Kummersdorf entwickelt hatte. Bild: Deutsches Museum, München

Um die A-1 zu stabilisieren, schlug Dornberger vor, die Rakete um ihre Längsachse rotieren zu lassen. Diese Drehstabilisierung wird heute noch bei Satelliten angewandt. Auch bei Artilleriegeschossen ist diese Methode üblich. „Die Rakete sollte rotieren, die Treibstofftanks nicht. Der Treibstoff würde durch die auftretenden Zentrifugalkräfte an den Tankwänden hochsteigen. Das gäbe Förderschwierigkeiten.“((Dornberger 1952, S. 43.))

Deshalb wurde die A-1 so gebaut, dass nur der oberste Teil, der die Nutzlast tragen sollte, auf Kugellagern rotierte und die Funktion eines Kreisels übernahm. Doch dieser 40 Kilogramm schwere Raketenkopf nahm dem Aggregat noch mehr Stabilität, da er den Schwerpunkt zu weit nach oben verlagerte. Bei der Folgeversion, der A-2, wurde der Kreisel entsprechend in die Mitte der Rakete verlegt. Kurz vor Weihnachten 1934, zwei Jahre nach Beginn des Heeresraketenprogramms, wurden zwei A-2-Modelle, liebevoll Max und Moritz genannt, erfolgreich auf der Nordseeinsel Borkum abgeschossen. Beide Raketen erreichten eine Höhe von fast 2,5 Kilometern.

Während die beiden A-2 auf den Test vorbereitet wurden, arbeitete das Raketenteam bereits an der Entwicklung eines viel größeren Gerätes, das 1500 Kilogramm Schubkraft erzeugen sollte. Für diese A-3 war aber ein aktives Stabilisierungssystem erforderlich, da sie mit 6,74 Meter Länge fünfmal schwerer als die A-1 und die A-2 sein sollte.

Wernher von Braun hatte schon früh verlangt, die Raketenmodelle der A-Serie im Windkanal auf ihre aerodynamische Stabilität zu überprüfen. Am 6. Januar 1936 fuhr er deshalb nach Aachen, um sich dort mit Dr. Rudolf Hermann von der Technischen Universität zu treffen. Ihm zeigte von Braun die Zeichnungen „eines spitzen, schlanken Rumpfes mit Flossen, der auf Stabilität und sein Verhalten bei Luftströmungen bis zu unserer höchsten Machzahl hin getestet werden sollte“. Damit wurde zum ersten Mal die Aerodynamik in das Raketen-Programm eingebracht.

Die Schallmauer wird durchbrochen

Ludwig Prandtl, von 1904 bis 1953 Professor für angewandte Mechanik an der Universität Göttingen, hatte Hermann Oberth, als er dort studierte, in seiner Arbeit bestärkt. Oberth erinnerte sich 1963 in einem Brief an Eugen Sänger: „Wenn mir zum Beispiel Prandtl seinerzeit entgegenhielt, es habe auf die Flugstabilität einer Rakete keinen Einfluss, ob das Triebwerk oben oder unten steht, so war das eine fruchtbare Kritik, ebenso wenn er mir bei anderer Gelegenheit sagte, dass Räder keine wesentlich höhere Randgeschwindigkeit als 500 Meter pro Sekunde erreichen könnten.“((Barth 1984, S. 81.)) Diese Ermutigung erhielt Oberth zu einer Zeit, als seine „radikalen“ Ideen von den meisten Wissenschaftlern eher belächelt wurden.

In Göttingen angekommen baute Prandtl den ersten großen Windkanal in Deutschland. Seine Studien über Luftströmungen, angeregt von Problemen aus seiner Tätigkeit als Ingenieur bei der Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg (MAN) im Jahre 1900, orientierten sich an den Arbeiten Bernhard Riemanns, dessen Abhandlung über Stoßwellen aus dem Jahre 1859 sich für die Theorie des Überschallfluges als äusserst wichtig und wirkungsvoll erwiesen hat.

Der große Mathematiker Felix Klein, der die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Industrie vorantrieb, veranlasste, dass Prandtl 1906 in die Motorluftschiff-Studiengesellschaft aufgenommen wurde, die an der Entwicklung des Luftschiffs „Parsival“ arbeitete. Um die beste Rumpfform zu finden, schlug Prandtl der Gesellschaft den Bau eines Windkanals für Testzwecke vor, der 1909 in Betrieb ging.

Das Jahr darauf untersuchte Prandtl das Verhalten von Flugzeugflügeln. Dabei entdeckte er, dass sich der Auftrieb der Flügel je nach Anstellwinkel und Längenverhältnis änderte. Seine entscheidende Entdeckung der Grenzschicht oder „Oberfläche der Diskontinuität“ ermöglichte es, „für das Problem des Widerstands, des Abhebens und aller anderen aerodynamischen Probleme des Fluges eine quantitative Lösung anzugeben“.((Henke 1986, S. 55.)) Nach dem Ersten Weltkrieg entstand mit Hilfe des Heeres und der Marine ein noch größerer Windkanal.

Zu Ludwig Prandtls bedeutendsten Schülern zählte Adolf Busemann, dessen Arbeiten später den Überschallflug möglich machten. Schon vor dem Ersten Weltkrieg untersuchte Busemann im Windkanal die Bildung von Stoßwellen. „Das war schon damals Prandtls Hauptinteresse in Göttingen“, erklärte Busemann 1979 in einem Interview mit der Zeitschrift Fusion.((Busemann 1979, S. 34.)) „Er ließ während des Ersten Weltkrieges eine Menge Leute über hohe Luftgeschwindigkeiten arbeiten. Nachdem der Krieg vorbei war, durfte in Deutschland keine praktische Flugzeugforschung betrieben werden… Die Anwendung auf Flugzeuge schien unerreichbar.“

Die theoretischen Studien in Göttingen gingen weiter, aber 1931 „verkaufte“ Prandtl Busemann, wie dieser es ausdrückte, an ein Labor für angewandte Aerodynamik im Turbinenbau nach Dresden. „Wegen der Wirtschaftslage konnte Prandtl nicht mehr so viele Leute in seinem Institut beschäftigen.“

Dr. Adolf Busemann (am Podium) bei einer Veranstaltung in New York, die die Fusion Energy Foundation 1981 ausrichtete, um seine Leistungen auf dem Gebiet der Aerodynamik zu würdigen. Am Tisch von links nach rechts Krafft Ehricke, Ingeborg Ehricke, Dr. F. Winterberg und Dr. W. Grossman. Bild: FUSION/Carlos de Hoyos
Dr. Adolf Busemann (am Podium) bei einer Veranstaltung in New York, die die Fusion Energy Foundation 1981 ausrichtete, um seine Leistungen auf dem Gebiet der Aerodynamik zu würdigen. Am Tisch von links nach rechts Krafft Ehricke, Ingeborg Ehricke, Dr. F. Winterberg und Dr. W. Grossman. Bild: FUSION/Carlos de Hoyos

1936 zog Busemann nach Braunschweig um. Zuvor hatte Hitler verkündet, die Beschränkungen durch den Versailler Vertrag hätten für Deutschland keine Gültigkeit mehr, womit auch viele Forschungshemmnisse in Deutschland wegfielen. In Braunschweig baute Busemann einen Windkanal für Unter- und für Überschallgeschwindigkeiten. Er untersuchte damit die Bildung von Stoßwellen bei Schallgeschwindigkeit (woher die irreführende Bezeichnung „Schallmauer“ stammt), was für den Bau von Überschallflugzeugen entscheidend war.

Über seine Zusammenarbeit mit den Aerodynamikern in Peenemünde schrieb Busemann, dass er „jeden Monat mehrmals dorthin fahren musste, um zu sehen, was sie taten. Daher beschäftigten mich zu jener Zeit nicht nur die Windkanäle, sondern auch die Raketen. Damals lernte ich von Braun kennen. Wir sprachen uns miteinander ab, so dass wir nicht eine Million Reichsmark für dasselbe Experiment ausgaben. Wenn sie eine Erkenntnis gewonnen hatten, berichteten sie mir davon, und wenn wir ein neues Experiment wollten, sagten wir es den anderen.“((Busemann 1979, S. 38.))

Rudolf Hermann hatte 1929 an der Universität Leipzig in Physik promoviert, und seit 1934 leitete er die Abteilung, die am Aerodynamischen Institut der Technischen Hochschule in Aachen die Überschall-Windkanäle betrieb. In dieser Funktion suchte ihn Wernher von Braun 1936 auf. Der kleine Windkanal hatte lediglich einen Versuchsraum von 10 mal 10 Zentimetern, worin das 3,3fache der Schallgeschwindigkeit erreicht wurde. Er war von 1934 bis 1937 in Betrieb und wurde von der Luftwaffe unterstützt.

Es galt, für die Raketenträger die „beste aerodynamische Form bei geringstem Luftwiderstand“ herauszufinden. Ober- und unterhalb der Schallgeschwindigkeit sollte aerodynamische Stabilität erreicht werden. Die Stabilität durfte aber auch nicht zu ausgeprägt sein, weil sonst die Steuerungsbewegungen des Ruders zu groß würden, merkte Hermann an. Außerdem beschäftigte man sich mit der aerodynamischen Druck- und Wärmeverteilung auf Raketen.

Das A-3-Modell, das Wernher von Braun mit nach Aachen brachte, sollte einen neuen Lenkmechanismus erhalten – eine vollständige dreidimensionale Kreiselsteuerung, Strahlruder und Regler. Leitwerke, die in den Abgasstrom des Motors gebracht werden, könnten den Flug der Rakete steuern. Eine solche Raketenlenkung hatte Hermann Oberth bereits in seinen frühesten Arbeiten vorgesehen. Auch Robert Goddard hatte in diese Richtung gedacht.

Die Anordnung der Flossen, wie sie von Braun in seinen Zeichnungen der A-3 vorsah, warf Stabilitätsprobleme auf. „Im Juli 1936 brachte uns Dr. Hermann das ungünstige Messergebnis des Windkanals Aachen über die Stabilität des ersten Modells der A-3“, berichtete Dornberger, „und schilderte uns eingehend die Schwierigkeiten, die der Ermittlung der richtigen Flossenform für pfeilstabilisierte Flugkörper im Überschallgeschwindigkeitsbereich entgegenstanden“.((Dornberger 1952, S. 57.))

Im September brachte Dr. Hermann bessere Ergebnisse für die Stabilität der Schwanzflossen des dritten Modells der A-3 mit. Diese Rakete erhielt außerdem ein Drucksystem mit flüssigem Stickstoff mit einem Zerstäuber, um dem Motor das Alkoholgemisch und den Flüssigsauerstoff zuzuführen. Auch waren neue Ventile entwickelt worden, die sich mit magnetischen Stellventilen pneumatisch steuern ließen.

Der erste Flugtest mit der A-3 fand am 4. Dezember 1937 auf der kleinen Ostseeinsel Greifswalder Oie statt – und diesmal stand kein Leuchtturm im Wege. Nach einem perfekten Start löste sich der Fallschirm unkontrolliert und ließ die Rakete auf eine Seite kippen. Sie schlug 300 Meter von der Startrampe entfernt auf und explodierte.((Schulze 1965, S. 5.))

Man hielt zunächst den Fallschirm für die Unfallursache, nachdem auch der zweite Test gescheitert war, und ließ ihn beim dritten und vierten Versuch, die alle noch im Dezember durchgeführt wurden, einfach weg. Aber jedesmal begann die Rakete zu trudeln und zerschellte. Man stellte fest, dass die Rakete zwar aerodynamisch stabil war, aber die Kreiselsteuerung zu langsam reagierte und die Ausschläge des Strahlruders zu klein waren, um starke Winde abfangen zu können.

Die Bedeutung des Windkanals und der A-3-Tests wurde nach dem Kriege von Dr. Fritz Zwicky gewürdigt. Die Versuche hätten den „Nachweis erbracht, dass Fluggeschosse sich durch ein Festleitwerk aerodynamisch stabilisieren lassen. Zuvor purzelten die Raketen gewöhnlich überall durch die Gegend.“((Zwicky 1945, S. 84.))

Während das gesamte Leitwerk neu entworfen wurde, liefen die Experimente mit einem veränderten A-3-Modell weiter. Und weil die vier Fehlschläge „den Ruf der A-3 auf den ,absoluten Nullpunkt‘ gebracht hatten, tauften wir den neuen Vogel ,A-5‘“, schrieb von Braun 1951. Die natürliche Folgebezeichnung A-4 wurde für das „bessere Modell reserviert, von dem wir hofften, dass es auf die A-3 folgen würde“.((Von Braun 1956, S. 133.))

Schon ein Jahr vor den Flugtests der A-3 wurde deutlich, dass neue Forschungs- und Erprobungseinrichtungen erforderlich waren. Am geeignetsten wäre ein abgelegenes Versuchsgelände, von wo aus Raketen ohne Gefahr für die Zivilbevölkerung gestartet werden konnten, das sich absichern ließe und eine 400 Kilometer lange Schießbahn mit mehreren Messstationen hätte. „Wir brauchten einen neuen Versuchsplatz… und zwar großzügig und schön“, meinte Dornberger.((Dornberger 1952, S. 46.))

Im März 1936 „gelang es uns, Generaloberst von Fritsch zu einem Besuch unserer Kummersdorfer Versuchsstation zu bewegen“, berichtet Dornberger.((Dornberger 1952, S. 46.)) Er bekam die Bodenerprobung von Raketenmotoren mit 300, 1000 und 1500 Kilogramm Schubkraft gezeigt und war beeindruckt. Das Ergebnis war: „…ein höheres Budget wurde sichergestellt, um Vorführungen für hochrangige Offiziere vorzubereiten. Das erinnerte Dornberger unangenehm an seinen Widerwillen, den er gegen die Raketenexperimentierer entwickelt hatte, als sie ihn mit der gleichen Taktik zur Finanzierung ihrer Experimente bewegen wollten.“((Thomas 1961a, S. 53.))

Oberst Wolfram von Richthofen, Leiter der Entwicklungsabteilung im Luftwaffenministerium (ein Vetter des „roten Barons“ aus dem Ersten Weltkrieg), zeigte ebenfalls starkes Interesse an einer Raketenversuchsanlage. Einen Monat später kam es zu einem Treffen mit dem Chef der Luftzeugmeisterei General von Kesselring, auf dem Becker, von Braun und von Richthofen den ersten Entwurf einer „Heeresversuchsstelle Peenemünde“ mit einem verlängerten Gebiet entlang der ostpommerschen Küste erläuterten. Kesselring gab seine Zustimmung.((Dornberger 1952, S. 47.))

Aber das Heer würde kein großangelegtes Versuchs- und Entwicklungsprogramm nur um der Wissenschaft und Technik willen finanzieren. „Die Rakete A-3, die wir damals entwickelten, war nicht dazu eingerichtet, Nutzlast mitzunehmen“, berichtet Dornberger. „Sie war ein reines Versuchsgerät. Da wir immer und immer wieder den Chef der Heeresleitung um Geld für die Weiterentwicklung angingen, erhielten wir die Antwort, nur für eine Entwicklung von Raketen, die große Nutzlasten mit guter Treffsicherheit aufweite Entfernungen zu schleudern in der Lage sind, könnten die erforderlichen Geldmittel zur Verfügung gestellt werden.“((Dornberger 1952, S. 55.)) Dies führte zu den Planungsvorgaben für die künftige A-4. Um die weitere Entwicklung der A-Serie voranzutreiben, sagte Dr. Hermann im April 1937 zu, nach Peenemünde zu kommen, um dort einen Windkanal zu bauen, der die sechzehnfache Größe des Aacheners hatte, eine Spitzenwindgeschwindigkeit von 5 Mach erreichte und auch im Unterschallbereich arbeiten konnte – „denn alle raketengetriebenen Flugkörper fangen nun einmal bei einer Geschwindigkeit von null an“. Der Windkanal war im Sommer 1939 betriebsfertig und benötigte 60 Mitarbeiter.

Zwei Versuchskammern mit einem Messquerschnitt von 40 mal 40 cm konnten abwechselnd benutzt werden. Dornberger nannte das Gebäude „dieses durch Aussehen und Zweckmäßigkeit hervorragende Schmuckstück“. In die Wand des Vorraums war der Spruch eingemeißelt: „Die Techniker, Physiker und Ingenieure gehören zu den Bahnbrechern auf dieser Welt.“((Dornberger 1952, S. 124.))

Die Zeiss-Werke Jena hatten in den Windkanal eine Schlierenoptik eingebaut, womit sich die Strömungsfelder im Umfeld der Raketenmodelle beobachten und fotografieren ließen. Sie machte alle durch Druck oder Wärme entstehenden Dichteunterschiede der Luft als helle oder dunkle Linien auf einer Mattscheibe sichtbar. „An der Spitze, den Kanten der Tragflügel und des Leitwerkes waren deutlich die entstehenden Stoßwellen zu sehen, die im spitzen Winkel schräg nach hinten gingen und das schwarzweiße Bild mit ihren charakteristischen unterschiedlich hell getönten Linien durchzogen“, beschreibt Dornberger die Funktionsweise des Geräts.((Dornberger 1952, S. 131.))

„Durch große Trockenfilter und Trichter wurde die Außenluft angesaugt, durch Blechkäfige gleichgerichtet und je nach Form der eingesetzten Lavaldüse bis zu einer bestimmten Überschallgeschwindigkeit beschleunigt.“((Dornberger 1952, S. 124.))

Die üblichen Windkanäle, die man bis dahin im Flugzeugbau und bei der Geschossentwicklung einsetzte, lieferten zwar wichtige Daten über Auftrieb, Luftwiderstand und Steigung, aber für gelenkte Flugkörper reichte das nicht aus. Dr. Hermann und seine Gruppe entwickelten die Anlage so, dass an frei schwingenden Modellkörpern Schwingungsmessungen vorgenommen werden konnten, um die entscheidende Lage des Druckpunktes zu bestimmen und Auftrieb und Luftdämpfung zu ermitteln.

Die Windkanalgruppe führte auch Experimente durch, um herauszufinden, ob die Rakete im Überschallflug fernübermittelte Signale empfangen kann. Dr. Hermann meldete Dornberger: „Die Versuche sind abgeschlossen und positiv ausgefallen. Die bei Überschallgeschwindigkeit auftretenden Stoßwellen der Luft hindern bei geeigneter Ausbildung des Empfangskopfes den Durchgang der Schallwellen nicht.“((Dornberger 1952, S. 119.))

Die Windkanaltests mit der A-9a, einer Flügelversion der A-4, schufen die Voraussetzungen, dass dieses Gefährt als erstes Flügelflugzeug mit einer Geschwindigkeit von 5000 Kilometer pro Stunde die Schallmauer durchbrach. Dr. Hermann und sein Team mussten dabei versuchen, neben einem annehmbaren Verhältnis des Auftriebes zum Widerstand, d. h. einer guten Gleitzahl, den Flugkörper im ganzen Geschwindigkeitsbereich stabil und steuerbar zu machen. Nach endlosen Zeichnungen und Neuentwürfen fand das Team ein Konzept für das A-9a, das auch getestet wurde. Es war eine Vorstufe des heutigen Space Shuttle.

Schon 1941 begann das Raketenteam damit, einen „Superüberschallkanal“ zu bauen, der Windgeschwindigkeiten bis zu Mach 10 erzeugen würde. Dieses „Projekt A“ sollte für das A-9 bzw. A-10 eingesetzt werden, die größte Rakete auf den Reißbrettern in Peenemünde. Aber weder der Windkanal noch die Großrakete wurden während des Krieges gebaut, denn ihre Entwicklung ließ sich nicht mit einem möglichen militärischen Einsatz rechtfertigen.

Vorstoß in die obere Atmosphäre

In einer Mitteilung des Max-Planck-Instituts für Aeronomie vom 24. November 1988, als diese Forschungsstätte 50 Jahre alt wurde, wird über ein Protokoll berichtet, das am 8. Juli 1942 unterzeichnet wurde, dem Datum, das „als Geburtsstunde der Weltraumerforschung gelten kann“. In dem Protokoll heißt es: „Das A-4 bietet die Möglichkeit, atmosphärische Höhenvermessungen nach neuartigen Methoden auszuführen. Die baldmögliche Durchführung derartiger Untersuchungen liegt nicht nur im Interesse der Forschungsstelle für Physik der Stratosphäre, Friedrichshafen, sondern im Hinblick auf die Gewinnung einwandfreier Berechnungsunterlagen für Flugbahnberechnungen, Erwärmungsfragen, Schusstafeln usw. auch im Interesse der Heeresversuchsanstalt Peenemünde.“

Im Wortlaut des Protokolls drückt sich die Zuversicht der Wissenschaftler in Peenemünde aus, dass der erste Abschuss einer A-4-Rakete in den nächsten drei Monaten glücken werde.

Am 8. Juli 1942, dem Tag, an dem das Protokoll unterzeichnet wurde, besuchte Wernher von Braun Erich Regener in der „Forschungsstelle für Physik der Stratosphäre“, die der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft angegliedert war. Ihn begleiteten Ernst Steinhoff, der in Peenemünde für Instrumente, Lenkung und Messungen verantwortlich war, und Gerhard Reisig, der an Geräten zur Messung von Temperatur und Druck in der Atmosphäre arbeitete.((DeVorkin 1992, S. 30.)) Der Besuch gehörte zu einer Reihe von „Anwerbungsgesprächen“, die die Wissenschaftler aus Peenemünde führten, um Fachleute an den Universitäten zur Mitarbeit an speziellen Problemen der A-4 zu gewinnen.

Dr. Erich Regener, Erfinder der nach ihm benannten Instrumenten-Tonne. Sie sollte in der Spitze der A-4 untergebracht werden und enthielt Messgeräte zur Untersuchung der oberen Atmosphäre. Bild: National Air and Space Museum, Max-Planck-Gesellschaft, Smithsonian Institution, 89-19726
Dr. Erich Regener, Erfinder der nach ihm benannten Instrumenten-Tonne. Sie sollte in der Spitze der A-4 untergebracht werden und enthielt Messgeräte zur Untersuchung der oberen Atmosphäre. Bild: National Air and Space Museum, Max-Planck-Gesellschaft, Smithsonian Institution, 89-19726

David DeVorkin bezeichnet Regener in seinem Buch über die Geschichte der Raumfahrtwissenschaft als „einen der bekanntesten Experimentalphysiker im damaligen Deutschland“.((DeVorkin 1992, S. 26.)) Regener war Direktor des Physikalischen Instituts der Technischen Hochschule in Stuttgart, bis er im Oktober 1937 seinen Posten verlor, weil er zusammen mit Heisenberg, Wien und Geiger ein Memorandum gegen die sogenannte Deutsche Physik unterzeichnet hatte, die nur arische Forscher dulden wollte. Außerdem weigerte er sich, sich von seiner jüdischen Frau scheiden zu lassen. DeVorkin beschreibt Regeners Institut als einen „Anziehungspunkt für jene, die lernen wollten, wie man Ballons baut und aufsteigen lässt, die Spektrographen, Thermographen, Barographen und eine Vielfalt von Geräten zur Messung kosmischer Strahlen in die Stratosphäre tragen“.((Ebenda.))

In den 1930er Jahren ließen Wissenschaftler Ballons in die Stratosphäre aufsteigen, um Aufschluss über grundlegende Fragen der Erdatmosphäre zu bekommen. Warum und wie wirkt die Ionosphäre auf Funk- und andere elektromagnetische Wellen ein? Wie war sie entstanden, wie erhält sie sich und welchen Einfluss hat dabei die Sonnenstrahlung? Welche Windströmungen, welche Wärmeflüsse und elektromagnetischen Eigenschaften der Atmosphäre haben Einfluss auf Wetter und Klima? Wie wirken kosmische Strahlungen?

Besichtigung durch das Heereswaffenamt 1943: Generalmajor Dr. Dornberger (mit dem Rücken zum Bild), im hellen Jacket Dr. Hermann, Leiter des Überschall-Windkanals, vorn mit Blick in die Kamara Wernher von Braun. Bild: Dr. Rudolf Herrmann
Besichtigung durch das Heereswaffenamt 1943: Generalmajor Dr. Dornberger (mit dem Rücken zum Bild), im hellen Jacket Dr. Hermann, Leiter des Überschall-Windkanals, vorn mit Blick in die Kamara Wernher von Braun. Bild: Dr. Rudolf Herrmann

Mit einer stetig verbesserten Flugtechnik hatten Erich Regeners Ballons und Messinstrumente Höhen bis weit über 30 Kilometer erreicht. Außerdem entwickelte er neue Messverfahren. Nachdem er Stuttgart verlassen musste, richtete die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, die noch über regierungsunabhängige Geldquellen – unter anderem vom Luftfahrtministerium – verfügte, Regener in Friedrichshafen eine neue Forschungsstelle für Physik der Stratosphäre ein.

Dort begann Regener Untersuchungen über die Ozonkonzentration in der Atmosphäre und die Umverteilung von Ozon in die untere Troposphäre. 1940 äusserte er, bei einem besseren Verständnis dieser Turbulenzen ließen sich die täglichen Wettervorhersagen verbessern. Mit Messungen in Höhen von 45 bis 90 Kilometern, wo Ballons nicht mehr hingelangten, ließe sich ein vollständigeres Bild der Ozonbewegungen erhalten, doch dazu brauchte man Raketen.((DeVorkin 1992, S. 29.))

Der Vertrag mit Peenemünde verlangte von Regener, Messinstrumente zu bauen, mit denen man Veränderungen der Temperatur, des Druckes und der Dichte in der Atmosphäre in unterschiedlichen Höhen messen konnte. Da die A-4 unbekannte Atmosphärenschichten durchqueren würde, waren Fragen der Erwärmung der Rakete, der Flugstabilität durch Wind und Turbulenzen und der Möglichkeit, den Funkkontakt aufrechtzuerhalten, von großer Bedeutung für die Raketenspezialisten.

Bei einem Testflug der A-4 im Krieg beobachtete Walter Dornberger, dass „das in Sekundenschnelle erscheinende Zickzack des Kondensstreifens der Rakete uns unterschiedliche Windrichtungen und -geschwindigkeiten in aufeinanderfolgenden Luftschichten hatte erkennen lassen… Ich kann mir vorstellen, mit welch ungeheurer Spannung Meteorologen, Physiker und Astronomen der ersten Reise in die Strato- und Ionosphäre entgegensehen würden… Immer wieder baten diese Herren, Versuche mit unseren Raketen machen zu dürfen.“((Dornberger 1952, S. 245 f.))

Am 11. Juli 1942 erhielt Regeners Institut den Vertrag aus Peenemünde zum Bau der Instrumente im Wert von 25.000 Reichsmark. Dazu gehörte auch ein in die Spitze der Rakete passender Behälter (die berühmte Regener-Tonne), worin die Messinstrumente untergebracht werden sollten. DeVorkin sagte dazu: „Wenn er das Problem der Instrumentenverkleinerung, der Absprengung (der Tonne von der A-4), der Entfaltung des Fallschirms beinahe unter Weltraumbedingungen, der sicheren Wasserung des Fallschirms und Bergung der Tonne bewältigen könnte, dann war der Rest – die Instrumente selbst funktionsfähig zu machen – einfach.“((DeVorkin 1992, S. 30.))

Wie eines dieser Probleme angegangen wurde, hat Professor Hans-Karl Paetzold 1988 beschrieben. Paetzold war Fachmann für Optik und wurde im Krieg vom aktiven Militärdienst freigestellt, um an Regeners Projekt mitzuarbeiten. Es galt das Problem zu lösen, dass der Luftdruck in 50 bis 60 Kilometer Höhe nicht ausreichen würde, um den Fallschirm zu öffnen. „Da war es wieder Regener, der eine einfache und witzige Lösung fand“, erinnerte sich Paetzold. „Die Idee: In einen Fallschirm von ungefähr 20 Metern Durchmesser werden sechs, vom Mittelpunkt aus strahlenförmig nach Außen laufende Schläuche eingenäht und mit einem Schlauchring verbunden, der den Rand des Fallschirms begrenzt. Sobald sich die Tonne von der Rakete trennt, durchsticht gleichzeitig eine Nadel eine Membran, so dass automatisch aus einer mitgeführten kleinen Flasche, einem Einliter-Stahlbehälter, Pressluft in die Schläuche strömt, sie aufbläht und damit künstlich auch den Fallschirm entfaltet.“((Max-Planck-Gesellschaft 1988.))

Das Fallschirmsystem wurde noch im Januar 1945 in einer 30 Meter hohen Halle getestet. Paetzold berichtet: „Es war beeindruckend zu sehen, wie sich der große Fallschirm bereits nach 10 Metern Fall ganz geöffnet hatte“.

Das ganze Jahr 1944 über arbeitete man an den Präzisionsinstrumenten und an der Tonne. Es war eine große technische und zeitraubende Herausforderung, die Instrumente so anzuordnen, dass sie auf engem Raum arbeiteten, ohne sich gegenseitig zu stören. Alle Instrumente mussten in der Tonne untergebracht werden und sie musste selbst eine aerodynamisch günstige Form haben. Gleichzeitig arbeiteten die Techniker in Peenemünde 1944 nach wie vor an der Frage, wie sich immer wieder auftretende Explosionen der Rakete während des Flugs verhindern lassen könnten.

Anfang 1945 lief für Regener und die anderen Raketenexperten die Zeit aus. Im Januar liefen erste Evakuierungspläne an. Von Braun ließ Regener und seine Gruppe nach Friedrichshafen umsiedeln, so dass die Regener-Tonne nicht mehr in einem Flugversuch erprobt werden konnte. Sie stellte ein höchst komplexes Forschungsprojekt mit vielen technischen Einzelproblemen dar, „die zu lösen in den USA nach dem Krieg Jahre beanspruchte“.((DeVorkin 1992, S. 37.))

Gegenüber amerikanischen Wissenschaftlern erläuterte Wernher von Braun nach dem Krieg die Aktivitäten in Peenemünde: „Für das Frühjahr 1945 waren Testflüge von einer Insel in der Nähe von Peenemünde aus geplant. Die Messinstrumente steckten in einem wasserdichten Behälter, der schwimmen konnte. Er sollte an einem Fallschirm zu Boden gehen. Alle Vorbereitungen für das Vorhaben waren abgeschlossen, als Kriegsereignisse seine Durchführung verhinderten. Es hätte kurzfristig durchgeführt werden können, da noch einige der A-4-Raketen vorhanden waren.“

Nach dem Krieg wurde das Kaiser-Wilhelm-Institut in Max-Planck-Institut umgenannt, und 1948 wurde Regener zu dessen Vizepräsident gewählt. Die Versuche, die Regener 1945 geplant hatte, fanden dann später in White Sands, Neumexiko, mit A-4-(V-2-)Raketen statt, die von Deutschland nach Amerika verfrachet wurden.

Es ist nicht verwunderlich, dass Antriebsspezialisten von der Weitsicht eines Dr. Walter Thiel auch über die Möglichkeit nachdachten, wie sich die neuesten wissenschaftlichen Entdeckungen, wie die Kernspaltung sie bot, für den Raketenantrieb nutzen ließen, selbst wenn deren praktische Umsetzung noch Jahrzehnte entfernt war. Die wichtigsten Entdeckungen dieses neuen Wissenschaftszweiges waren in Europa gemacht worden. Von 1896 bis zu ihrem Tod 1934 hatte Marie Sklodowska-Curie daran gearbeitet, die Radiochemie zu begründen. Im Jahr ihres Todes entdeckten ihre Tochter Irene Joliot zusammen mit ihrem Mann die künstliche Radioaktivität. Ebenfalls 1934 erklärte die deutsche Radiochemikerin Ida Noddack Widersprüche, die bei den Experimenten Enrico Fermis in Italien auftraten, mit der damals für unmöglich gehaltenen Kernspaltung. Im gleichen Jahr überzeugte die in Wien geborene Lise Meitner ihren Kollegen Otto Hahn am chemischen Institut der Universität Berlin von einem Forschungsprogramm, das fünf Jahre später zum Nachweis der Kernspaltung führte. Als Jüdin musste Lise Meitner 1938 Deutschland verlassen, gerade ein halbes Jahr, bevor Otto Hahn und Friedrich Straßmann ihre Entdeckungen über die Urankernspaltung veröffentlichen konnten. Nach der Entdeckung der Kernspaltung war der Schritt nicht weit, dass Wissenschaftler in Deutschland und in den USA, wohin eine große Gruppe führender europäischer Wissenschaftler geflüchtet war, über die Atombombe und andere Anwendungsmöglichkeiten dieser neuen Energieform nachdachten. Nobelpreisträger Werner Heisenberg, Leiter des Physikalischen Instituts der Universität Berlin, stand an der Spitze des deutschen Bombenprojekts. In Peenemünde erteilte Kommandeur Oberst Zanssen im Oktober 1942 einen Auftrag „mit hoher Dringlichkeit an eine Deckadresse, hinter der sich die Atomforschung verbarg“.((Klee und Merk 1963, S. 102.))

Das Dokument richtete sich an die Forschungsanstalt der Deutschen Reichspost und forderte: „Untersuchung der Möglichkeit der Ausnutzung des Atomzerfalls und der Kettenreaktion zum R-Antrieb“.((Klee und Merk 1963, S. 102.)) Einen Monat später weihte Dr. Walter Thiel den jungen, gerade erst von der Ostfront nach Peenemünde abkommandierten Raumfahrt-Enthusiasten Krafft Ehricke in Heisenbergs Forschungsergebnisse ein.

Ehricke berichtete 1984, dass er den Auftrag gehabt hätte, die Kernspaltungstheorie von Hahn, Strassmann und Fermi sowie die Studien von Heisenberg und Pohl über nukleare Dampferzeugung als Antriebsmethode für ein Raumschiff zu prüfen. Auch wenn man die Kernenergie sicherlich nicht für den Flug Erde-Mond einsetzen würde, so sei sie doch für interplanetare Reisen notwendig. Alle Pläne drehten sich damals um die Vorstellung, die beim Zerfall von Urankernen anfallende Wärme zur Energieerzeugung in einer Dampfturbine zu nutzen.

Zu Ehrickes Lehrern an der Technischen Universität Berlin gehörten vor dem Krieg „der berühmte Physiker Hans Geiger, nach dem der Geigerzähler benannt wurde, und der weltberühmte Kernphysiker Werner Karl Heisenberg“, schreibt Shirley Thomas 1960 in Men in Space. Über die Verwendbarkeit der Kernenergie als Raketenantrieb schrieb Ehricke jedoch: „Ich bin damit nicht sehr weit gediehen, denn die Arbeit auf dem Gebiet der Kernspaltung war in Deutschland viel weniger entwickelt als in den USA.“((Thomas 1960, S. 7.))

Dem entspricht eine Bemerkung General Dornbergers: „Nach 1943 hatten wir mit Prof. Heisenberg Verbindung aufgenommen, um uns über den Stand der praktischen Möglichkeiten zu unterrichten. Er konnte uns keinerlei verbindliche Zusage irgendwelcher Art machen.“((Dornberger 1952, S. 271.))

In einem Interview mit den Verfassern des Buches The Rocket Team erinnerte sich Krafft Ehricke:

„Meine Empfehlungen hinsichtlich des nuklearen Raketenantriebs waren negativ, jedenfalls was schweres Wasser als Moderator und den Gebrauch des Wassers zum Antrieb betraf. Sie waren positiv, wenn man schweres Wasser durch einen festen Moderator ersetzte und statt Wasser auf Wasserstoff oder Methan auswich. Das waren in jenen Tagen noch recht abwegige Vorschläge, aber Dr. Thiel, ein sehr weitsichtiger Mann, stimmte dem zu.

Ende 1944 sah ich Heisenberg. Er versuchte gerade einen mit schwerem Wasser moderierten Reaktor kritisch werden zu lassen. Er sagte mir: ,Natürlich kann man eine Atombombe bauen.‘ Doch dazu benötigt man große Isotopentrennanlagen, die man der Luftüberlegenheit der Alliierten wegen nicht bauen kann. Er dachte, die unmittelbar bevorstehende militärische Anwendung des Kernreaktors läge im Antrieb von U-Booten.“((Ordway und Sharp 1979, S. 58.))

Ehricke schloss zwar die Möglichkeit aus, die Kernspaltung als Wärmequelle zur Dampferzeugung für den Raketenantrieb zu nutzen. Aber er erkannte die Möglichkeit, mit der Wärme Wasserstoff zu beschleunigen, und diese Idee ging in das Grundkonzept des nuklear-thermischen NERVA-Verfahrens (Nuclear Engine for Rocket Vehicle Application, Kernantrieb zur Anwendung in Raketen) ein, das die NASA in den 1960er Jahren entwickelte.

Sonderprojekte in Peenemünde

Die aufregendste Arbeit in Peenemünde fand in der geheimen „Projektengruppe“ statt, wo sich Wernher von Braun am liebsten aufhielt. Hier planten die Wissenschaftler Reisen in Erdumlaufbahnen, zum Mond und zu anderen Sternen.

Die Entwicklung der A-4 hielt sich strikt an die Vorgaben. Sie sollte einen Sprengkopf von etwa einer Tonne doppelt so weit tragen, wie die Pariser Kanone aus dem Ersten Weltkrieg feuern konnten, d. h. rund 250 Kilometer. Praktisch bedeutete das einen Schub von 25 Tonnen. Allerdings dachten die Raketenforscher weit über die A-4 hinaus, als sie den großen Prüfstand VII in Peenemünde bauten. Denn die Anlage war für Standläufe von Raketenmotoren mit einem Schub von 100 Tonnen und mehr ausgelegt.

Noch bevor die erste A-4 überhaupt abhob, plante Ludwig Roths Projektengruppe bereits jene Raumschiffe, von denen von Braun träumte. Die A-9 sollte ein Flügelgleiter sein – der nächste Schritt zum bemannten Raumflug.

Tests im Windkanal von Dr. Hermann hatten 1940 gezeigt, dass sich die Reichweite der A-4 dadurch verdoppeln ließ, dass man sie mit Flügeln ausrüstete. Die A-4b, eine A-4 mit Flügeln, wurde als Zwischenschritt zur transatlantischen A-9 entwickelt und auch getestet. Der A-9-Gleiter war nicht als militärische Waffe geplant worden, auch wenn behauptet wurde, damit New York bombardieren zu wollen. Die doppelte Reichweite der A-4 erreichte das A-9 dadurch, dass sie nach Brennschluss des Motors bis zur Landung nur noch mit Unterschallgeschwindigkeit weiterflog. Der militärische Wert der A-4 lag hingegen gerade in ihrer Überschallgeschwindigkeit, die eine Verteidigung gegen sie praktisch unmöglich machte. Als Waffe hätte das A-9 keine größere Überraschung gebracht als die unter Schallgeschwindigkeit fliegende Lenkbombe V-1.

Als Zwischenstufe zwischen dem A-4 und dem geheimen Gleiter A-9 wurde in Peenemünde ein geflügelter A-4 mit der Bezeichnung A-4b entwickelt und getestet, hier kurz vor dem erfolgreichen Start am 24. Januar 1945. Bild: Dr. Rudolf Hermann
Als Zwischenstufe zwischen dem A-4 und dem geheimen Gleiter A-9 wurde in Peenemünde ein geflügelter A-4 mit der Bezeichnung A-4b entwickelt und getestet, hier kurz vor dem erfolgreichen Start am 24. Januar 1945. Bild: Dr. Rudolf Hermann

In einigen Zeichnungen des A-9 ist an der Stelle des Sprengkopfes eine Druckkabine für eine Besatzung vorgesehen. Es gab auch ein dreirädriges Fahrwerk. Mit einem A-9 hätte ein Pilot in 17 Minuten über 500 Kilometer zurücklegen können. Sie wäre wie die A-4 senkrecht gestartet, aber im Gleitflug auf einer mittelgroßen Landebahn gelandet. Als nächsten Schritt sah die Projektengruppe vor, das geflügelte A-9 mit einem neuen, viel größeren Antriebsaggregat, der A-10, zu verbinden. Diese Rakete hätte einen Schub von 200.000 Kilogramm, das Zehnfache der A-4, besessen.

Dr. Rudolf Hermann in den achtziger Jahren in seiner Wohnung in Huntsville, Alabama. Bild: Dr. Rudolf Hermann
Dr. Rudolf Hermann in den achtziger Jahren in seiner Wohnung in Huntsville, Alabama. Bild: Dr. Rudolf Hermann

Setzte man die bemannte A-9 als zweite Stufe auf eine A-10, ergäbe sich daraus ein transatlantisches Überschallraketenflugzeug. Nach von Brauns Plänen folgte dann die A-11 als Starttriebwerk einer dreistufigen Kombination. Diese Rakete aus A-11, A-10 und A-9 würde eine Umlaufbahn um die Erde erreichen können, und der Mensch hätte zum ersten Mal die Möglichkeit, im Weltraum zu leben und zu arbeiten.

Bei den Verhören durch eine Gruppe amerikanischer Techniker und Militärs nach der Kapitulation berichtete von Braun, dass die A-10 auch in eine geflügelte oberste Stufe hätte umgewandelt werden könnte. Die A-11 diente dann als zweite Stufe auf einem noch größeren Startaggregat, der A-l2, die 12.800 Tonnen Schub entwickeln sollte. Ein solches Fahrzeug hätte nicht nur einen Menschen, sondern zusätzlich 30 Tonnen Nutzlast in eine Erdumlaufbahn bringen können. „Es hätte ganze Mannschaften mit nennenswerten Mengen von Material in den Raum schleppen können. Eine Anzahl solcher Schiffe hätte einen regelmäßigen Pendelverkehr zur Umlaufbahn unterhalten können, und der hätte es erlaubt, dort eine Raumstation zu errichten.“((Von Braun 1956, S. 145.))

In Stuhlingers kürzlich erschienener Biographie von Brauns findet sich die Erinnerung Adolf Thiels, eines seiner frühen Mitarbeiter:

„Die A-4b, eine geflügelte Einstufenrakete, hätte eine Reichweite von 450 Kilometer gehabt. Eine vergrößerte Zweistufenkombination, das A-9/A-10 hätte 3000 Kilometer schaffen können. Unsere Untersuchungen beschäftigten sich aber nur mit aerodynamischen Aspekten; an Antrieb, der Konstruktion, Lenksystem, thermischer Analyse etc. wurde nicht gearbeitet…

Wir versuchten, weit in die Zukunft zu sehen, und erklärten 1944, dass Mehrstufenraketen die Einrichtung von Raumstationen in Erdumlaufbahnen erlauben würden und dass aus dem All zurückkehrende Gleitraketen in der Lage sein würden, ihre kinetische Energie über eine lange Flugstrecke zu reduzieren und daher sicher auf der Erde zu landen. Unsere Untersuchungen bezogen sich nur auf die Raumfahrt, nicht auf Waffen. Von Braun stimulierte und ermutigte uns zu diesen Studien. Er war überzeugt, dass sie seinen Hoffnungen auf künftige Raumfahrtunternehmen dienlich sein würden.“((Stuhlinger und Ordway 1992, S. 74.))

In einem Gespräch im Jahr 1983 beschrieb Rudolf Hermann die wissenschaftliche Arbeitsatmosphäre in Peenemünde: „Wernher hatte auch ein Cello, auf dem er mit Begeisterung spielte. An so manchem Abend konnte man die Klänge eines Haydn- oder Mozart-Quartetts hören: Wernher spielte Cello, Gerhard Reisig Viola, Heinrich Ramm und ich Violine“.

„Haben Sie in jenen Tagen auch manchmal über Raketenflüge in den Weltraum gesprochen?“ wurde Hermann gefragt.

„Ständig“ war seine knappe und überzeugende Antwort. „Wir haben uns die ganze Zeit über Raumfahrt unterhalten. Wernher war voller Ideen über Mondflüge, über Satelliten mit Teleskopen und Sendern, eine riesige Raumstation und eine bemannte Expedition zum Mars. Unsere große A-4-Rakete war für ihn nur ein erster Schritt auf dem Weg zur Weltraumrakete der Zukunft. Im Februar 1938 beschlossen wir, Fastnacht zu feiern und organisierten einen Maskenball unter dem Thema ,Fastnacht auf dem Mars‘.“((Stuhlinger und Ordway 1992, S. 79.))

„Dabei trat eine Marsgöttin mit ihrem Hof auf, die von Raumfahrern von der Erde besucht wurde. Der ,Professor emeritus‘ von Braun mit weißem Bart informierte jeden und alle, er sei der Wikingervagabund des Weltraums, der zum kurzen Zwischenhalt auf den roten Planeten gekommen sei.“((Ordway und Liebermann, 1992 S. 113.))

„Wurde in der Zeit zwischen 1937 und 1938 jemals über die Möglichkeit eines Krieges gesprochen?“, wurde Dr. Hermann weiter gefragt.

„Niemals“ antwortete er. „In den Jahren 37/38 dachten wir nicht an Krieg, wir hatten überhaupt nicht mehr an die Möglichkeit eines Krieges geglaubt. Als das furchtbare Gespenst bedrohliche Form annahm, bereitete uns das mehr und mehr Sorge. Jeder hatte das Gefühl, dass es unsere Möglichkeiten weit überstieg, diese Ereignisse zu beeinflussen.“((Stuhlinger und Ordway 1992, S. 80.))

Mit welchen Motiven folgten die Wissenschaftler von Braun in das Raketenprogramm des Heeres? Dazu schrieb Krafft Ehricke 1960:

„Die Behauptung, es habe zwischen der Raketenentwicklung in Peenemünde und den luftigen Raumfahrtidealen eine grundsätzliche Verbindung gegeben, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg oft als fromme Geschichte angezweifelt. Die Peenemündegruppe habe sich das in den Vereinigten Staaten zurechtgelegt. Es gab in Peenemünde, wie in jedem anderen Team, das an Geschossen arbeitet, viele Ingenieure, die kein besonderes Interesse an der Raumfahrt hatten. Aber es kann keinen Zweifel geben, dass es in Peenemünde einen inneren Kreis gab, der sich ganz der Raumfahrt widmete und ihr Ziel und Zweck in der Geschossentwicklung sah.

Der Verfasser kann das bezeugen, denn er war einer von ihnen. Als er nach Peenemünde kam, erklärte ihm General Dr. Dornberger, er stimme voll mit den Idealen der Raumfahrtpioniere überein, dass aber die gegebene Situation, auf die das Peenemünde-Team keinen Einfluss habe, verlangt, mit größter Konzentration an den unmittelbar vor uns liegenden Problemen zu arbeiten. Einige davon müssten in jedem Fall gelöst werden. Viele Wissenschaftler und Ingenieure, die nach 1945 an der Entwicklung von Raketenwaffen beteiligt waren, werden es sich heute zugute halten, dass sie die Raumfahrtechnik weitergebracht hätten. Genau das tat das Peenemünde-Team vor 17 Jahren, als im Herbst 1942 die erste V-2 in den Raum aufstieg.“((Ehricke 1960b, S. 35–36.))

Welche Motive hatte die Wehrmacht? Vom Beginn im Jahr 1929 an und auch nach Hitlers Machtergreifung bis zum Ende des Krieges stellte die Wehrmacht immer wieder eindeutig klar, dass sie weitreichende Raketen nur zu dem Zweck entwickele, die Feuerkraft der Truppe bei drastisch verringerter Mannschaftsstärke zu erhöhen. Dass Hitler und die führenden Nationalsozialisten eine völlig andere Vorstellung von der Rolle der Raketen hatten, werden wir im nächsten Kapitel zeigen. Wie aber die früheren Peenemünder und ehrliche Historiker immer wieder herausgestellt haben, „brachte Hitler für die A-4 nicht einmal Interesse auf“.((Ley 1957a, S. 211.))

Die A-4 war die Rakete, „die später als V-2 bekannt wurde. Alle Zeitungen der Alliierten, wenigstens alle englisch schreibenden, bezeichneten sie in wunderschöner Einmütigkeit ,Hitlers Rakete‘. Erst nach dem Krieg konnten die Leute erkennen, welcher Namensmissgriff das war“, fuhr Ley fort.

Dornberger, der erlebt hatte, wie zahlreiche hochrangige und selbständig denkende Armeeoffiziere von Hitler entlassen wurden, vor allem auch den Selbstmord von General Becker nach einem „Streit“ mit Hitler, schrieb 1964: „Ich würde gerne einen Irrtum richtig stellen, nämlich den, die V-2 sei Hitlers teuflische Idee gewesen und zu dem Zweck entwickelt worden, um die Welt zu erobern. Bis 1943 hatte Hitler absolut nichts mit dem Raketenprogramm zu tun. Hitler sah die A-4 nie, außer im Film, er war auch nie in Peenemünde gewesen. Er hatte einfach kein Interesse daran.“((Emme 1964, S. 32.))

Die Wissenschaftler und Ingenieure von Peenemünde haben eine ganz neue Technik geschaffen – die Raketentechnik. Dies gelang, weil die besten wissenschaftlichen Köpfe in Deutschland dazu herangezogen wurden und nach einer wissenschaftlichen Methode arbeiteten, die Jahrhunderte zurückreichte. Nur aufgrund ihrer Erfolge konnte Hitler während eines immer absurder werdenden Krieges in einem letzten verzweifelten Versuch überhaupt auf die A-4-Raketen zurückgreifen, um die drohende Niederlage noch abzuwenden.