Krafft Ehrickes Extraterrestrischer Imperativ

„Wissen ist das wichtigste Werkzeug von morgen… Das Leben für die Wissenschaft ist das spannendste und aufregendste Leben, das man sich vorstellen kann. Durch Forschen und Entdecken leistet man einen Beitrag für die Menschheit, denn man begreift einen Ausschnitt von der Arbeitsweise der Natur, den man weder selbst noch irgendjemand anderes vorher verstanden hatte.“((Thomas 1960, S. 1.))

Krafft A. Ehricke, von dem dieses Zitat stammt, war einer der beeindruckendsten Menschen dieses Jahrhunderts. Den Fußstapfen seines geistigen Ziehvaters Hermann Oberth folgend widmete er sich ganz der Astronautik, die er zu einer Perspektive ausweitete, wonach die Menschheit nicht nur Erde und Mond erkunden, sondern das ganze Sonnensystem besiedeln könnte. Er war wie Wernher von Braun ein rastloser Verfechter, Propagandist und Förderer der Weltraumforschung und ein unerbittlicher Verteidiger der Wahrheit auch dort, wo sie unbequem war. Wie Willy Ley hatte er sich ein breites Wissen auf fast allen Gebieten der Naturwissenschaft erworben, aber vor allem interessierte ihn die Entwicklung des Lebens und der Biosphäre insgesamt.

Die Besiedlung des Weltalls durch den Menschen ergab sich für Ehricke aus der Evolution. Das eigentliche Ziel des Lebens sah er vor allem in der Fähigkeit, Krisen, die entropisch bedingt in jeder Periode der Erdgeschichte auftreten, negentropisch zu überwinden. In diesem Sinne eröffnete das Raumfahrtzeitalter dem Menschen zum ersten Mal in seiner Geschichte die Möglichkeit, seine zweidimensionale Lebensweise auf der Erde durch eine drei- und vierdimensionale Zivilisation, die mehrere Planeten umfasst, zu erweitern.

Der Raumfahrtvisionär und -pionier Krafft Ehricke (1917–1984).
Der Raumfahrtvisionär und -pionier Krafft Ehricke (1917–1984).

Wer ihn persönlich kannte, war stets angetan von der Liebenswürdigkeit und Großzügigkeit, die Krafft Ehrickes langes Arbeitsleben durchzog. Seine Arbeit bedeutete einen deutlichen Einschnitt in der Wissenschaft und Technik der Weltraumerforschung, und wir täten gut daran, seine Visionen zur Erkundung des Weltraums weiter zu verfolgen.

Geboren wurde Krafft Ehricke am 24. März 1917 in Berlin. Im Alter von 12 Jahren sah er Fritz Langs Film Frau im Mond, der ihn so beeindruckte, dass er ihn sich wohl ein Dutzend Mal anschaute. Der Film brachte ihm eine „technologische Erleuchtung“ und sollte seinem weiteren Leben die Richtung weisen. „Vor dem Weihnachtsfest 1929 überreichte Krafft seiner Mutter einen Wunschzettel – Bücher über Astronomie, Flugmechanik und Antriebstechnik.“((Thomas 1960, S. 2.))

Später hörte er von den Aktivitäten des Vereins für Raumschiffahrt in Berlin. Da er erst 14 Jahre alt war, konnte er noch nicht Mitglied werden. „Ich stand einfach herum“, erinnerte sich Ehricke. „Ich war äusserst interessiert, aber das war auch alles, was ich beitragen konnte.“ Deshalb begann er zu lesen und zu studieren, entwarf Raumschiffmodelle und schrieb Artikel für technische Zeitschriften.((Chapman 1960, S. 169.))

Beide Eltern waren Zahnärzte. In ihrer Praxis fand Krafft das nötige Material und Werkzeug, um sich zerfurchte, mit Kratern übersäte Mondlandschaften zu formen. In den Schriften des belgischen Physikers Josef Antoine Plateau lernte er, „wie man in einer Flüssigkeit eine Kugel erzeugt. Er goß Öl ins Wasser und setzte es mit Hilfe einer Stricknadel in Drehung, bis sich das Öl im Wasser zu einer Kugel formte. Wenn er nun das Öl schneller drehte, spalteten sich kleine Kugeln ab; genau so könnte sich während der Erdgeschichte unser Mond gebildet haben.“((Thomas 1960, S. 3.))

Als nächstes beschaffte er sich ein Fernrohr. „Seine erste Vorlesung über Astronomie las er im Wartezimmer seiner Mutter vor einer begeisterten Zuhörerschaft. Keiner seiner Zuhörer, die 10 Pfennige Eintritt bezahlen mussten, ging enttäuscht nach Hause.“((Thomas 1960, S. 4.))

1938 gründete Krafft Ehricke zusammen mit Franz Kaiser die „Gesellschaft für Weltraumforschung e.V.“ (GfW) und schrieb auch während des Krieges Beiträge für das Verbandsorgan Der Weltraum. In Berlin besuchte er dann die Technische Universität und machte seinen Zwischenabschluss im Hauptfach Luftfahrttechnik. Er hörte unter anderem bei Hans Geiger und Werner Heisenberg. 1940 unterbrach seine Einberufung zum Militär sein Studium. Nach der Grundausbildung wurde er einer Panzereinheit in Nordfrankreich zugeteilt. Bei der Räumung Dünkirchens kam es zu einem schweren Unfall, als Krafft Ehricke von einem Panzer erfasst wurde und einen mehrfachen Beinbruch erlitt. Während des Genesungsurlaubs konnte er sein Studium in Berlin fortsetzen.((Chapman I960, S. 170.))

1941 wurde er als Kommandant einer Panzergruppe an die Ostfront verlegt. Zwei raketentechnische Patente, die er zuvor angemeldet hatte, erweckten aber bald die Aufmerksamkeit der Armeedienststellen, so dass er 1942 von der Front weg nach Peenemünde abkommandiert wurde. „Später erfuhr er, dass der Rest seiner Panzergruppe an der russischen Front aufgerieben worden war.“((Chapman 1960, S. 701.))

Über seine Arbeit in Peenemünde bemerkte Ehricke:

„Ich wurde Dr. Walter Thiel, dem Leiter der Entwicklungsabteilung für Strahltriebwerke, zugeteilt. Aber ich war nicht sehr darauf erpicht, mich auf einem gepolsterten Bürostuhl niederzulassen. Daher bin ich Dr. von Braun und Dr. Thiel für immer dankbar, dass sie mich davor bewahrt haben. Sie gaben mir zunächst Gelegenheit, mit einem Universalschraubenzieher auf dem Prüfstand zu arbeiten. Auf diese Weise konnte ich mich gründlichst mit dem Gerät vertraut machen, bevor ich über Verbesserungen theoretisierte. Genauso hatten die beiden schließlich selbst angefangen. Sie waren persönlich das beste Anschauungsbeispiel, dass sich praktische Erfahrung auszahlt.

In den letzten Jahren bin ich immer häufiger jungen Ingenieuren begegnet, die gleich als Experten angefangen haben, ohne jemals ehrliche Entwicklungsarbeit auch nur an einer einzigen Komponente geleistet oder sich die Hände an einem Werkstück schmutzig gemacht zu haben. Diese Leute tun mir aufrichtig leid, denn sie haben eine wunderbare Erfahrung versäumt, die sich ihnen später, wenn sie erst zu Rang und Verantwortung gekommen sind, nicht mehr wieder bieten wird.“((Thomas 1960, S. 7.))

In Peenemünde untersuchte Ehricke im Auftrag Dr. Thiels, ob und wie sich die neuentdeckte Kernenergie für den Raketenantrieb verwenden ließ.

Nach dem Krieg gehörte er aber nicht zu der ersten Gruppe von Raketenspezialisten, welche durch „Operation Paperclip“ in die USA kamen, da er seine Frau Ingeborg in den Kriegswirren aus den Augen verloren hatte. Bevor er sie nicht in Berlin gefunden hätte, wollte er nicht in die USA aufbrechen. In einem dreißigtägigen Fußmarsch gelangte er von Bayern nach Berlin und fand seine Frau schließlich wohlbehalten, aber in ärmlichsten Verhältnissen lebend.((Thomas 1960, S. 8.))

Erst 1947 schloss sich Ehricke den anderen Raketenexperten in Fort Bliss in Neumexiko an. Er übernahm die Aufgabe, Fachleute aus dem US-Militär und der Industrie mit Fragen der deutschen Raketenentwicklung und speziell mit der V-2 vertraut zu machen. Außerdem betrieb er theoretische Studien.

Als die Raketenpioniere aus Deutschland nach Huntsville umzogen, wurde er Leiter der Abteilung für Gasdynamik im Redstone-Arsenal, dem Testgelände der Armee. Er arbeitete an Verbesserungen des Staustrahlantriebs im Überschallbereich und an besonderen Fragen der Wärmeübertragung.

Aber Krafft Ehricke fühlte sich zunehmend unwohl in Huntsville und war vor allem unbefriedigt mit von Brauns konservativer Technikauffassung. Als sein Arbeitsvertrag bei der Armee 1952 auslief, verließ er mit einigen anderen von Brauns Team und wechselte in die entstehende Verteidigungs- und Luftfahrtindustrie über, zunächst zu Bell Aircraft.((Sloop 1978, S. 194.)) Einer der Gründe für Krafft Ehrickes Trennung von Wernher von Braun könnte auch sein, dass die beiden Männer einander zu ähnlich waren. Ihre grenzenlose Tatkraft, ihr unermüdlicher kreativer Geist und ihre Zielstrebigkeit verhinderte wohl, dass sie auf Dauer in einem Team zusammenarbeiten konnten.

1957 veröffentlichte Krafft Ehricke eine Anthropologie des Raumfluges, worin er philosophische Betrachtungen über die Aufgaben des Menschen im Weltall anstellt. Darin heißt es: „Astronautik ist die Wissenschaft vom Verhalten im All und den Reisen zu anderen Welten. Sie hat weitreichende Auswirkungen. Daher wird es heute zunehmend wichtiger, neben den Nützlichkeitserwägungen dieser Wissenschaft auch ihre Philosophie und Ethik zu entwickeln.“

Weiter schrieb er:

„Die Philosophie des Raumfluges ist jung und fruchtbar. Ihre unzähligen Auswirkungen sind noch längst nicht erschöpft. Aus diesem Grunde äussert der Autor hier, nachdem er sich seit über 20 Jahren mit dem Studium und der Verteidigung der Raumfahrt als einer ebenso technischen wie kulturellen Aufgabe befasst hat, einige zusätzliche Gedanken zu diesem Thema. Das Konzept vom Weltraumflug hat eine so beträchtliche Tragweite, dass es den Menschen auf nahezu allen Gebieten seiner physischen und geistigen Existenz herausfordert. Die Vorstellung, zu anderen Himmelskörpern zu reisen, spiegelt in hohem Maße die Unabhängigkeit und Beweglichkeit des menschlichen Geistes wider und verleiht seinen technischen und wissenschaftlichen Unternehmungen die höchste Würde. Darüber hinaus berührt sie die Grundlagen des menschlichen Daseins. Infolgedessen hält sich das Konzept der Raumfahrt nicht an nationale Grenzen, kennt keine geschichtlich und ethnisch bedingten Unterschiede und durchdringt die Faser einer soziologischen oder politischen Überzeugung so schnell wie die der nächsten. Die Weltraumfahrt birgt vielleicht die größte Anziehungskraft unserer komplizierten und aufgeteilten Welt… Gelingt hier [die Zusammenarbeit], dann gelingt sie vielleicht auch in anderen Bereichen unseres Lebens, in die sich der Mensch scheinbar hilflos und ausweglos verrannt hat. Alle, die sich mit Raumfahrt und Astronautik beschäftigen, erfasst ein Gefühl von Begeisterung und aufrichtigem Interesse: Schulkinder, die sie kennenlernen, Parlamentarier, die das Geld dafür bewilligen, die politisch Verantwortlichen in Ost und West, die die Beiträge ihrer Nationen zu ihrem Fortschritt loben, und schließlich Wissenschaftler und Ingenieure, die ihrer Verwirklichung die Bahn brechen.“((Ehricke 1957b, S. 26.))

Er fasst seine Philosophie der Weltraumfahrt in drei Grundsätzen zusammen:

„Erster Grundsatz: Niemand und nichts setzt dem Menschen unter den Naturgesetzen des Universums irgendwelche Grenzen, außer der Mensch selbst.

Zweiter Grundsatz: Nicht nur die Erde, sondern das gesamte Sonnensystem und das Universum, soweit der Mensch sie unter Ausnutzung der Naturgesetze erreichen kann, sind sein rechtmäßiges Betätigungsfeld.

Dritter Grundsatz: Wenn sich der Mensch über das Universum ausbreitet, erfüllt er seine Bestimmung als Teil des Lebens, ausgestattet mit der Kraft der Vernunft und der Weisheit des ihm innewohnenden moralischen Gesetzes.

Der erste Grundsatz ist die Herausforderung der Raumfahrt an die Menschheit, ihre Unabhängigkeitserklärung vom A-priori-Denken, von unkritisch hingenommenen Lebensbedingungen zu schreiben, oder in anderen Worten, sich von einer vergangenen und prinzipiell verschiedenen, vortechnischen Welt, die ihm nachhängt, zu befreien. Das ist möglich. Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika und die Verfassung dieses Landes beweisen es.“((Ehricke 1957b, S. 26 f.))

Nachdem sich das Leben in den Ozeanen entwickelt, dann auf das Land ausgebreitet und sich mit den Säugetieren

„die angepasstesten und vielseitigsten Landtiere entwickelt hatten… sah sich das (menschliche) Leben der Grenze zum All gegenüber. Es gibt keine biologischen Organe, die es Lebewesen erlauben, ins All vorzudringen und es zu durchqueren. Es ist höchst faszinierend, sich vorzustellen, das Leben könnte diese Herausforderung dadurch beantwortet haben, dass es eine neue Amphibie – den Menschen – hervorgebracht hat, dessen ruheloser Geist über die Schranken seiner biologischen Lebenswelt hinausdrängt. Nur das menschliche Gehirn kann sich gewisse überlegene Eigenschaften der anorganischen Materie zunutze machen, um ins All vorzudringen… Es ist eine historische Tatsache, dass der Geist des Menschen mit dem Raum wächst, worin ihm zu wirken gestattet ist. Die Bedeutung des zweiten Grundsatzes bemisst sich an den Wirkungen auf die Entwicklung der Zivilisationen, die von der Ausbreitung des Europäers über die Erde ausgegangen sind… Wir sind heute nur die Schiffbauer für die Männer und Frauen, welche in ein neues Zeitalter der Entdeckungen eintreten und die Grundlagen für jene schaffen, die nach ihnen kommen werden, die die Erfinder einer interplanetarischen Technologie zur Schaffung kosmischer Zivilisationen sein werden. Der dritte Grundsatz bezieht sich auf den anthropologischen Charakter der Weltraumaktivitäten… Er verkündet das natürliche Recht des Menschen, all jene Teile des Universums, die er erreichen kann – unabhängig davon, ob dort schon intelligente Wesen leben oder nicht – zu erkunden und mit menschlichem Geschick und Weisheit zu befruchten.“((Ehricke 1957b, S. 26 f.))

„Wir müssen realistisch sein“, schreibt er, „aber es gibt eine falsche Art von Realismus, eine ängstliche und statische, die dem Menschen einreden will, dass er um des bloßen Überlebens willen lebt und sich keinesfalls in Gefahr begeben dürfe. Wir brauchen eine andere Art von Realismus, einen Realismus der Vision, den Realismus eines Kolumbus, unserer amerikanischen Verfassung, eines Benjamin Franklin, eines Albert Einstein, den Realismus eines Konstantin Ziolkowski und eines Hermann Oberth.“((Ebenda.))

Neue Raumfahrzeuge

Im Rahmen seiner raumfahrtprogrammatischen Arbeiten entwickelte Ehricke 1952 seine Idee, zwei verschiedene Arten von Raumschiffen für bemannte Missionen zu bauen – eines für die Besatzung und ein zweites für die Ausrüstung. Zu dem Zeitpunkt war er bei Bell Aircraft in Buffalo stellvertretender Projektleiter für Gleitraketen und arbeitete mit seinem früheren Vorgesetzten aus Peenemünde, Walter Dornberger, zusammen. Sie analysierten die Eigenschaften eines wiederverwendbaren Orbitalraumfahrzeugs, welches bei den Planungen der Luftwaffe für den Dynasoar eine wesentliche Rolle spielte.((Spaceflight 1974, S. 437.)) Seine Berechnungen für ein solches geflügeltes Raumfahrzeug knüpften direkt an seine Arbeiten an der geflügelten A-4 in Peenemünde an.

Alle Pläne für bemannte Raumfahrtmissionen gingen bis dahin von der Annahme aus, die Mannschaft würde ihre gesamte Ausrüstung an Bord mitführen. Aber ein bemanntes Raumschiff benötigte einen geflügelten Gleiter zur Landung auf der Erde, Systeme zur Aufrechterhaltung der Lebensbedingungen und weitere Sicherheitsvorrichtungen. Kämen dann noch weitere Lasten hinzu, wäre das Raumfahrzeug zu schwer.

In reinen Lastraumschiffen brauchte man alle diese Systeme nicht. Wenn man also Mannschaft und Nutzlast trennte, könnte jedes Fahrzeug für seine spezielle Funktion ausgelegt und viel leichter sein. Diesen Vorschlag Ehrickes, Mannschaft und Gerät in zwei Fahrzeugen getrennt zu befördern, nahm Wernher von Braun in seinem Plan für das Marsprojekt auf.

1954 entwickelte Ehricke in einem Papier die Idee, dass man Nutzlasten, die mit unbemannten Lastraketen von der Erde kommen, mit Hilfe kleiner Raumfähren zur Raumstation transportieren könnte. Zwei Jahre später verbesserte er seinen Plan, so dass nun das unbemannte Versorgungsschiff von einer vierköpfigen Besatzung in mehreren Raumspaziergängen entladen würde.

Ein bemanntes Raumfahrzeug könnte nach Berechnungen Ehrickes etwa 600 Kilogramm Last aufnehmen, d. h. die Mannschaft, die lebenserhaltenden Systeme und den geflügelten Gleiter für die Rückkehr zur Erde. Eine etwa gleichgroße Rakete könnte ebenfalls 600 Kilogramm Nutzlast befördern, zum Beispiel die Lebensmittel und den Wasservorrat für etwa 30 Tage.

Abbildung 10.1: Krafft Ehrickes Entwurf einer Nutzlastrakete. Nach Ehricke ließ sich die Raumfahrt dadurch effektiver machen, dass man unterschiedliche Spezialraumschiffe für den Güter- und Personentransport sowie den Fährdienst entwickelte. Hier die Zeichnung einer Großrakete, um Nutzlast zum Bau und zur Ausrüstung einer Raumstation zu befördern. Quelle: Krafft A. Ehricke, „A New System for Satellite Orbits – Part 2“ (Jet Propulsion Vol. 24, No. 6 November/December 1954)
Abbildung 10.1: Krafft Ehrickes Entwurf einer Nutzlastrakete. Nach Ehricke ließ sich die Raumfahrt dadurch effektiver machen, dass man unterschiedliche Spezialraumschiffe für den Güter- und Personentransport sowie den Fährdienst entwickelte. Hier die Zeichnung einer Großrakete, um Nutzlast zum Bau und zur Ausrüstung einer Raumstation zu befördern. Quelle: Krafft A. Ehricke, „A New System for Satellite Orbits – Part 2“ (Jet Propulsion Vol. 24, No. 6 November/December 1954)

Die Weltraumstation hatte nach Auffassung Ehrickes den einzigen Zweck, von hier aus Reisen ins All zu unternehmen. Für ihren Bau entwickelte er einen größeren Lastenträger, der etwa 5500 Kilogramm Nutzlast befördern sollte (Abbildung 10.1). Die ausgebrannten Treibstofftanks dieser Rakete blieben als Bauteile für die Weltraumstation im Orbit. Zum Bau einer Weltraumstation wären 47 solcher Frachtflüge nötig. Um ein Raumschiff für die Umrundung des Mondes zusammenzubauen und auszurüsten, wären nach seinen Berechnungen 50 Flüge der großen Lastrakete nötig.

1959 entwickelte Krafft Ehricke ein weiteres Spezialraumschiff, ein „Sekundärfahrzeug“ bzw. eine „Rettungsboot-Rakete“, die eine bemannte Mission zum Mars begleiten sollte. Ehricke schreibt darüber:

„In den Jahren 1947 und 1948 analysierte der Autor bei der Vorbereitung eines Romans verschiedene Marsmissionen mit bemannten Raumschiffen. Der Wunsch nach dramatischen, aber realistischen Ereignissen ließ ihn mögliche Schwierigkeiten, technische Versagen und Unfälle einer solchen Reise genauer untersuchen, als nur von der Annahme auszugehen, dass alles glatt verlaufen würde.“((Ehricke 1960c, S. 505.))

Bei einem ernsten Zwischenfall würde ein „Schwesterschiff“ zur Rettung gebraucht. Um die Besatzung einer Raumstation im Orbit notfalls jederzeit zurückholen zu können, genügte es, wenn auf der Erde Rettungsraketen startklar wären. Aber bei einer Reise in Millionen Kilometer entfernte Gefilde könnte nur ein Begleitfahrzeug Entsatz bieten. Von der Erde aus könnte allenfalls eine Rettungsrakete einem in Marsnähe in Schwierigkeiten geratenen Raumschiff zu Hilfe kommen, wenn sie über einen nuklearen Antrieb verfügte und eine direkte Flugbahn gewählt werden könnte.((Ehricke 1960c, S. 520.))

In etwas dramatischer Art sagte Ehricke später: „Wir wollen vermeiden, einmal sagen zu müssen: ,Nun, das war einfach Pech‘, und die Angehörigen mit einem großen Scheck von der Versicherung dafür abfinden, dass ihre Nächsten auf irgendeiner exzentrischen Flugbahn zwischen Mars und Jupiter dahintrudeln. Wir wollen sie zurückbringen können.“((Grey und Grey 1962, S. 56.))

Später erweiterte Ehricke die Familie seiner Sonderraumfahrzeuge um einige unbemannte, interplanetarische Raumsonden. Anstatt ein oder zwei große Allzweckraumschiffe loszuschicken, sollte nach Ehrickes Ansicht lieber eine Reihe kleiner Experimentsonden ausgesendet werden, von denen jede für eine spezielle Aufgabe ausgelegt sei. Dies würde es auch erlauben, möglichst viele Nationen an der wissenschaftlichen Erforschung des Weltalls zu beteiligen, so argumentierte er vor den Vertretern der Internationalen Astronautischen Föderation im Oktober 1968. Nach diesem Konzept würde eine gesonderte Beobachtungssonde die Ergebnisse der verschiedenen Experimentsonden auswerten, zusammenfassen und zur Erde übermitteln.

Die Centaur

Wie bereits in früheren Kapiteln erwähnt, gab es von den ersten Tagen der Raumfahrt an eine Auseinandersetzung darüber, mit welchem Brennstoff Raketen angetrieben werden sollten. 1947 bat Wernher von Braun Krafft Ehricke, einen Bericht Richard D. Canrights vom Jet Propulsion Laboratory in Pasadena über die relative Bedeutung von Ausströmgeschwindigkeit und Treibstoffdichte bei der V-2 und größeren Raketen zu prüfen. Canrights Untersuchungen zeigten nämlich, dass bei einigen größeren Raketen die Ausströmgeschwindigkeit (höher mit Wasserstoff) wichtiger sei als die Treibstoffdichte (größer bei Ölderivaten oder Raketentreibstoffen), weswegen flüssiger Wasserstoff bei einigen Anwendungen besser geeignet sei.

Da flüssiger Wasserstoff erhebliche Handhabungs- und Materialprobleme bereitet, fand daher von Braun, dass Treibstoff auf Kerosinbasis für militärische Systeme, wie er sie für die US-Armee entwickelte, geeigneter seien. Krafft Ehricke blickte weiter, „denn er war weniger eingeengt in seinem Denken und behielt die Möglichkeiten des Wasserstoffs immer im Kopf“.((Sloop 1978, S. 192.))

Bei seinen Planungen für Die Marsmission verwarf von Braun den Einsatz von flüssigem Wasserstoff. „Ich mag Wasserstoff nicht. Er ist eine Erfindung des Teufels!“, hatte er Hermann Koelle geschrieben. „Ihn schreckten die zu vielen technischen Probleme“, erklärte Koelle. „Die Alternative war, etwas größere Raketen zu bauen. Er dachte, es sei leichter, die Raketen größer zu bauen, als sie mit Wasserstoff zu betreiben.“

In einer umfangreichen Studie bestätigte Ehricke von Brauns Ansicht, dass Wasserstoff für suborbitale Starts kein optimales Antriebsmittel sei. Allerdings bestätigte er auch Oberths frühere Annahme, Wasserstoff/Sauerstoff-Gemische und andere energiereiche Treibstoffe eigneten sich besonders für die oberste Raketenstufe, um Sonden zu anderen Planeten oder Menschen auf den Mond zu bringen.

Die mit Wasserstoff betriebene Centaur-Oberstufe wurde bei vielen Raumfahrtmissionen der USA eingesetzt. Hier sitzt die Centaur-Oberstufe auf einer Titanrakete. Diese Rakete brachte die Viking-Sonde auf den Kurs zum Mars, wo ein Orbiter und eine Landungssonde erstmals Nahaufnahmen des Roten Planeten lieferten. Bild: NASA, Marshall Space Flight Center
Die mit Wasserstoff betriebene Centaur-Oberstufe wurde bei vielen Raumfahrtmissionen der USA eingesetzt. Hier sitzt die Centaur-Oberstufe auf einer Titanrakete. Diese Rakete brachte die Viking-Sonde auf den Kurs zum Mars, wo ein Orbiter und eine Landungssonde erstmals Nahaufnahmen des Roten Planeten lieferten. Bild: NASA, Marshall Space Flight Center

Wie Oberth und Ziolkowski aufgrund theoretischer Überlegungen gefordert hatten, sind Raketen am leistungsfähigsten, wenn sie in Stufen gebaut werden. Wenn eine Antriebsstufe ausgebrannt ist, wird sie abgesprengt und verringert dadurch das Gesamtgewicht der Rakete. Dann zündet die Antriebseinheit der zweiten Stufe. Die erreichte Geschwindigkeit ergibt sich aus der Summe der bei Brennschluss der ersten Stufe erzielten Geschwindigkeit und dem zusätzlichen Antrieb durch die zweite Stufe. Je mehr Stufen hintereinander gezündet werden, desto höhere Geschwindigkeiten sind erreichbar.

In einem Artikel für das Journal der Amerikanischen Raketengesellschaft verglich Ehricke 1953 verschiedene Gemische chemischer Treibstoffe und die mit ihnen erzielbaren Ausströmgeschwindigkeiten. Für jedes der Treibstoffgemische ermittelte er die bestmögliche Reichweite und Einsatzmöglichkeit. Zusätzlich berechnete er, welche Geschwindigkeiten die verschiedenen Flüssigkeiten in nuklearen Antriebssystemen erzielen. Er kam zu dem Ergebnis, dass sich mehrere chemische Treibstoffe, die eine Geschwindigkeit von ungefähr 3000 Metern pro Sekunde ergeben, eignen, um von der Erde abzuheben. Um aber die Erdumlaufbahn zu verlassen, wozu Geschwindigkeiten zwischen 4000 und 7000 Meter pro Sekunde benötigt werden, verliert die Treibstoffdichte ihre Bedeutung. Hierbei kommt es vor allem auf Treibstoffe mit hohem spezifischen Impuls (und hoher Ausströmgeschwindigkeit) an. Werden noch höhere Geschwindigkeiten erforderlich, zum Beispiel für eine Mondumkreisung oder die Reise zu anderen Planeten, zeigen Kombinationen von Wasserstoff mit nuklearen Antriebssystemen ihre Überlegenheit.

Für Flüge bis zum Mond benötigt man also Wasserstoff mit flüssigem Sauerstoff; das Tor zum Sonnensystem lässt sich aber erst öffnen, wenn man Wasserstoff in Verbindung mit Kernenergie einsetzen kann.

„Fast drei Jahrzehnte hatte sich Ehricke auf das Zeitalter der Raumfahrt vorbereitet. Als es dann mit dem Sputnik heraufzog, war er vorbereitet. Innerhalb eines Monats schlug er für die Atlasrakete ein Wasserstoff/Sauerstoff-Triebwerk vor. Ehricke konnte deshalb so schnell reagieren, weil Vorarbeiten an der Atlas-Trägerrakete und die Ideen anderer (Ziolkowskis und Oberths) zum Wasserstoff/Sauerstoff-Antrieb in der obersten Stufe die Grundlage gelegt hatten.“((Sloop 1978, S. 193.))

Im Dezember 1957 unterbreitete die Raumfahrtabteilung von General Dynamics (wozu Convair gehört) der Amerikanischen Luftwaffe einen „Weltraum- und Satellitenentwicklungsplan“. Die dort vorgeschlagene Wasserstoff/Sauerstoff-Stufe bestand aus vier Raketenmotoren, die jeweils etwa 3500 Kilogramm Schubkraft entwickeln sollten. Die Luftwaffe verwarf den Vorschlag allerdings.((Sloop 1978, S. 194 f.))

Als aber die NASA im Juli 1958 gegründet wurde, wurde ein Komitee gebildet, das die Arbeiten an Antriebssystemen für Raumfahrzeuge zu koordinieren hatte. Am 29. August gab die Forschungsabteilung des Pentagons (ARPA) grünes Licht für das Centaur-Programm der obersten Stufe der Atlasrakete. Im Oktober nahm NASA-Direktor Keith Glennan das Centaur-Programm in eigene Regie, so dass es militärisch wie auch zivil genutzt werden konnte.((Sloop 1978, S. 200.))

Die Centaur, die oberste Stufe der Atlas-Trägerrakete, war die erste Rakete der Welt, welche flüssigen Wasserstoff und flüssigen Sauerstoff als Treibstoff benutzte. Seitdem haben Raketen mit Flüssigwasserstoffantrieb als zweite und dritte Stufe der Saturn V Menschen auf den Mond gebracht und Sonden zu verschiedenen Planeten geschickt. Wasserstoff hat uns, wie Ehricke es in den fünfziger Jahren vorhergesehen hatte, den Zugang zum Sonnensystem geöffnet.

Flüssigwasserstoff ist jedoch nur der Anfang. Um das Sonnensystem zu kolonisieren, werden Raketenantriebe auf der Basis von Kernspaltung und Kernfusion benötigt, wie Ehricke nachgewiesen hat.

Ein weiterer, entscheidender Schritt in der Weltraumfahrt wurde unter Ehrickes Anleitung in den fünfziger Jahren getan. Er hatte sich immer der Vorstellung widersetzt, dass eine Raumstation, die neben anderen Aufgaben auch als Startplatz für Weltraumreisen dienen sollte, aus nur einem Baukörper bestehen sollte. Shirley Thomas berichtet:

„Ehricke folgerte, die Weltraumstation könnte [im Hinblick auf den Zielplaneten] in einer falschen Ebene liegen. Es würde dann viel Energie kosten, die Flugbahn des abreisenden Raumschiffs entsprechend dieses Fehlers zu ändern. Ein noch größeres Problem könnte sich für Raumschiffe ergeben, die aus der Tiefe des Raums zurückkehren. In einem Orbit, der weder die Inklination noch den gleichen Abstand von der Erde hätte wie die Orbitalstation, wäre die Ankoppelung tatsächlich sehr schwierig.“((Thomas 1960, S. 11.))

Von Braun hatte eine riesige ringförmige Raumstation mit einer fünfzigköpfigen Besatzung vorgeschlagen. Im Gegensatz dazu sah Ehricke mehrere kleine, für ihren spezifischen Zweck ausgelegte Raumstationen vor. Er erläuterte seine Idee 1954 dem 5. Kongress der Internationalen Astronautischen Föderation in Innsbruck.((Ebenda.))

Ende 1954 verließ Ehricke Bell Aircraft und wechselte zu Convair Astronautics in Kalifornien. Nach Darstellung seiner Frau hätten ihn die schneereichen Winter in Buffalo im Staate New York zu sehr an die Ostfront während des Krieges erinnert, so dass er eine Gegend Amerikas mit wärmerem Klima vorzog. Ehricke hatte gehofft, bei Convair Zeit zum Abschluss seiner Doktorarbeit zu finden, doch seine Tätigkeit am neugeschaffenen Atlasprogramm für Interkontinentalraketen der Luftwaffe ließ ihm dazu keinen Spielraum.

„Endlich war er in der Nähe einer Trägerrakete, welche … wahrscheinlich stark genug war, um die Sterne zu erreichen… Der deutsche Raketenexperte brauchte nicht lange, um zu zeigen, dass die Atlas, ohne dass man ihr weitere Stufen aufsetzte, ohne weiteres kleinere Nutzlasten in eine erdnahe Umlaufbahn bringen konnte. Ehricke zeigte ferner, dass sich die Rakete so bauen ließ, dass sie selbst in eine Satellitenbahn gelangen konnte.“((Chapman 1960, S. 152.))

„In der Literatur stößt man auf Vorstellungen von gigantischen Satelliten mit einem Volumen von mehreren hunderttausend Kubikmetern“, schrieb Ehricke. „Die Pläne machen aber keinerlei Angaben über Aufgaben, die nicht ebensogut in viel kleineren Satelliten von weniger als einem halben Dutzend hochqualifizierter Personen wahrgenommen werden können.“((Ehricke 1959a, S. 157.))

Mitte der fünfziger Jahre schlug Ehricke vor, die erste Raumstation aus leeren Atlas-Raketen, die in eine Umlaufbahn gebracht würden, zusammenzubauen. „Große bewohnte Satelliten … sind nur sinnvoll, wenn sie industriellen, medizinischen oder Erholungszwecken dienen“, stellte Ehricke fest. Aber ehe sich deren Nützlichkeit erweisen kann, müsste zunächst das Problem gelöst werden, einen vergleichsweise billigen Pendelverkehr zwischen Umlaufbahn und Erde einzurichten.((Ebenda.))

Krafft Ehricke und Dr. Arthur Kantrowitz, Direktor des AVCO-Forschungsinstituts, stellten im April 1958 dem Raumfahrtausschuss des Repräsentantenhauses das Konzept einer Weltraumstation mit vierköpfiger Besatzung vor, bestehend aus einer Atlas-Interkontinentalrakete, die in 650 Kilometer Höhe die Erde umkreist. Das Projekt sollte sich bei einem Kostenaufwand von 500 Millionen US-Dollar innerhalb von fünf Jahren verwirklichen lassen. Der von Convair und AVCO gemeinsam vorgelegte Plan gehörte zu einem Gesamtprojekt mit vielen Kleinstsatelliten und kleiner Besatzung.((Clark 1958, S. 26 ff.))

Sieben Atlas-Raketen sollten den Baukörper der Station, Gepäck und das Raumschiff mit der ersten vierköpfigen Besatzung hinaufbefördern. Ein zweites Passagierraumschiffwürde eine Austauschmannschaft und ein Hilfskernkraftwerk nachbringen. Die Astronauten sollten die Weltraumstation durch Arbeiten außerhalb des Raumschiffs selbst zusammenbauen. Für die Rückkehr der Mannschaft zur Erde waren Gleiter für je zwei Personen vorgesehen.

Im April 1958 schlugen Ehricke und Arthur Kantrowitz dem Kongress eine Raumstation mit vierköpfiger Besatzung vor, die eine Atlasrakete in die Umlaufbahn bringen sollte. Im Bild Ehricke mit dem Modell der Station. Bild: Convair
Im April 1958 schlugen Ehricke und Arthur Kantrowitz dem Kongress eine Raumstation mit vierköpfiger Besatzung vor, die eine Atlasrakete in die Umlaufbahn bringen sollte. Im Bild Ehricke mit dem Modell der Station. Bild: Convair

Der Physiker Arthur Kantrowitz hat sich unter Weltraumwissenschaftlern mit seinen Arbeiten an einem der wichtigsten Probleme von Interkontinentalraketen einen Namen gemacht, nämlich der Konstruktion von Gefechtsköpfen, die der Erwärmung beim Wiedereintritt in die Atmosphäre standhalten konnten. Kantrowitz hatte 1935 auch einen der ersten Überschallwindkanäle entworfen und seitdem bahnbrechende Forschungen in den Bereichen Aerodynamik, thermonukleare Fusion, Magnetohydrodynamik und Laserphysik betrieben.

Der Washington Star brachte am 29. Dezember 1958 einen Bericht über die von Convair vorgeschlagene Weltraumstation und nannte sie das „geistige Kind Krafft Ehrickes“. Kleine Zusatzraketen sollten dafür sorgen, dass sich die Raumstation zweieinhalbmal pro Minute drehe, um eine gewisse Schwerkraft zu erzeugen. Die Station selbst sollte aus vier übereinanderliegenden Etagen bestehen und mit einer Wiederaufbereitungsanlage für Wasser ausgerüstet sein. Die Energie hätte ein kleines Kernkraftwerk geliefert.

Krafft Ehricke war schon 1960 bei den Raumfahrern kein Unbekannter mehr. In seiner Geschichte der Atlas-Trägerrakete schrieb damals John Chapman über ihn:

„Ehricke ist ein unermüdlicher, freundlicher, 42jähriger Deutscher, der 1954 amerikanischer Staatsbürger wurde. Vielleicht ist er heute der führende Vertreter der Raumfahrt in den USA. Er spricht überall und immerzu über die Raumfahrt – vor Studenten, Generälen, Wissenschaftlern, Ingenieuren, Kongressleuten, zum Fernsehpublikum oder mit beliebigen Personen, die in sein Büro kommen. Immer spricht er fließend und brillant, immer mit dem gleichen lebhaften, jugendlichen Enthusiasmus. Er fesselt seine Zuhörer mit seiner ehrlichen Absicht, mit seinem scheinbar grenzenlosen Wissen und seiner begeisternden Vortragsweise. Ein Luftwaffengeneral war einmal so von dem Gespräch mit Ehricke eingenommen, dass er ihn vom Konferenzzimmer bis zum Flugplatz begleitete und sogar den Start der Maschine aufhielt, um ihn mit weiteren Fragen zu löchern. Trotz ständiger Nachfragen nach Reden, Interviews, Artikeln und Vorträgen hat es Ehricke jeden Tag mit einer Parade von Besuchern zu tun, und dabei kann es schon geschehen, dass er mit zwei Besuchern gleichzeitig spricht.“((Chapman 1960, S. 168 f.))

Umfangreiche Berechnungen brachten Ehricke in den fünfziger Jahren zu der Einsicht, dass man die Umlaufbahnen für Raumschiffe nach anderen Überlegungen auswählen müsse, als es bis dahin üblich war. Einen Satelliten in Tausende Kilometer Höhe zu schießen, sei unnötig teuer. Wernher von Braun wollte beispielsweise seine Weltraumstation in einer zweistündigen Umlaufbahn 1600 Kilometer hoch die Erde umkreisen lassen. Als 1957 der Van-Allen-Strahlungsgürtel entdeckt wurde, stellte sich überdies heraus, dass diese Höhe für bemannte Stationen ungeeignet wäre.

1955 erdachte Ehricke ein neuartiges Konzept extrem niedriger Umlaufbahnen, das ganz neue Verwendungsmöglichkeiten von Raumkörpern ermöglichte. Anstatt antriebsloser Satelliten, die in hohen Bahnen um die Erde kreisen, stellte er sich Satelliten mit einem speziellen Antriebssystem vor, die er Satelloide nannte. Sie sollten vor allem zur Untersuchung der Atmosphäre dienen und zwischen der Höhe, die mit Flugzeugen noch erreichbar ist, und den stabilen Satellitenflugbahnen, also in 100 bis 150 Kilometer Höhe, verkehren.

Informationen über diesen Bereich bis in die untere Ionosphäre waren wichtig, um die Technik des Wiedereintritts in die Atmosphäre besser beherrschen zu lernen. Das war nicht nur für Interkontinentalraketen wichtig, sondern auch für die Rückkehr bemannter Raumschiffe. Ehricke nannte diesen Bereich, in dem aerodynamische Kräfte auf die anfliegenden Fahrzeuge einzuwirken beginnen, „das Tor zur Atmosphäre“. „Die Landung“ eines Raumfahrzeuges bedeute den „korrekten Wiedereintritt in die Atmosphäre und nicht so sehr das Aufsetzen auf der Landebahn“, erklärte er.

Für Krafft Ehricke war die Raumfahrt nur die Technologie, mit der ganz neue Felder der Forschung und Entdeckung erschlossen würden. 1956 legte er erste Pläne vor, wie sich der Weltraum für die Medizin und Biologie nutzen ließ. In einem Vortrag am Franklin-Institut in Philadelphia erläuterte er seinen „Biosat“, einen Satelliten, der speziell die Auswirkungen lang anhaltender Schwerelosigkeit auf Pflanzen und Tiere erforschen sollte. Auch sollten damit Verfahren zur Konservierung flüssiger und fester Nahrungsmittel und zum Anbau von Pflanzen im All untersucht werden. Irgendwann könnte Biosat auch geschlossene biologische Kreisläufe testen, worin sich Tiere und Pflanzen „in einem perfekten symbiotischen Gleichgewicht“ befänden. Die wissenschaftliche Forschung könnte sich dort „dem Studium des Lebens selbst und seiner mannigfaltigen Reaktionen auf unterschiedliche Umweltbedingungen widmen“.((Ehricke 1956a, S. 30 und 33.))

1966 entwickelte er zusammen mit D. Newsom, einem leitenden Wissenschaftler der biologischen Abteilung bei Convair, ein umfassendes Konzept, um „das All für therapeutische Zwecke zu nutzen“. Die Schwerelosigkeit und die Möglichkeit, durch Rotation des Raumschiffs eine beliebige Schwerkraft herzustellen, boten Behandlungsmöglichkeiten für zahlreiche Krankheiten.((Ehricke und Newsom 1966, S. 333.))

Eine heilende Wirkung versprach die Schwerelosigkeit besonders bei Herzkrankheiten, hohem Blutdruck, fehlerhafter Muskelkoordination und Bandscheibenleiden. Später könnte auch daran gedacht werden, Patienten mit hochgradigen Verbrennungen und Rückgratverletzungen in der Schwerelosigkeit zu behandeln.((Ehricke und Newsom 1966, S. 346 und 356.))

Aber die Raumfahrt sollte nicht nur biomedizinische Anwendungen möglich machen. Vom Weltraum aus auf Himmel und Erde zu schauen, käme einem Jungbrunnen gleich, schrieb Ehricke, und erlaube vielen, neue Horizonte zu entdecken. Als Aktivitäten für Weltraumtouristen könnten Entspannungsprogramme, verschiedene Sportarten, Erdsightseeing, Sternbeobachtungen, Spaziergänge im All und Unterhaltung durch allerlei Weltraumexperimente durchgeführt werden. Ehricke schätzte damals, dass sich ein solcher Urlaub im All für 80 US-Dollar pro Nacht einrichten ließe.

Der Extraterrestrische Imperativ

„Schon lange vor dem Apollo-Projekt, als wir in den frühen 60er Jahren an interplanetarischen Sonden zu arbeiten begannen, gab es Kritik am Raumfahrtprogramm“, sagte Ehricke bei einem Vortrag in New York im November 1981. Aus Sorge über die wachsende Ablehnung der Raumfahrt und den Mangel an richtigen Antworten darauf begann er weiterzuführen, was er in den frühen 50er Jahren versucht hatte – eine Philosophie der Raumfahrt, des Wachstums und der Technik im allgemeinen.((Ehricke 1983, S. 32 f.))

Um seine grundsätzlichen Ansichten zu verdeutlichen, prägte Ehricke in den 60er Jahren den Begriff Extraterrestrischer Imperativ. Im Mittelpunkt seiner Überlegungen steht der Unterschied zwischen „Vermehrung“ und „Wachstum“. Dabei machte sich Ehricke keine Illusionen über seine Widersacher. In einem Interview sagte er 1974: „Die Leute von Grenzen des Wachstums sehen die Erde wie ein Rettungsboot in feindlicher Umgebung. Für sie ist die Lebenswelt des Menschen ein geschlossenes System – auf die Erde beschränkt. Nicht für mich! Das Betätigungsfeld des Menschen ist heute sowenig eine geschlossene Kugel, wie es früher eine Scheibe war.“((Maxwell 1974, S. 6.))

Ehricke sparte nicht mit Kritik an der Nullwachstumsbewegung:

„Meadows und Forrester vergleichen in ihrem Buch Die Grenzen des Wachstums das Wachstum der Menschheit mit der geist- und sinnlosen Vermehrung von Seerosen auf einem Teich. Ich habe die Menschheit nie als Seerose betrachtet… Der Bericht Global 2000, eine aufgewärmte Version des gleichen Unsinns, enthält offensichtliche Falschinformationen und verkennt wie sein berüchtigter Vorläufer die menschliche Fähigkeit zum unbegrenzten Wachstum. Wachstum ist im Gegensatz zu bloßer Vermehrung ein Zuwachs an Wissen, an Weisheit und an Fähigkeiten, auf neue Art zu wachsen.“((Ehricke 1983, S. 30 f.))

In New York schilderte Ehricke im November 1981 die Entwicklung der Biosphäre und dass das Leben auf der Erde während der Evolution in zwei schwere Krisen geriet. Die eine davon wurde durch die Entwicklung der Photosynthese überwunden, so dass sich Pflanzen aus Sonnenenergie, Wasser und CO2 ihre eigenen „Produktionsmittel“ aufbauen konnten. Die andere wurde durch die Entwicklung neuer, vielzelliger Organismen überwunden, die den von den Pflanzen abgegebenen Sauerstoff verbrauchen konnten. „Als die erste große Krise sich beschleunigte, hatte das Leben nur drei Möglichkeiten: Es hätte sich aufgeben und für immer verschwinden können, es hätte seinen einzelligen Organismus auf die Existenz einer Spore beschränken … können … oder aber fortzuschreiten und zu wachsen.“((Ehricke 1983, S. 34.))

Welche Folgen für das Leben eingetreten wären, wenn es eine andere als die dritte Möglichkeit gewählt hätte, machte Ehricke in seinem Vortrag unmissverständlich deutlich:

„Im Jahre 1979 – von den Vereinten Nationen zum Jahr des Kindes erklärt – gab es 12 Millionen Kinder auf der Welt, die ihren ersten Geburtstag nicht erlebten. Das sind 50 Prozent mehr als alle Kriegstoten in den vier Jahren des Ersten Weltkriegs und ist eine Schande für eine Gattung, die sich zivilisiert nennt.“((Ehricke 1983, S. 30.))

Stehen wir am Ende unserer Fähigkeiten zu wissenschaftlichen Durchbrüchen? Sind wir dazu verdammt, zusehen zu müssen, wie unsere Welt schrumpft und immer „verschmutzter“ und erbärmlicher wird? „Die Neinsager“, sagte Ehricke in einem Interview 1974, „sind die eigentlichen Verschmutzer unserer Zukunft. Sie verwehren künftigen Generationen ihre Lebensmöglichkeiten. Alle rennen herum und sagen: ,Das Wachstum ist zu Ende!‘ Wenn nicht bald jemand aufsteht und sagt: ,Doch wir können!‘, wird dies zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Leute, die glauben, wir hätten das Ende der Fahnenstange erreicht, leben in einer noch unwirklicheren Welt als jene, die Ende letzten Jahrhunderts die Patentämter schließen wollten, weil sie es in ihren Spatzengehirnen nicht für möglich hielten, dass noch etwas zu erfinden übrig sei.“((Maxwell 1974, S. 10.))

Den Umweltschützern, die uns gerne mit den wunderschönen Bildern der Apollo-Astronauten die Zerbrechlichkeit der Erde vor Augen führen wollen, die der Mensch angeblich zerstörte, schrieb Ehricke ins Stammbuch: „Wenn wir die Erde vom Weltall aus betrachten, sollten wir erkennen, dass die Welt, in die wir jetzt hineinwachsen können, nicht mehr geschlossen ist.“ Und er fuhr fort:

„Unsere Erde ist kein bloßes Raumschiff. Sie gehört zu dem Geleitzug der Sonne, der in dem riesigen Ozean unserer Milchstraßengalaxie treibt. Die Entfernungen zu unseren Schwesterschiffen sind zwar größer als die Entfernung zwischen Erdoberfläche und dem Boden unserer Ozeane. Doch weit wichtiger als die Abstände ist die Art des Mediums, das dazwischen liegt. Zufällig brauchen wir nur den leeren Raum zu durchqueren, um entfernter gelegene Rohstoffbasen zu erreichen… Die uns begleitenden Welten sind nicht entwickelt. Die Erde ist das einzige Luxuspassagierschiff in einem Konvoi reichbeladener Frachtkähne. Ihre Rohstoffe können wir benutzen, da uns die Erde so intelligent und einfallsreich entlassen hat, dass wir uns von ihr teilweise unabhängig machen können.“((Ehricke 1971c, S. 24.))

Die „schöne neue Welt“ der Nullwachstümler hätte uns nicht aufgetischt werden können, ohne dass es zuvor zu einem „Wertewandel“ gekommen wäre, betont Ehricke. Auf dem Spiel stehe dabei nicht nur das Raumfahrtprogramm, sondern die kulturelle Entwicklung der letzten 500 Jahre seit der Renaissance. Denn Kulturen sind für Ehricke „Stadien geistigen Wachstums“.

Die „neue Desillusionierung“ der 70er Jahre, schrieb er, „brachte eine Pessimismuswelle, die das Vertrauen des Menschen in eine bessere Zukunft untergräbt. Damit richtet sie sich auch gegen den Teil der menschlichen Natur, den einige umstoßen wollen, weil er nicht zu den angeblich unüberwindbaren Grenzen des Wachstums passt. Der Glaube an eine bessere geistige wie materielle Zukunft liegt aber unserer technisch-wissenschaftlichen Kultur zugrunde und ist das größte Vermächtnis des westlichen Menschen an die Menschheit. Die Zersetzung dieses Vertrauens bedroht das Wertesystem und schwächt den Forscherdrang, dem wir unsere Errungenschaften seit der Renaissance verdanken“.((Ehricke 1971c, S. 18.)) Und weiter erklärt er:

„Für mich war die Entwicklung des raumfahrttechnischen Gedankens stets die folgerichtigste und edelste Konsequenz des Renaissance-Ideals, das den Menschen wieder in einen organischen und aktiven Zusammenhang mit dem umgebenden Kosmos stellte und das in der Synthese von Erkenntnissen und Fähigkeiten sein höchstes Ideal erblickte. Damit wurde der Anschluss an die edelsten Traditionen der Antike wiederhergestellt. Aber darüber hinaus wurde etwas grundsätzlich Neues hinzugefügt: das Experiment und die objektive wissenschaftliche Arbeitsmethode. Das schon in der Antike in Ansätzen vorhandene philosophische Konzept, der Grundstein der westlichen Zivilisation, dass es eine und nur eine objektive Wahrheit geben kann und dass logische Widersprüche innerhalb eines Systems grundsätzlich falsch und damit ein Ausdruck mangelnder Kenntnis, nicht aber etwa magischer Einflüsse sind, wurde in naturwissenschaftliche Formen gegossen.

Die Begriffe ,Grenze‘ und ,Unmöglichkeit‘ wurden in zwei klar definierte Bereiche verwiesen, nämlich der Grenze des jeweiligen Standes der Kenntnis und der Unmöglichkeit eines Prozesses, der wohlverstandenen Naturgesetzen zuwiderläuft. In den Durchbrüchen eines Leonardo da Vinci, Galilei und Kopernikus, eines Giordano Bruno, Kepler und Newton ballte sich eine neue geistige Energie gewaltigen Ausmaßes zusammen. Ihre edelsten Züge waren Kühnheit der Synthese und Furchtlosigkeit der Perspektive, gestählt durch eine neue, disziplinierte Denkungsart. Alles gipfelte letzten Endes in der Relativierung der Grenzen und Unmöglichkeiten – einer geistig-schöpferischen Leistung höchsten Ranges. Sie zwingt zur Synthese und ist damit der leuchtende Kern des Renaissance-Denkens. Sie hat die menschliche Entwicklung der nächsten Jahrmillion in neue Bahnen gelenkt, indem sie menschlichem Denken und Leisten kosmische Dimensionen verlieh.“((Ehricke 1973, S. 196 f.))

Ehricke war sich aus eigener Erfahrung bewusst, wie die Vergangenheit auf die Zukunft wirkt:

„Als sehr junger Mensch formte ich meine Ideale nach dem geistigen Erbe dieser Giganten. Aber nachdem ich, angeregt durch den Film Frau im Mond 1928/29 begann, mich mit Hermann Oberths Werk ,Die Rakete zu den Planetenräumen‘ zu befassen, wurde mir klar, dass ich nicht nur Jahrhunderte in die Vergangenheit zu blicken brauchte, sondern dass ich der Zeitgenosse eines modernen Leonardo da Vinci war. Sein Werk reflektiert eine Kühnheit der Synthese, eine Furchtlosigkeit der Perspektive, die ranggleich neben den höchsten Leistungen der Renaissance steht. In der Tat, Hermann Oberths Werk ist Renaissance-Material – zeitlos in der schlichten Strenge und klaren Logik wissenschaftlichen Denkens, die seinen Synthesen und Perspektiven zugleich Härte und Inspiration verleihen.“((Ehricke 1973, S. 197.))

Der 7. Kontinent – der Mond

Krafft Ehricke sagte öfters: „Wenn Gott gewollt hätte, dass der Mensch den Weltraum erkundet, dann hätte er ihm einen Mond gegeben“. Denn mit einem Mond vor der Haustür sei die Versuchung der Raumfahrt für den Menschen zu groß, anstatt „zur Isolationshaft auf einem kleinen Planeten verdammt zu sein“, so Ehrickes optimistische Haltung.

Während der 70er Jahre erstellte Ehricke eine detaillierte Studie über die Industrialisierung des Mondes. Der Mond war ihm dabei Teil eines Zwei-Planeten-Systems, welches eine „offene Welt“ seines Extraterrestrischen Imperativs im Sinne von Rohstoffen, Produktion und Produkten für alle über das ganze Sonnensystem verstreute Zivilisationszentren erzeugen würde. „Wir leben in einem Doppelplanetensystem“, schrieb er 1981. „Es besteht kein Grund dafür, dass nur eine seiner Hälften bewohnt sein sollte, lediglich weil dort das Leben seinen Ursprung hatte…“

Fünf Stadien der Mondkolonisierung: Ehricke sah den Mond als siebten Kontinent der Erde, dessen Entwicklung in mehreren Stadien die Furcht vor möglicher Rohstoffverknappung auf der Erde überwinden könnte. In der ersten Phase fließen Güter ausschließlich von der Erde zum Mond. In der dritten Phase liefert der Mond erste Güter zurück. Im fünften Stadium wird die Mondkolonie nicht nur Selbstversorger, sondern kann neue Kolonien im Sonnensystem aktiv unterstützen.
Fünf Stadien der Mondkolonisierung: Ehricke sah den Mond als siebten Kontinent der Erde, dessen Entwicklung in mehreren Stadien die Furcht vor möglicher Rohstoffverknappung auf der Erde überwinden könnte. In der ersten Phase fließen Güter ausschließlich von der Erde zum Mond. In der dritten Phase liefert der Mond erste Güter zurück. Im fünften Stadium wird die Mondkolonie nicht nur Selbstversorger, sondern kann neue Kolonien im Sonnensystem aktiv unterstützen.

Anstatt nach anderem Leben im Weltraum zu suchen oder darüber zu spekulieren, werden wir es selbst dorthin tragen“ empfahl er.((Ehricke 1982, 2. Teil, S. 50.)) Ein Buch, das er über dieses Thema mit dem Titel Der siebte Kontinent: Industrialisierung und Besiedlung des Mondes geschrieben hat, ist bis heute nicht veröffentlicht.

Krafft Ehricke plante fünf Entwicklungsstufen, die zur Gründung von Selenopolis, der Hauptstadt der neuen Mondzivilisation, fuhren würden (Abbildung 10.2). Jede Stufe sollte durch technische Neuerungen bei der Energieproduktion und den Einsatz neuer Raumtransportsysteme bestimmt sein.

In der ersten Stufe wird der Mond mit einfachen Landefahrzeugen intensiv erkundet. Damit die ständig im Sonnenschatten gelegenen Polargegenden ebenfalls erforscht werden können, wird ein Lunetta-Spiegel in eine Umlaufbahn gebracht. Die Idee für einen solchen Spiegel stammte ursprünglich von Hermann Oberth aus den 20er Jahren. Ehricke hatte sie erweitert und zuerst für Anwendungen auf der Erde und später für den Mond vorgesehen.

Lunetta-Systeme in der Erdumlaufbahn sollten vorrangig der Beleuchtung dienen und brächten ein Vielfaches der Lichtstärke einer Vollmondnacht. Soletta-Systeme sollen dagegen eine warme, sonnenlichtähnliche Strahlung zur Erde lenken.

Die in Erdumlaufbahnen kreisenden Lunetta-Spiegel waren vor allem für ländliche Gebiete und die Entwicklungsländer vorgesehen, um mit dem Nachtlicht dort längere Arbeitszeiten zu ermöglichen. Ebenfalls könnte der Lunetta-Spiegel bei Katastrophen den Hilfs- und Rettungsmannschaften bessere Sichtverhältnisse verschaffen. Der Soletta-Spiegel würde uns dagegen eine Art zweite Sonne für unterschiedliche Anwendungen verschaffen. Damit ließe sich zum Beispiel in begrenzten Gebieten das Wetter beeinflussen, um längere Trockenheits- oder Regen-, Hitze- oder Kälteperioden zu vermeiden und das Wachstum der Biomasse zu intensivieren.

Ehrickes Gemälde seines Lunetta-Spiegels, mit dem sich Sonnenlicht auf die Erde reflektieren lässt. Damit wären produktive Aktivitäten auf der Erde rund um die Uhr möglich. Bild: Krafft A. Ehricke
Ehrickes Gemälde seines Lunetta-Spiegels, mit dem sich Sonnenlicht auf die Erde reflektieren lässt. Damit wären produktive Aktivitäten auf der Erde rund um die Uhr möglich. Bild: Krafft A. Ehricke

In der ersten Phase der Industrialisierung des Mondes würde ein Lunetta-Spiegel bei der Suche nach Mineralien hilfreich sein. Die zweite Entwicklungsstufe sieht die Errichtung einer ersten zirkumlunaren Raumstation vor, die als „Kontroll- und Betriebszentrale für hochentwickelte Bodensysteme dient, die von der Erde direkt zur Mondoberfläche geschickt werden“. Die Raumstation dient auch als Quartier der ersten ständigen Mondbesatzung sowie als „ein technisches und biologisches Laboratorium, in dem Mondmaterialien untersucht werden, die durch automatische Fahrzeuge aus verschiedenen Regionen des Mondes zurückgebracht werden“.

In der dritten Entwicklungsstufe wird ein zentraler luna-rer Verarbeitungskomplex, verbunden mit einem Kernkraftwerk, errichtet. In ihm wird zunächst vor allem Sauerstoff, Silizium, Aluminium, Eisen, Glas und ähnliches produziert, die als Rohstoffe für den weiteren Verarbeitungsprozess dienen. Die Belegschaft würde alle 9 bis 12 Monate wechseln.

Während der vierten Entwicklungsstufe werden Zulieferstationen an Orten errichtet, wo zuvor größere lokale Vorkommen entdeckt wurden. Diese Stationen sind sehr einfach, meistens unbemannt und werden aus dem Orbit kontrolliert und betrieben. Die geförderten Materialien werden gesammelt und über eine ballistische Bahn in die Nähe der Verarbeitungszentrale transportiert.

Als Energiequelle für die Verarbeitung des Mondgesteins dienen Hochtemperaturreaktoren, nuklear-elektrische Lichtbögen, solare Brennöfen, unterirdische Atomöfen, die mit kleinen Spaltungs- oder Fusionsexplosionen beheizt werden, und, sobald diese Technologie entwickelt ist, das Plasma eines Fusionsreaktors.

In dieser Phase wird die Mondbevölkerung rasch zunehmen und die Voraussetzungen für den Bau von Selenopolis geschaffen. Die Mondhauptstadt wird erweiterbar angelegt und sich mit der Bevölkerung und deren Aktivitäten ausdehnen. „Überdachungen mit einer Länge von 500 Metern bis zu mehreren Kilometern und einer Höhe von 500 Metern und mehr werden sich allmählich über viele Kilometer der Mondoberfläche ausdehnen“, schrieb Ehricke.

Abbildung 10.3: Bergbau auf dem Mond. Im dritten Stadium von Ehrickes Mondentwicklungsprogramm würden in einem zentralen Verarbeitungskomplex mit Kernkraft betriebene Schmelzöfen Monderz verarbeiten. Quelle: Krafft A. Ehricke, „Die Industrialisierung des Mondes“, Fusion 1984
Abbildung 10.3: Bergbau auf dem Mond. Im dritten Stadium von Ehrickes Mondentwicklungsprogramm würden in einem zentralen Verarbeitungskomplex mit Kernkraft betriebene Schmelzöfen Monderz verarbeiten. Quelle: Krafft A. Ehricke, „Die Industrialisierung des Mondes“, Fusion 1984

Selenopolis wird die unterschiedlichen irdischen Klimata für unterschiedliche Zwecke nachgestalten können. Es wird kalte Winter, warme landwirtschaftliche Gebiete und trockenes, subtropisches und halbtrockenes Klima geben. Eine derart neue Zivilisation ist nur mit einer Energiequelle wie der Kernfusion vorstellbar, stellte Ehricke fest, während sich die frühen Entwicklungsstufen mit ihren kleineren Siedlungen und Industriekomplexen der entwickelten Hochtemperaturreaktortechnik bedienen können.((Ehricke 1982, Teil 1, S. 451.))

Die Kernfusionsenergie wird eine völlig neue Industrie auf dem Mond entstehen lassen und neben ihrem eigenen Bedarf auch den Brennstoffbedarf der Erde decken. Ehricke schlug nämlich vor, dass die ersten Deuterium-Tritium-Fusionsreaktoren auf dem Mond dazu benutzt werden, um das seltene Isotop Helium-3 zu brüten, womit sich die Deuterium-Helium-Fusion verwirklichen ließe, die zwar schwieriger zu erzeugen ist, aber eine bessere Energiequalität liefert. Ehricke konnte zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen, dass durch den Solarwind große Mengen natürliches Helium-3 auf dem Mond abgelagert wurden, und in den letzten Jahren sind Konzepte vorgeschlagen worden, dieses Helium-3 für irdische Fusionskraftwerke abzubauen.((Freeman 1990, S. 29–37.))

Nach gewissenhafter Beschäftigung mit den Unterschieden (und Ähnlichkeiten) zwischen irdischen und lunaren Bedingungen entwickelte Ehricke eine neue Wissenschaft, die Harenodynamik (abgeleitet von dem lateinischen Wort harenosus, sandig), entsprechend der Aerodynamik auf der Erde. Sie begründete einen neuen Zweig der Raumflugdynamik und sollte neue Transportmöglichkeiten auf dem Mond erschließen.

Am Beispiel eines von ihm für die besonderen Mondbedingungen entwickelten Fahrzeugs, dem Gleitlander, verdeutlichte Ehricke die Aufgaben der „Harenodynamik“. Sie „umfasst die Dynamik von Flüssen, die Formation von Grenzschichten und die Bedingungen für das Verhalten von Druck, Temperatur und Freisetzung von Gasen (Sauerstoff) in den Grenzschichten während des Hochgeschwindigkeitsflusses längs der harenodynamischen Bremsspur.“ Bestimmte Bereiche der lunaren Ebenen, die nur wenige Mondkrater enthalten, aber mit einer dicken Schicht weichen, lockeren Materials gefüllt sind, eigneten sich bestens als Landestreifen für Gleitlandungen. Außerdem sind die generellen Bedingungen auf dem Mond – Vakuum, niedrige Schwerkraft und sandige Oberflächen – für solche Landemanöver besonders günstig.((Ehricke 1982, Teil 2, S. 44 f.))

Die Industrialisierung des Mondes in den genannten Stufen erfordert eine ganze Flotte von Transportfahrzeugen, die chemisch oder nuklear angetrieben werden. Für die ersten Entwicklungsstufen reichen Raumschiffe und Schwerlastraumfähren von der Art des Space Shuttle aus. Aber später, wenn weniger Materialien von der Erde auf den Mond, aber mehr Exportgüter vom Mond zur Erde geschafft werden müssen, ist eine Flotte ganz neuer Raumfahrzeuge erforderlich, die Ehricke „Diana-Flotte“ genannt hat.

Mit Errichtung von Selenopolis tritt die Menschheit in eine „dreidimensionale Zivilisation“ ein. Nun werden Lastfahrzeuge benötigt, die große Frachten auf sehr hohe Geschwindigkeiten bringen können, was nur mit nukleargepulsten Fusionsantrieben möglich sein wird. „Was den D-He-3-Fusionsantrieb betrifft, so wird sein Einsatzfeld im heliozentrischen ,Ozean‘ sein und die wirtschaftliche Ausbeutung der Ressourcen des Merkur, Mars, der Asteroiden und insbesondere der Monde von Jupiter und Saturn ermöglichen. Die Erfahrungen lunarer Entwicklung schaffen dafür die Voraussetzungen.“((Ehricke 1982, 2. Teil, S. 50.))

Die Hauptstadt der Mondkolonie nannte Ehricke Selenopolis. Das Bild zeigt die Energieversorgung der Stadt aus Tokamak-Kernfusionsreaktoren. Die Luftleere auf dem Mond erlaubt es, auf eine Vakuumkammer zu verzichten und die wie Apfelsinenscheiben angeordneten supraleitenden Magneten frei stehen zu lassen. Bild: Christopher Sloan
Die Hauptstadt der Mondkolonie nannte Ehricke Selenopolis. Das Bild zeigt die Energieversorgung der Stadt aus Tokamak-Kernfusionsreaktoren. Die Luftleere auf dem Mond erlaubt es, auf eine Vakuumkammer zu verzichten und die wie Apfelsinenscheiben angeordneten supraleitenden Magneten frei stehen zu lassen. Bild: Christopher Sloan

Ehricke stellte sich die weitere Entwicklung der globalen Zivilisation nicht nur so vor, dass Menschen immer mehr Himmelskörper, sondern auch solche in heliozentrischen Orbits bevölkern, die praktisch neue, die Sonne umkreisende „Planeten“ werden. Nach dem Aufbau von Industriezentren auf dem Mond und einer großen im Mondorbit kreisenden Raumstation, die die Schwerelosigkeit zur Weiterverarbeitung von Mondrohstoffen ausnutzt, werde es nach Ehrickes Vorstellungen „durchaus sinnvoll erscheinen, noch größere Systeme zu bauen, die sich soweit selbst versorgen, dass sie sich eine eigene Sonnenumlaufbahn suchen können – eine ,Zellen-Androsphäre‘ oder ,Andro-Zelle‘.“

Bisher war die Zivilisation auf die Erdoberfläche, also zweidimensional begrenzt. Mit der Nutzung des Mondes wird die Dreidimensionalität das angemessene Betätigungsfeld des Menschen. Mit der Androzellen-Idee wäre die Zivilisation nicht mehr an vorhandene Himmelskörper oder besondere Orte im Universum gebunden. „Haben sich erst einmal mehr oder weniger selbständige, sich selbst erhaltende Raumgemeinschaften gebildet, ist die dreidimensionale Weltzivilisation volle Wirklichkeit geworden“, schrieb Ehricke 1975. „Mit Fahrten zu anderen Sonnensystemen wächst die Menschheit in die vierte Dimension. Unabhängig davon, ob sich Transport und Verkehr dann schon relativistisch abspielen wird oder nicht, Raum und Zeit wird jene Zivilisationen prägen.“

Noch wenige Wochen vor seinem Tod hielt Krafft Ehricke einen Vortrag über seine Vorstellungen von der Industrialisierung des Mondes und der „Geburt einer polyglobalen Zivilisation“, und zwar auf einem Symposium über Mondbasen und Raumfahrtaktivitäten im 21. Jahrhundert, das im Oktober 1984 in Washington stattfand. Hunderte Ingenieure, Wissenschaftler, Industrielle und Repräsentanten der NASA feierten Ehricke mit tosendem Applaus. Für sie verkörperte Ehricke – wie Shirley Thomas schon 25 Jahre zuvor geschrieben hatte – „den Glauben, dass sich der Mensch nur selbst Grenzen setzt und das gesamte Universum sein angemessenes Betätigungsfeld ist“.((Thomas 1960, S. 22.))

Als Krafft Ehricke seinen Kampf mit der Leukämie verlor und am 11. Dezember 1984 starb, schrieb Keay Davidson von der Los Angeles Times über ihn:

„Er war ein warmherziger, schlagfertiger Mann von tadellosen Manieren. Ehricke war ein beliebter Vortragsredner, er trat häufig in Fernseh- und Radiosendungen in San Diego auf, um seine Ideen über die Kolonisierung des Mondes und der Planeten vorzutragen. Er fesselte das Publikum mit Plänen, wie man auf dem Mond trotz der geringen Schwerkraft Schwimmbäder, aber auch interstellare Raumschiffe bauen könnte, welche unsere Galaxie zum Hinterhof der Menschheit machten.“

Allerdings gab es auch andere Nachrufe, die sich in Ton und Inhalt deutlich davon abhoben.

Die Januar/Februar-Ausgabe 1985 der Zeitschrift Martyrdom and Resistance (Martyrium und Widerstand), die als Redaktion die Anschrift der Anti-Defamation League (ADL) der Freimaurerloge B’nai B’rith angibt, erhob den ungeheuren Vorwurf, „die Vergangenheit Ehrickes und seiner Frau offenbart Sympathie und enge Bindungen an die Nazi-Partei“. Nur der Tod habe die Ehrickes „davor bewahrt, dass Charles R. Allen jr., der bekannte Journalist in Sachen Nazi-Verbrechen, der häufig für Martyrdom and Resistance schreibt, ihre Vergangenheit aufgedeckt hätte“.

In seinem Buch Nazikriegsverbrecher in Amerika schrieb Charles R. Allen jr. 1985: „Ehricke, Ingenieur im V-Raketenprogramm der Nazis, beendete seine Kariere in der Raketenfabrik Dora, dem Zwangsarbeitslager bei Nordhausen“ – eine freie Erfindung. Aber nach Allen war das noch nicht das schlimmste seiner „Verbrechen“:

„Es ist nicht so bekannt, dass Ehricke auch Mitglied der Fusion Energy Foundation (FEF) war und sogar im Beirat des offiziellen Organs der FEF, der Zeitschrift Fusion, aufgeführt wird. Die Fusion Energy Foundation ist eine bekannte Frontorganisation von Lyndon LaRouches profaschistischen, antisemitischen National Caucus of Labor Committees, einer seltsamen, verschwommenen Organisation, die sich auf mysteriöse Weise finanziert.“

Was Allen an Fusion am meisten aufregte, ist, dass die Zeitschrift „für Kernkraftwerke und ein Sammelsurium von Krieg-der-Sterne-Waffen, darunter auch Strahlenwaffen, eintritt“.

Tatsächlich war Fusion eine in Amerika weit verbreitete Zeitschrift für Wissenschaft und Technik, die eine verkaufte Auflage von über 150.000 erreichte. Sie hat sich für Ziele eingesetzt, die anderweitig als „unpopulär“ gelten, wie Kernenergie, wirtschaftliches Wachstum, ein starkes Raumfahrtprogramm, Verteidigung durch Strahlenwaffen (SDI) und Forschung in allen Spitzenbereichen der Wissenschaft. Die amerikanische Zeitschrift wurde im April 1987 vom US-Justizministerium nach einem gesetzwidrig erwirkten „Zwangskonkurs“ eingestellt. Erst zwei Jahre darauf wurde die Ungesetzlichkeit dieses Verfahrens rechtskräftig festgestellt.

Raumriesentransporter, der mit mondeigenem Sauerstoff und Aluminium angetrieben wird. Bild: Krafft A. Ehricke
Raumriesentransporter, der mit mondeigenem Sauerstoff und Aluminium angetrieben wird. Bild: Krafft A. Ehricke

Krafft Ehricke stellte 1981 den Kontakt zur Fusion Energy Foundation durch einen Leserbrief her, worin er auf einen Beitrag von Dr. Friedwardt Winterberg über Fusionsantriebe einging. Dann sagte Ehricke zu, auf einer Konferenz der FEF in Houston am 8. Juli 1981 anlässlich des ersten Space-Shuttle-Starts über das Thema „Amerikas nächste 20 Jahre im Weltraum“ zu sprechen.

In den folgenden Jahren schrieb Ehricke zwei Beiträge für Fusion über sein Programm zur Industrialisierung des Mondes. Er machte auch eine dreiwöchige Rundreise durch Deutschland, wo er auf mehreren Veranstaltungen des Fusion-Energie-Forums mit Schülern, Studenten und anderen Raumfahrtinteressierten seine Ideen vortrug. Seine Vorträge waren allen, die sie hörten, eine Inspiration und geistige Anregung.

Mit „Nazi“-Verleumdungen wurden die deutschen Raumfahrtpioniere, seit sie in die USA kamen, in regelmäßigen Abständen immer wieder konfrontiert, allerdings bis 1979, dem Todesjahr Wernher von Brauns, ohne viel Wirkung. In diesem Jahr wurde im US-Justizministerium ein „Amt für Sonderermittlungen“ (OSI) eingerichtet, das angeblich Kriegsverbrecher aufspüren und der Strafverfolgung zuführen sollte.

Von Anfang an arbeitete das OSI mit Moskau sehr eng zusammen. Die Initiative dazu war von Henry Kissinger schon 1976 ausgegangen, als sich die Sowjets geweigert hatten, Juden nach Israel auswandern zu lassen. Zusätzlich begannen die beiden Abgeordneten Elizabeth Holtzman und Joshua Eilberg, Demokraten aus New York bzw. Pennsylvania, im Kongress eine Kampagne gegen die amerikanischen Einwanderungsbehörden, denen sie vorwarfen, bei der Verfolgung von Kriegsverbrechern, die nach dem Krieg in die USA gekommen seien, „zu lax“ gewesen zu sein. Frau Holtzman setzte 1978 einen Beschluss durch, wonach überführte Mitläufer der Nationalsozialisten an die Sowjetunion ausgeliefert werden könnten. Justizminister Griffin Bell gab dem Druck von Frau Holtzman nach und richtete in der Kriminalabteilung des Justizministeriums eine Unterabteilung ein, die ausschließlich solche „Kriegsverbrecher“ jagen sollte.((Ashman und Wagman 1988, S. 188.))

Die beiden Leiter dieses neuen Amtes für Sonderermittlungen, Walter Rockler und Allan Ryan jr., stellten nun über offizielle Kanäle beste Beziehungen zum sowjetischen Generalstaatsanwalt her, der neben dem ostdeutschen Stasi zur wichtigsten Quelle für „Beweise“ und „Zeugen“ gegen sogenannte „Kriegsverbrecher“ wurde.

Das OSI konnte nun sogar Moskauer Archive benutzen und sowjetische Staatsbürger zur Zeugenaussage heranziehen. Nicht wenige dieser Dokumente erwiesen sich später als geschickte Fälschungen.

Auch LaRouche geriet wegen seiner Befürwortung von Strahlenwaffen unter direkten sowjetischen Beschuss, nachdem Präsident Reagan das SDI-Programm beschlossen hatte. Die Zeitschrift Fusion, zu deren Mitherausgeber LaRouche gehörte, war schon vor Reagans Ankündigung die Hauptinformationsquelle einer breiten Öffentlichkeit über die Möglichkeiten der neuen Raketenabwehr. LaRouche war sogar von der Regierung Reagan als Kontaktperson eingesetzt worden, um informell mit den Sowjets über das SDI-Programm zu verhandeln. In einer Gegenreaktion wurde dann in der Sowjetpresse die Forderung erhoben, LaRouches Einkünfte zu überprüfen, in der Hoffnung, dass eine öffentliche Hexenjagd auf LaRouche und seine Mitarbeiter diese von weiteren SDI-Aktivitäten abhalten würde.

Die Kampagne blieb auch nicht auf die Vereinigten Staaten begrenzt. Vor allem die Linke in Deutschland, die gegen die Stationierung der Pershing-II-Raketen Front machte und das SDI-Programm ablehnte, ließ sich dafür einspannen. Der Westdeutsche Rundfunk sendete am 30. November 1983 einen Beitrag „Nazis ohne Hakenkreuz“, der ungeprüft die Argumente eines obskuren Dennis King wiedergab. Es kam zu einem Gerichtsverfahren gegen die Rundfunkanstalt, worin Krafft Ehricke für das deutsche Fusion-Energie-Forum am 18. Januar 1984 in einer Eidesstattlichen Versicherung erklärte: „Angesichts des starken jüdischen Kontingents der FEF in Wiesbaden sowohl wie in New York ist die Anklage des Antisemitismus völlig aus der Luft gegriffen und besitzt keine Basis in den Tatsachen… Es sind zu keiner Zeit antisemitische Tendenzen ausgedrückt worden“.

Zur eigenen Person bezeugte Ehricke: „Ich persönlich habe mich bereits zu Hitlers Zeiten nicht von Antisemiten (oder von anderen Gruppenverdammungsfanatikern, die heute noch frei und hochgeachtet herumlaufen) ,vor den Karren spannen‘ lassen und kann das an Hand meine Familie betreffender tragischer Ereignisse, die hier nicht weiter ausgeführt werden müssen, dokumentarisch nachweisen. Aus diesem Grunde habe ich nachweislich keiner nationalsozialistischen Organisation… je angehört, sondern ,lediglich‘ der deutschen Wehrmacht.“

Im gleichen Jahr feierte der Vater des Raumflugs, Hermann Oberth, seinen 90. Geburtstag. Am 30. November sollte er in Nürnberg geehrt werden. Als Oberth, seine Tochter und andere Honoratioren am Veranstaltungsort eintrafen, wurden sie von einer Gruppe Punker empfangen, die Oberth als „Nazi“ und „Kriegsverbrecher“ beschimpften, bevor sie von der Polizei abgeführt wurden.

Auf seiner erwähnten dreiwöchigen Vortragsreise durch die Bundesrepublik im Herbst 1981 gewann Krafft Ehricke einen persönlichen Eindruck von den irrationalen Atomkraftgegnern und Umweltgrünen in Deutschland. Nach seiner Rückkehr berichtete Krafft Ehricke bei einem Vortrag in New York: „Ich finde es bestürzend, am Ende meines Lebens die gleiche Art von Sturmtruppen und emotioneil aufgeheizten Kundgebungen zu erleben, wie sie in meiner Jugend in den Jahren 1929 bis 1932 in Berlin so häufig waren.“ Bei einer Veranstaltung an der Universität Aachen musste sogar die Polizei kommen, damit Ehricke seinen Vortrag halten konnte.

„Die Jugend Westdeutschlands und anderer Nationen ist unglücklicherweise zu einem großen Teil in die Irre geführt worden… Wenn heute jemand nur über Raumfahrt oder Kernenergie spricht, betrachten ,Umweltschützer‘ und Kulturpessimisten dies schon als unerhörte Provokation, die es mit allen Mitteln zu verhindern gelte. Es ist eine traurige Tatsache, dass diese Leute trotz aller Aggressivität in Wirklichkeit ohne Hoffnung und ohne Ziele sind. Sie sind nicht das Produkt einer Erziehung im veredelnden leistungsorientierten Geiste der Klassiker, der Wissenschaften und der schöpferischen Technologie. Ihnen ist vielmehr Aussichtslosigkeit, frustriertes Aussteigertum und dialektische Unredlichkeit anerzogen worden.“((Ehricke 1983, S. 30.))

Sein ganzes Leben lang hatte Krafft Ehricke nach „Grenzen“ menschlicher Aktivitäten Ausschau gehalten und keine gefunden. Zeit seines Lebens und danach haben Fachkollegen seine Vorstellungen und seine umfassenden Beiträge zur Weltraumerforschung anerkannt und geehrt. Die erste Gunther-Löser-Medaille wurde ihm 1956 für den besten Vortrag auf dem 6. Kongress des Internationalen Astronautischen Föderation zuerkannt. 1957 erhielt er den Raumfahrtpreis der Amerikanischen Raketengesellschaft und 1961 vom National College of Education in Evanston (US-Bundesstaat Illinois) die Ehrendoktorwürde der Humanwissenschaft. 1972 bekam er den I.-B.-Laskowitz-Preis der New Yorker Akademie der Wissenschaften für sein Konzept des Extraterrestrischen Imperativs, und zwei Jahre später wurde ihm der Golovine-Preis der Britischen Interplanetarischen Gesellschaft verliehen.

Seine Tochter Krista Ehricke-Deer nahm im Mai 1984 für ihren kranken Vater die Goddard-Medaille der AIAA entgegen, die ihm „für praktische und visionäre Beiträge der Astronautik in über vierzig Jahren“ zuerkannt wurde.

Für ein Zeitalter der Vernunft

Fünf Monate nach seinem Tod wurde Krafft Ehricke von Hunderten Wissenschaftlern, Ingenieuren, früheren Kollegen und Persönlichkeiten aus Militär und Politik auf einer Konferenz geehrt, zu der zwei Organisationen eingeladen hatten, für die er in seinen letzten Lebensjahren wichtige Beiträge geleistet hatte – das Schiller-Institut und die Fusion Energy Foundation.

In seiner Ansprache auf dieser Krafft-Ehricke-Gedächtniskonferenz am 15. und 16. Juni 1985 in Virginia unterstrich Lyndon LaRouche „Krafft Ehrickes bleibenden Beitrag für künftige Generationen“. Ehricke und die übrigen Raumfahrtpioniere, so betonte LaRouche,

„stützten sich auf die wertvollsten Beiträge, die die deutsche Kultur der Menschheit schon gegeben hat, nämlich das wissenschaftliche Vermächtnis des Nikolaus von Kues, Johannes Kepler, Gottfried W. Leibniz und Carl Gauß… Sie haben die Menschheit erst auf jenen Weg gebracht, der zu den Sternen führen könnte.

Im Rahmen dieses Bemühens erwarb sich unser verehrter Krafft Ehricke so bemerkenswerte Verdienste, dass sich alle jene unweigerlich an seinen Namen erinnern werden, die die ersten Siedlungen auf dem Mond und Mars anlegen werden. Er half zu einem bedeutenden und weitgehenden Grade mit, der Menschheit die Absicht des Schöpfers zu verdeutlichen, dass es das Schicksal des Menschen sei, nach den Sternen zu greifen. Dort, in den Sternen, liegt der Schlüssel zum langersehnten Zeitalter der Vernunft, wenn unsere Gattung endlich die letzte kulturelle Hinterlassenschaft vom Tier abgestreift haben wird.“((LaRouche 1985, Seite 27 f.))

Zur Eröffnung der Konferenz sagte Helga Zepp-LaRouche:

„Krafft Ehricke war, was ich im Sinne Friedrich Schillers eine schöne Seele nennen würde… Er verkörperte in seinem Charakter und seiner Persönlichkeit das Menschheitsideal, das Schiller in seinem humanistischen Idealismus lobpries… Ich teilte seine Überzeugung, dass der Mensch nur durch die Raumfahrt, nur wenn er seine Augen von der Erde weg zu den Sternen wendet und wenn er seine Bedeutung begreift, das erlangen kann, was Schiller die .Würde des Menschen‘ genannt hat. Nur wenn wir anfangen, über das Universum nachzudenken und den Weltraum zu besiedeln, wird das Zeitalter der Vernunft möglich werden, das alle großen Humanisten der europäischen Zivilisation verwirklichen wollen. Das war der Glaube Schillers und auch Krafft Ehrickes: Der Mensch ist fähig zur Vernunft, ganz gleich wie schrecklich die Bedingungen um ihn herum sein mögen.

Krafft Ehricke verdient absolut, dass man sich seiner erinnert. Er war eines jener Individuen, die die Menschheit einen qualitativen Schritt vorwärts gebracht haben. Ich glaube, wir können ihn nicht besser ehren, als dass wir versuchen, es ihm gleich zu tun.“((Zepp-LaRouche 1985, S. 19 f.))