Die Wernadskij-Lösung

Kompetente Wissenschaft oder ein tatsächlich angestrebter Dialog der Kulturen geht immer von der Annahme aus, dass die Gesamtheit der vorhandenen Überzeugungen jeder nationalen Kultur oder jedes Lehrgebäudes einen bedeutenden Teil an Verkehrtem enthält. Das erste Prinzip der Wissenschaft sollte deshalb sein, sich mit dem Problem der systemischen Falschheit in der vielleicht sogar stolz verteidigten Anschauung – ob wissenschaftlicher oder anderer Art – zu befassen. Besondere Aufmerksamkeit muss sich dabei auf die besonderen Arten von Paradoxa konzentrieren, die im Grenzbereich eines allgemein anerkannten Gedankengebäudes liegen. So wie die jeweiligen Grenzbereiche, die die abiotischen, die lebenden und die menschlichen, kognitiven Systeme der Noosphäre Wernadskijs ihrem Wesen nach und ihren jeweiligen Besonderheiten als universelle physikalische Systeme nach trennen, aus welchen sich das bekannte Universum als ganzes (als Riemannsches integriertes System) zusammensetzt.

Die Erlaubnis zur Anwendung dieser Methode darf nicht davon abhängen, ob es schon klare Anzeichen für irgendetwas bestimmt Verkehrtes in den gerade anerkannten Überzeugungen gibt. Gute Gesundheit heißt nicht nur, dass keine Krankheit sichtbar zu erkennen ist, sondern auch, dass die Existenz von Krankheitsarten entdeckt und verhindert werden, welche wir bisher noch nicht richtig als eigentliche Bedrohung wahrgenommen haben – so wie es im Falle der Erkrankungen durch Retroviren war. Anhand dieser Methode sind wir in der Lage, die Existenz von etwas Verkehrtem aufzudecken, sogar innerhalb dessen, was unangefochten als allgemeingültige Ansicht gilt. Diese Methode ist kein bloßes Flickzeug, das man herausholt, wenn man eindeutig falsche Ansichten entdeckt hat. Es ist eine Denkweise, die bei jeder Gelegenheit alle anderen verdrängen muss.

Die Methode des Lernens aus unser Erfahrung der Zukunft, welche ich in der Einleitung zu dieser Schrift abgesteckt habe, ist nicht neu. Sie ist sehr alt. Bemerkenswerterweise gehört sie in der Naturwissenschaft unausgesprochen zur Methode der Sphärik, welche die Pythagoräer und Platon, neben anderen Vertretern der klassischen((Der Begriff „klassisch“, wie er in dieser Schrift durchgängig gebraucht wird, hat nichts mit der verbreiteten Vorstellung von etwas bloß „Herkömmlichem“ zu tun, wie sie etwa ungebildete Leute in Amerika heute mit dem Wort „Klassiker“ verbinden. Beispielhaft ist der verallgemeinerte Maßstab von Pythagoras, Thales, Solon von Athen, Platon und der klassischen griechischen Bildhauerkunst im Unterschied zur archaischen Kultur; genauso ist es im Fall von Italiens Cicero und der Renaissance des 15. Jahrhunderts mit der Wiederbelebung des klassischen Griechisch gegen das Gemeine der übrigen lateinischen Kultur, insbesondere der Kultur und Tradition des Römischen Reiches.)) griechischen Antike, der von Ägypten entwickelten Astronomie entlehnten. Tatsächlich wurde mit allen kompetent klassischen Strömungen des europäischen wissenschaftlichen Denkens seit jener Zeit diese Methode wieder aufgegriffen – als eine Wahl der Mittel, um die entgegengesetzten, verkommenen Methoden von Eleaten, Sophisten und anderen philosophischen Reduktionisten zu vermeiden. Das ist zum Beispiel die Methode Keplers, die sich darin widerspiegelte, dass er zukünftige Mathematiker beauftragte, die infinitesimale Differentialrechnung zu entwickeln, wie es Leibniz mit einzigartiger Orginalität dann wirklich tat.((Die Behauptungen der Anhänger des Abts von Venedig, Antonio Conti, ihr Schützling Isaac Newton habe eine Infinitesimalrechnung entdeckt, sind nicht nur schlicht falsch, sondern geradezu grotesk. Der typische Fall eines klassischen Beweises für die Leibnizsche Infinitesimalrechnung gegen die Behauptungen von Newtons zweifelhaften Bewunderern wurde durch Gauß‘ Entdeckung der Umlaufbahn des Asteroiden Ceres geliefert; eine Entdeckung, die Vorläufer von Gauß‘ allgemeinen Krümmungsgrundsätzen war. Sie ist auch eine strenge Demonstration der Notwendigkeit für die tatsächlich unendlich kleine Rechnung, von der alle die abartigen Apologeten von Newtons Prioritätsanspruch im 18. Jahrhundert und danach – wie d‘Alembert, Euler und Lagrange – behaupteten, es könne sie gar nicht geben, weil ihr nichts im wirklichen Universum entspräche. Diese Behauptung der Bewunderer Newtons, er habe die Existenz von einem Etwas entdeckt – dem Infinitesimal –, von dem sie und ihre gutgläubigen Anhänger immer noch behaupteten, dass es ihn gar nicht gebe, ist eine bemerkenswerte Wortverdrehung, zu der nur Scharlatane vom Schlage eines François Quesnay oder dessen Plagiator Adam Smith in der Lage sind.))

Diese Entdeckung, aufeinanderfolgend von Kepler, Leibniz und Bernoulli, Gauß, Riemann u. a., ist der Beweis für die Methode, durch die die Menschheit ihre entdeckten Vorwarnungen erlangt und so eine gewisse Art von Erfahrungswissen der noch zu erfahrenden Zukunft erwirbt. Abhängig ist das vom Begriff der Kraft im klassischen griechischen Sinne, wie ihn die Pythagoräer, Platon und seine Akademie u. a. verwendeten((Etwa Aristarch von Tarent und Eratosthenes sowie später Nikolaus von Kues (z. B. in seiner Schrift De docta ignorantia).)) – der Begriff eines universellen physikalischen Prinzips, wie wir richtigerweise sagen können. Wernadskijs Entwicklung der Begriffe Biosphäre und Noosphäre ist ein Anwendungsbeispiel der gleichen klassischen Methode der Kräfte.((Siehe auch: Lyndon LaRouche, The Economics of the Noösphere (Washington 2001). Es ist daher eine köstliche Ironie, dass der vielleicht bedeutendste aller sowjetischen Wissenschaftler, Wernadskij, der wichtigste Nachfolger Mendelejews und Begründer der sowjetischen angewandten Kernphysik, einer der größten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts gewesen sein soll. Ist er doch nach amtlicher sowjetischer „Histomat“- und „Diamat“-Lesart ein Idealist in der platonischen Tradition. Hier hat die sowjetische philosophische „Objektivität“ der Engelsschen Tradition mit ihren üblen systematischen Fehlern in ihrer Anwendung auf den Zivilsektor der Produktion im Feld der Wirtschaftspraxis völlig versagt. Dies führt unter anderem auch jene Krise der Kultur des 20. Jahrhunderts vor Augen, die der bemerkenswerte Brite C. P. Snow als ein „Zwei-Kulturen“-Paradox ausmachte: die Dichotomie, die gesellschaftliches Denken und naturwissenschaftliches Denken hermetisch voneinander trennte. In einer Kultur, die durch Koexistenz von reduktionistischer Naturwissenschaft und inhärent irrationalem antiklassischen Denken geprägt ist, sind Zusammenbrüche im Gang der Zivilisation zu erwarten – nicht nur in den USA, sondern auch so, wie es im Sowjetsystem geschah.))

Pythagoras Grafik
Der antike Gelehrte Pythagoras (570–495 v. Chr.) | Bild: Wellcome Images

Wie ich in dieser Schrift zeigen werde, bietet diese Sichtweise die einzige vertrauenswürdige Herangehensweise für einen Dialog der Kulturen. Der Fall des angesprochenen Werks Wernadskijs liefert solch einen notwendigen Bezugspunkt, um die Herausforderungen der modernen Volkswirtschaft zu bewältigen, indem man diese Probleme von einem höheren Standpunkt, vom Bereich des Erhabenen aus, angeht.

Es ist in der Wissenschaft bei allen fundamentalen Entdeckungen solcher Kräfte häufig gezeigt worden, dass die größte Konzentration von Verkehrtem gewöhnlich als Ansammlung von Annahmen getarnt ist, welche die irregeführten Vertreter einer irrenden Kultur gewillt waren, als unerschütterliche Qualitäten traditioneller Überzeugungen zu übernehmen, a-priori-Annahmen eingeschlossen. Der kartesische Satz an a-priori-Definitionen, -Axiomen und -Postulaten der Empiristen oder das aristotelische astronomische Schema des Betrügers Claudius Ptolemäus des Römischen Reichs ist typisch für etwas, was oft nicht nur ein intellektuell verhängnisvoller Irrtum, sondern bewußter Betrug ist.((Die „Sonnenhypothese“, auf die Nikolaus von Kues Bezug nimmt, war schon vor Eratosthenes‘ Zeit bekanntermaßen belegt worden, und Aristarch von Samos hat das festgehalten. Claudius Ptolemäus kannte diese Aufzeichnungen und verfälschte bewusst die Fakten, um mit seinem Plädoyer jene ptolemäische Fantasievorstellung zu unterstützen, der erst Kepler wieder wissenschaftlich den Garaus machte.)) Deshalb muss sich die Wissenschaft immer um einen Ausgangspunkt der praktischen Existenz im Universum bemühen, welcher außerhalb des Bezugsrahmens liegt, in dem sich der vermutete Fehler in den Annahmen verbergen mag – ein Bezugsrahmen außerhalb der Reichweite der derzeitig üblichen Überzeugungen des Forschers. Zu diesem Zweck, welche die Natur des einzelnen Menschen und der Menschheit im allgemeinen betreffen, ist Wernadskijs Begriff der Noosphäre ein außerordentlich nützlicher und derzeit äußerst wichtiger Ausgangspunkt für das Verständnis der Probleme, die in nächster Zukunft erkannt und gemeistert werden müssen.

Ein Beispiel: Um die Vorurteile, die eine verdorbene ideologische Trennmauer zwischen Kunst und Wissenschaft geschaffen haben, leichter zu überwinden, wollen wir nun diese Einleitung zur angewandten Naturwissenschaft verlassen, um damit den Fall der klassischen Ironie in englischsprachigen oder anderen Gedichten und Dramen zu vergleichen. Immerhin ist der Dialog der Kulturen im weitesten Sinn des Begriffs selbst Kultur. Was in jedwedem Teil der Kultur als ganzer wahr ist, muss auch in jeder ihrer Abteilungen nachweislich wahr sein.

Wörter zum Leben erwecken

Köstliche Akademikerwitze über „Beerdigungen von Grammatikern“ oder, genauso, die Abneigung des gebildeten Denkers gegen zeitgenössische Stilfibeln sind von klinischer Bedeutung, weil sie die Aufmerksamkeit auf die axiomatischen Wurzeln der gegenwärtig vorherrschenden Unfähigkeit der Volkskulturen lenken: Diese Kulturen sind insofern unfähig, eine Übereinstimmung der Wahrheitsbegriffe zu definieren, welche auf systematisch kohärente Weise für den sprachlichen wie für den naturwissenschaftlichen Gedanken anwendbar wären.((Vgl. C. P. Snow, Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, Stuttgart 1988. (Engl. Original: Two Cultures and the Scientific Revolution).)) Diese Schwäche, die Torheit des Grammatikers, in der Entwicklung des Individuums ist ein wahrscheinlich lähmendes Hindernis auf dem Weg zur Durchführung eines Dialogs der Kulturen und damit auch der Naturwissenschaft.

Gerade wenn es um einen Dialog der Kulturen geht, wären wir töricht, uns auf Vereinbarungen zu verlassen, die auf dem Wörterbuchverständnis toter Wörter eines Grammatikers beruhen. Wir benötigen etwas Lebendes, nicht das tote Wort, dem jeder nach seinem Gutdünken irgendeine willkürliche Bedeutung geben würde. Die Doktrin der “wortwörtlichen Bedeutung” einer Textstelle, wie sie der berüchtigte Richter Antonin Scalia vom Obersten Gerichtshof der USA vertritt, ist ein ausreichend gespenstisches Beispiel für solch pathologisches Verhalten moralisch toter Geister. Um eine Art „intelligenter Kommunikation“ zu ermöglichen, müssen wir Wörter zum Leben erwecken – eine Wiederbelebung, die in jedem steifen Grammatiker jene spezielle Qualität des heiligen Schreckens wieder anfacht, wie er auch Rembrandts Belsazar traf!

Das Gastmahl des Belsazar
„Das Gastmahl des Belsazar“ – Rembrandt van Rijn, 1635

Um eine tatsächliche Verbindung zwischen einer literarischen oder künstlerischen Kultur in dasselbe System einer wissenschaftlichen Kultur einzuflechten, wie sie Wernadskijs Werk über die Noosphäre verkörpert, betrachte man diejenigen prinzipiellen Merkmale einer literarischen Kultur, die zwischen dem Kulturgedanken im allgemeinen und dem Werk Wernadskijs eine Brücke schaffen können.

Wie Shakespeare wusste und wie jeder fähige Schriftsteller, Dichter und Philosoph immer verstand und wie ich hier zeigen werde, existiert Wahrheit – im Gegensatz zu dem, was Scalia glaubt – nur zwischen dem, was der schlecht gebildete Kopf als offensichtlichen Bruch – Ironie oder Metapher genannt – der nur wortwörtlichen Bedeutungen sehen muss, die zuvor den Wörtern durch die Leichenbestatter toter Geister, die wir als Grammatiker kennen, zugeschrieben worden waren. Die Wahrheit selbst liegt somit nur in diesen offensichtlichen Brüchen, was William Empson in seiner bemerkenswerten Abhandlung Sieben Arten der Mehrdeutigkeit als Prinzip der Ironie behandelt hat.((William Empson, Seven Types of Ambiguity (Middlesex 1961). Wir wollen uns damit Empsons Gedankengang nicht vorbehaltlos anschließen, sondern betonen, dass sein Werk, bei allen Irrtümern, die es enthalten mag, ernstgenommen werden muss.)) Mehrdeutig, wie beispielsweise die klassische Ironie des großen Dichters manchmal erscheinen mag, ist so begriffene Ironie die einzige, wirksame Methode, durch Äußerungen in einer gemeinsamen Sprache die Fesseln der wörtlichen Bedeutung aufzubrechen, um den Menschen aus der Sklaverei toter Wörter zu befreien und um genaue Vorstellungen wahrer Ideen und lebender Wörter zu vermitteln, die durch die Ironie zum Leben erweckt werden. Für einen Menschen, der wirklich denken kann, ist der Grammatiker somit die perfekte Verkörperung des funktionell Schwachsinnigen, der einem bei der Suche nach wahren Ideen im Wege steht und über den man leicht stolpert. Das soll heißen, dass man wirklich lebendes Wissen nur in den transzendenten Ausdrücken findet, die wir als klassische Ironie bezeichnen.

Die Klärung dieses Punktes ist das Entscheidende, das hier sofort festgehalten werden soll.

Man stelle sich die Frage: Warum ist es für die angemessene naturwissenschaftliche Arbeit notwendig, die Entdeckung eines experimentell nachgewiesenen Naturprinzips mit dem persönlichen Namen des betreffenden Entdeckers zu bezeichnen? Nicht der persönliche Name, den man mit irgendeiner mathematischen Formel verbindet, die genutzt wird, um eine Wirkung der Anwendung des Prinzips zu beschreiben, sondern der persönliche Name des Entdeckers selbst. Diese Frage sollte in uns die Aufmerksamkeit für einige entscheidende Beispiele der Bedeutung klassischer Ironie wecken, die Herausforderung nämlich, die Methode des Grammatikers notwendigerweise als Spiel mit toten Wörtern zu beschreiben.((Bei einem Internetforum am 9. November 2004 machte ich eine Bemerkung über einen theoretischen Mathematiker, der eine Plastikpuppe heiratete, weil ihm ihre Maße so gut gefielen.))

Indem wir die ursprüngliche Entdeckung eines Prinzips mit dem Namen des Entdeckers verbinden – beispielsweise Archimedes –, sind wir implizit verpflichtet, in unserem eigenen Geist die entsprechende Erfahrung der Entdeckung hervorzurufen und nachzuvollziehen – eine Erfahrung, die innerhalb des Geistes von Archimedes entstanden war, oder auch des Geistes von Archytas, als er die Konstruktionsaufgabe der Verdoppelung des Würfels löste. Wir verpflichten uns dadurch, die innere kognitive Erfahrung des Entdeckungsvorgangs wieder zu erleben. Wir versuchen also, eine Nachbildung des entsprechenden Vorgangs der in dem Geist jener lebenden Person, während sie lebte, in unseren eigenen souveränen Denkabläufen als lebende Person ins Spiel zu bringen. Diese Handlung definiert die entsprechende Entdeckung als eine lebende Idee, und die Wörter, die auf ironische Weise benutzt werden, um in jene Richtung zu zeigen, werden lebende Wörter – Wörter mit einer lebenden Bedeutung für uns – um die toten zu ersetzen. Das ist mit „Hervorbringen und Vermitteln wirklicher Ideen“, mit der Belebung von Ideen platonischer Art gemeint.

Ein Beispiel: Manche würden den groben Fehler begehen, zu behaupten, dass sich Entdeckungen grundsätzlicher Art an einer akademischen Wandtafel oder von einem digitalen Rechner aus vorführen ließen, so wie die verwirrten Befürworter der „Informationstheorie“ es empfehlen. Gauß bewies 1799 den relevanten Punkt in seiner Aufdeckung des diesbezüglichen von Empiristen wie d‘Alembert, Euler, und Lagrange begangenen Schwindels. Gauß zeigte somit erneut, dass die Entdeckung eines Prinzips nicht durch formale mathematische Konstruktionen arithmetischer oder kartesischer Art zustandekommt. Die tatsächliche Entdeckung wird durch die formalen Paradoxa – etwa algebraische Paradoxa, die sich an einer Schultafel darstellen lassen – nur angestoßen. Aber der Entdeckungsakt eines Prinzips vollzieht sich weder an der Tafel noch in den Eingeweiden eines Computers – das kann nur innerhalb der souveränen Erkenntnisvorgänge, der Vorgänge der Hypothesenbildung geschehen, die eine einzigartige Fähigkeit des menschlichen Geistes ist und ihn von den Tieren unterscheidet.

Die Nennung des ursprünglichen Entdeckers ist eine Herausforderung: den Akt der Entdeckung, wie er sich im Geist jenes genannten Entdeckers vollzog, im eigenen Geist zu erfahren. Dies können wir nur tun, indem wir seine entsprechende Hypothese innerhalb der Vorgänge unseres eigenen Geistes hervorbringen. Die ansonsten scheinbar, aber in Wirklichkeit herrlich paradoxen ontologischen Implikationen meiner unmittelbar vorhergehenden Äußerung werden durch angemessene Konzentration auf das klar werden, was ich den meisten Teil der noch folgenden Abschnitte dieser Schrift hindurch bezüglich Wernadskijs Konzeption der Noosphäre zu berichten habe.

Sogar an dieser Stelle kann uns Wernadskijs Begriff der Noosphäre bereits helfen, einige Aspekte der physischen Bedeutung des gerade Gesagten zu erhellen. Unser lebendes Gehirn und seine Ausrüstung erwecken den Entdeckungsakt, z. B. von Archimedes, wieder zum Leben, so wie er innerhalb des Geistes des Archimedes lebte, wiedergeboren in den Funktionen unseres lebenden Gewebes .((Man beachte schon hier einen für die Ökonomie bedeutsamen Punkt, mit dem ich mich weiter unten befassen werde. Die Erkenntnisprozesse des menschlichen Geistes, die Wernadskij als noetisch definiert, sind eine Ordnung höher als das Prinzip des Lebens an sich, so wie lebende Vorgänge mit nichtlebenden in Wechselwirkung stehen, aber keine sind. Trotzdem benötigt der noetische Prozess eine Lebensform, die des menschlichen Geistes, um die Grundsatzidee wiederzubeleben, die zuvor von einem Archytas oder Archimedes erzeugt wurde. Das ist das Wesen der Vermittlung solcher tatsächlichen Ideen sowohl innerhalb der zeitgenössischen Gesellschaft wie auch über Jahrhunderte oder gar Jahrtausende hinweg.)) Dieser Vorgang hat die charakteristische Form der Hypothesenbildung, welche Platons Sammlung der sokratischen Dialoge zusammenfasst. Die reale Beschaffenheit dieser Handlung unseres momentanen Wiederbelebens der lebenden Idee hinter dem Namen Archimedes‘ heute – die lebende kognitive Aktion des damals lebenden Archimedes z. B. – ist eine Andeutung dessen, was Kommentatoren über Wernadskijs Werk bisher zu unrecht anscheinend versäumt haben, zu begreifen. Sowohl das sowjetische „materialistische“ als auch das liberal-empiristische Dogma sind unter den maßgeblichen Hindernissen gewesen, die bei der Behandlung der Beweise jener Fehler in Betracht zu ziehen sind.

Vielleicht ist es an dieser Stelle notwendig, diesen Gedankengang noch einmal zu rekapitulieren: Die Ironie, die Person des Entdeckers mit einer prinzipiellen Entdeckung gleichzusetzen, verpflichtet uns somit, die lebende Erfahrung jenes ursprünglichen Entdeckungsakts dieses Geistes als lebende Erfahrung innerhalb unseres eigenen Geistes erneut zu erzeugen. Es ist sozusagen eine Vorlage der Funktion klassischer Ironie als dem einzig wahrhaften Weg, Verständigungsformen, die buchstäblich tot sind, wenn man sie nur an und für sich behandelt (so wie reine Grammatiker), zu benutzen, um von einem Geist zum anderen eine lebende Erfahrung von Wahrhaftigkeit zu vermitteln, selbst wenn Tausende von Jahren dazwischen liegen.

Betrachten wir die klassische Tragödie, wie die von Aischylos, Shakespeare oder Schiller, als ein Modell in der Kunst mit der gleichen Bedeutung für die klassische Ironie, wie ich auf den ironischen Gebrauch des Namens von Archimedes oder Kepler oder Gauß hingewiesen habe, um den Geist des Hörers zu veranlassen, die Erfahrung des ursprünglichen Akts der Entdeckung dessen, was im Wesentlichen ein universelles Naturprinzip ist, noch einmal zu vollziehen. Das wiederum dient dazu, zu zeigen, wie wir diese Prinzipien festlegen müssen, und dass vor denjenigen zu warnen ist, welche für die Entwicklung eines Dialogs der Kulturen nicht angenommen werden sollten.

Warum das Studium der klassischen Tragödie?

Wozu brauchen wir eigentlich klassische Schauspieler? Sprechen die gedruckten Worte nicht für sich selbst? Sollte nicht irgendeine bunt zusammengewürfelte Schar von Laienschauspielern, die den Text des Dramas vorträgt, sich gut eignen, die Absicht eines Dramatikers wie Schiller oder Shakespeare zu vermitteln? Vielleicht fehlt ihnen die Anmut, aber schmälert das die Fähigkeit, die vom Dramatiker beabsichtigte Bedeutung zu vermitteln? Der sophistische Pedant würde ebenso fragen: Ist nicht das Rezitieren klassischer Dichtung eine Frage des „Geschmacks“?

Im Gegensatz zu solchen bloßen Meinungen muss die fähige Schauspieltruppe, wie in dem Fall der Eingangsszenen zu Hamlet oder Julius Caesar, den Geisteszustand von Shakespeares Rom zu Zeiten Caesars und Ciceros oder Hamlets legendäres Dänemark, auf die Bühne bringen, sogar noch bevor die Hauptpersonen dieser Stücke selbst auftreten. Aus Gründen, die ich weiter unten erläutern werde, ist es fast schon ein Grundsatz in der Komposition klassischer Tragödien, dass die Hauptperson nicht auftreten darf, bis die paradoxe Natur des ganzen Umfelds, in welcher sie erscheinen wird, im Geist des Publikums bereits zu einer eigenständigen Art der Erfahrung geworden ist – und somit auch, durch Proben und die Erfahrung wiederholter öffentlicher Aufführungen, in den Köpfen der Schauspieler der klassischen Bühne.((Deshalb: Bitte gebt uns die Theatergesellschaften mit klassischem Repertoire wieder! Sorgt euch nicht darum, ob sie sich wirtschaftlich auszahlen – das Geld, das sie kosten, wäre sehr gut angelegt. Aufführungen dieses Theaters auf Film festhalten? Ausgezeichnet – so haben Regisseur und Schauspieler eine Hilfe bei der Vervollkommnung ihrer Live-Aufführungen vor Publikum. Anschließend lässt man das beste Ergebnis mit demselben Ensemble für ein Massenpublikum abspielen: All das trägt dazu bei, ein immer besseres, angemesseneres Ergebnis zu erzielen – was einschließt, Schauspieler heranzuziehen, die immer besser in der Lage sind, die höheren Ziele zum Nutzen der Gesellschaft, die Verfasser und Darsteller unausgesprochen beabsichtigen, zu erreichen.))

Ich werde hier versuchen, diesen wesentlichen Gesichtspunkt eines Dialogs der Kulturen zu verdeutlichen: Das Wesen des Dramas liegt „zwischen den Brüchen“; es liegt jenseits des Buchstäblichen. Solch ein wahrer Dialog findet innerhalb des einzigen Bereiches statt – dem Bereich der platonischen Hypothesenbildung –, in dem die Wahrheit liegt: in dem universellen Prinzip der spezifisch menschlichen Kommunikation, der klassischen Ironie.

So muss beispielsweise in den Eröffnungsszenen der beiden Tragödien Shakespeares, die hier zur Veranschaulichung dienen, das Publikum sehr rasch, nachdem der Vorhang sich geöffnet hat, ein unheimliches Gefühl bekommen, dass das Universum auf der Bühne ein anderes kulturelles Universum ist als jene sich in Bewegung befindliche Welt des Publikums außerhalb der Bühne. Das wechselseitige Verhalten der Figuren auf der Bühne darf nicht ein Ausdruck derselben Worte sein, als ob sie von Menschen aus der zeitgenössischen Kultur des Publikums gesprochen worden wären, noch dürfen die Zuschauer diesen Austausch als Ereignis innerhalb ihrer eigenen zeitgenössischen Erfahrung auffassen. Andernfalls wäre die Aufführung von Anfang an künstlerisch misslungen.

Hamlet von Henry Fuseli
Hamlet wird von Horatio und Macellus davon abgehalten, dem Geist seines toten Vaters zu folgen – Tuschezeichnung von Henry Fuseli.

Das heißt, dass die ableitbaren zwischenmenschlichen Verhaltensregeln in einer Kultur nicht dieselben sind wie die einer anderen Kultur. Da der Gegenstand der klassischen Tragödie von der Art und Weise handelt, wie die systemischen Eigenschaften einer Kultur, als Ganzes betrachtet, zu deren Untergang führen, spürt der zeitgenössische Zuschauer die oft scheinbar nur ganz feinen Unterschiede zu dem vermeintlich gleichen Gespräch, welches innerhalb der eigenen Kultur des Publikums wiederholt werden könnte. Das Gespräch muss deutlich in jenem anderen kulturellen Umfeld stattfinden – an einem anderen Ort der physikalischen Raumzeit, der für die Kultur typischerweise steht, welche selbst das Thema der Tragödie bildet.

Wir müssen also hervorheben, dass die Figuren einer Tragödie auf der Bühne zusammengenommen anders handeln, anders denken, für gewöhnlich Teil einer qualitativ anderen Kultur sind als diejenigen im Publikum oder die Schauspieler selbst, draußen auf der Straße. Selbst wenn sie die gleichen Wörter aussprechen, ist die Bedeutung auf irgendeine wichtige Weise anders; schließlich sind sie aus einer Gesellschaft, ihrer Alltagswelt außerhalb der Bühne, ausgezogen und sind in eine andere Welt, die einer vergangenen geschichtlichen Epoche, einer unterschiedlichen Kultur mit unterschiedlichen Umständen eingezogen. Es bedarf des Genies eines fähigen Autors oder Regisseurs, der eine tiefe Einsicht in diese systemischen Unterschiede entwickelt hat und jene Feinheiten der kulturellen Matrix anführt, die den vom Autor beabsichtigten Gegenstand einrahmen.((Eine besonders durchschlagende Wirkung, wenn man Werke von Shakespeare und Schiller erlebt, betrifft deren geschichtliche Treue bei der Darstellung von Ort und Zeit, ihr fein geschliffenes Gespür für historische Genauigkeit. So berühren beispielsweise Shakespeares Dramen zur englischen Geschichte die wichtigsten Wesensmerkmale der Zeit des ultramontanen Bündnisses der venezianischen Geldadeloligarchie mit dem normannischen Rittertum des Mittelalters. Wenn man seine Aufmerksamkeit dem historischen Ablauf als dem Gegenstand des Dramas zuwendet, statt irgendwelche netten, touristenartigen Bemerkungen zu historischen Daten, Personen und Orten, spürt man die Macht von Shakespeares schöpferischem Geist. Was Schiller betrifft, soweit ich mich hier auf ihn bezogen habe, so ist er mit Leidenschaft sogar noch präziser hinsichtlich der historischen Genauigkeit, als es Shakespeare in seinen besten Zeiten je war.))

Die gelungene Auseinandersetzung mit solchen Möglichkeiten ist das Zeichen des großen Dramatikers. Seine Absicht ist es, die Aufmerksamkeit des Publikums aus der Art des Universums, in dem es lebt, in ein quasi anderes Universum zu versetzen, in dem die charakteristischen Eigenschaften des Sozialverhaltens qualitativ anders sind als die des Publikums. So sollten die Schauspieler sich selbst und ihr Zusammenspiel mit anderen Schauspielern in jenes andere Universum versetzen; das eigene sollten sie solange auf der Straße außerhalb des Theaters geparkt lassen.

Es ist deshalb zwingend, dass die Schauspieler vom Anfang des Stückes an keine Verszeilen rezitieren. Die Schauspieler in der Eröffnungsszene von Julius Caesar müssen Römer jener Zeit sein. Die gesprochenen Worte im Drama haben nicht dieselbe Bedeutung, die sie hätten, wenn ein Zeitgenosse sie ausspräche. Wenn man wie ein lebendiger Römer der entsprechenden Stellung reagieren würde, mit all der „Körpersprache“ und den emotionalen Abstufungen, welche jener Römer unter jenen entsprechenden Umständen an den Tag legen würde, hätten wir ein unheimliches Gefühl des Unterschieds erzeugt zwischen der Weise, wie sich jene Römer verhalten, und der Weise, wie wir in unserer Zeit und an unserem Ort dieselben Zeilen sprächen. Die Wirkung auf den Geist des Publikums muss jene gefühlte Wahrnehmung eines irgendwie unheimlichen „Anderen“ sein, welches dort spür- und wissbar lauert, das aber außer Sichtweite des Zuschauers ist.

Nur ein Beispiel für solche scheinbar unbedeutenden, aber entscheidenden Kritikpunkte: Wie formt Casca Ciceros Namen mit seinen Lippen? Was ist seine „Körpersprache“? Wie hätte man dieselben Wörter unter heutigen Umständen ausgesprochen? Tatsächlich sehen wir hier – zwischen der klassischen Sichtweise, für die Cicero steht, und dem Umfeld des quasi faschistischen Caesar – schon den erbitterten, alles beherrschenden und für die Tragödie entscheidenden Kampf der Kulturen in jenem antiken Rom. Wie deutlich Shakespeare diesen Zusammenhang verstand, zeigt sich durch die Art und Weise, wie er die ironiereiche Gestalt Ciceros in die Szene einwebte. Die Bedeutung des unsichtbaren Cicero ist für die Aufführung der ganzen Tragödie entscheidend. Das Publikum wird zunächst vielleicht nichts über die Bedeutung des Bezugs auf Cicero wissen, aber der Regisseur und die Schauspieler müssen die Zuschauer diese Bedeutung spüren lassen.((Nur ein geschichtlich ungebildeter Mensch könnte behaupten, dass ich in dieser Beurteilung von Cascas Äußerung falsch liege. Shakespeares Wesen als Dramatiker zeigt uns eine Persönlichkeit, deren Wurzeln in der italienischen platonischen Renaissance des 15. Jahrhunderts liegen, wie sie auch bei Sir Thomas Morus zum Ausdruck kommt – jenem Morus, in dem die venezianische Finanzoligarchie, verkörpert u. a. durch Francesco Zorzi, Kardinal Pole und Thomas Cromwell, ihren Todfeind sah.))

Das Ziel des großen Dramatikers ist es nicht, anzudeuten, dass das Publikum einfach eine vermeintliche Lösung für das Paradox der auf der Bühne sich abspielenden Tragödie annehmen sollte. Keineswegs; solche Dummheiten überlassen wir den Romantikern, die behaupten, die ganze Menschheitsgeschichte zu erklären, deren Einzigartigkeit sie besudeln, indem sie die Frage des Schicksals ganzer Völker und Zivilisationen auf die Ebene ihrer Schlafzimmersicht von Scheitern und Triumph einzelner Helden und Bösewichter erniedrigen – fast schon Seifenopernniveau!

Nehmen wir Schillers Jungfrau von Orleans: Schiller hat die prinzipiellen Grundlagen von Ort und Zeit der damaligen Ereignisse sorgfältig erforscht und die wahre Bedeutung Johannas nachgeschaffen. Johannas Wirken in der Wirklichkeit jener Zeit und jenes Ortes – die reale Auswirkung ihres damaligen Handelns, bis zum Augenblick ihres Todes, als die Inquisition sie auf dem Scheiterhaufen verbrennt – habe ich vor kurzem mit dem Martyrium des ehrwürdigen Martin Luther King verglichen, so wie er seine persönliche Situation noch bis zum Morgen seiner Ermordung mit eigener Stimme und eigenen Worten formulierte.

Analysis situs! So wie Leibniz und Riemann diese Unterscheidung verstanden. Es war Johannas Handeln in jener besonderen Lage, die Schiller vermittelt, als Effekt jenes Augenblicks der tatsächlichen Menschheitsgeschichte, der die Entwicklung anregte, die zu solchen Ergebnissen wie der Gründung der ersten wirklich souveränen Nationalstaaten der bekannten Geschichte führte: Frankreich unter Ludwig XI. und England unter Heinrich VII. Durch die tatsächlich umfassende Auswirkung der wirklichen Johanna – getreulich dargestellt mit der Absicht einer glaubwürdigen Nachbildung für die Aufführung auf Schillers Bühne – zerbrach die Macht der jahrhundertealten ultramontanen Ordnung des mittelalterlichen Europa: das Bündnis des venezianischen Geldadels mit den normannischen Rittern. In ähnlicher Weise werden wir in den USA noch heute praktisch daran gemessen, was wir als Reaktion auf Martin Luther Kings Tod alles unterlassen haben. Martin war nicht Johanna – wieder Analysis situs! Die Kulturen sind verschieden, aber das Prinzip der menschlichen Existenz als Werkzeug zur Erschaffung der Zukunft ist der höhere Standpunkt, von dem aus die unterschiedlichen besonderen Eigenschaften der verschiedenen Zusammenhänge verstanden werden müssen.

Halten wir hier einen Moment inne, um diesen Punkt zu unterstreichen. Er ist für den Erfolg eines Dialogs der Kulturen entscheidend.

In der realen Menschheitsgeschichte findet die individuelle menschliche Existenz durch die Geschichte der lebenden Wörter ihre Bedeutung in Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart gleichzeitig. Es ist die Übertragung von Ideen als lebende Wörter inmitten von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, welche die Unsterblichkeit der einzelnen Person ausdrückt – wie der Widerhall einer alten vedischen Hymne über Astronomie in Mittelasien vor Tausenden von Jahren. Nur eine verdorbene Kultur wie die empiristische oder sophistische wird dem Menschen diese Verbindung durch lebende Wörter (d. h. wahre Ideen im Sinne der platonischen Hypothesenbildung) vorenthalten. Die „erzieherische“ Wirkung klassischer Dramen, Musik, Dichtung, Malerei, Bildhauerei und Architektur besteht darin, über das lebende Wort im Zuschauer oder Zuhörer ein Gefühl der Unsterblichkeit zu wecken. „Gestern sprach mein Geist mit dem Geist des Archimedes. Unsere Geister waren verbunden durch ein Kommunikationssystem, das uns über Jahrtausende hinweg zusammenführt.“ Die Figur auf der klassischen Bühne darf nicht Ihr Nachbar sein, der Verse aufsagt, sondern eine vielleicht längst verstorbene Persönlichkeit wie Johanna oder unser kürzlich verstorbener Held Martin Luther King, die durch das Medium der lebenden Wörter auf der Bühne wieder lebendig wird. Die lebenden Wörter verbinden die Aktualität jener Vergangenheit unmittelbar mit unserer Gegenwart und bringen so Menschen verschiedener Generationen zusammen – so wie Raphael Sanzio in seinem Fresko Die Schule von Athen sich selbst in der Gleichzeitigkeit der Ewigkeit darstellte.

Auf diese Weise wird der Mitbürger, der vom Rang aus zuschaut, durch die Verbindung zu den lebenden Wörtern, die von der Bühne aus verbreitet werden, ein Gefühl wahrer Unsterblichkeit verspüren – vorausgesetzt, Regisseur und Schauspieler lassen das Publikum diese Worte als lebende Worte fühlen. Hierin liegt das wahre Geheimnis klassischer Tragödien. Wer jenen Sinn des lebenden Wortes nicht erfasst, der hat von Shakespeares und Schillers Tragödien noch nichts Wesentliches verstanden.

Deshalb gilt für alle wahrhaft klassischen Tragödien, wie in Schillers Bearbeitungen, das strenge Prinzip geschichtlicher Genauigkeit des Historikers. Analysis situs! Bedeutungen können nicht ohne weiteres aus einem bestimmten Gebiet universeller Raumzeit zu einem anderen verfrachtet werden. Jeder Geschichtsabschnitt hat seine einzigartigen, historisch präzisen Merkmale. Hamlet ist nicht Julius Caesar. Hamlets sagenhaftes Dänemark ist nicht deckungsgleich mit der Kultur Roms zur Zeit Ciceros – des Cicero, dessen bloßer Hauch von Anwesenheit ein wichtiger Faktor des Stückes selbst ist, wie in der tatsächlichen Geschichte der Wendepunkte, die sich im Rom jenes Geschichtsabschnitts entwickelten.

Allen gemeinsam ist, in welcher Weise wir die Fähigkeit entwickeln müssen, die Gesetze zur Veränderung der Geschichte zu verstehen, die die eigentliche Grundlage der Gesetzgebung und Auslegung der Gesetze des Staates sind. Wir verbinden nicht unterschiedliche Zeiten und Orte der Geschichte durch bestimmte Handlungen als solche. Wir verbinden sie mittels der universellen Naturprinzipien, die die einzig verfügbare, wirkliche Verbindung im sich ständig wandelnden Territorium der Geschichte sind. Dafür, für die Strategie, bedürfen wir der spezifischen Methode, die alle Besonderheiten umfasst. Wir müssen Geschichte als ein Reich solcher lebenden Worte studieren, die die Unsterblichkeit aller Menschheitserfahrung und Menschheitsentwicklung in das Bild einer nahtlosen Geschichtsentfaltung einfassen, so wie der wahrhaft klassische Historiker vor uns nahtlos die Gleichzeitigkeit der Ewigkeit entfaltet. Solche klassischen Dichter und Dramatiker sind die wahren Historiker, die diese Aufgabe zu erfüllen haben.

Indem wir verschiedene historische Einzigartigkeiten begreifen, müssen wir vermeiden, „den Durchschnitt zu nehmen“, wie es Shakespeares alberner Polonius getan hätte. Wir brauchen ein Konzept, das unabhängig ist und über allen Versuchen undurchdringlicher Abschottung historischer Einzigartigkeiten steht. Das muss ein Unternehmen werden, bei dem das Werk Wernadskijs unserer Arbeit für das Zusammenspiel ganz eigenständiger Kulturen etwas Wesentliches hinzufügt.

Beispielhaft unter diesem Aspekt ist die Rolle des Geistes in Hamlet. Betrachten wir die gefühlte, aber unsichtbare Erscheinung dieses Geistes in den Schemen des Monologs im dritten Akt. Erkennen wir die Vorbereitung dieses Monologs im vorhergehenden Monolog des zweiten Akts. Es lässt sich fühlen, wie die Gewalt des tragischen Untergangs die ganze Kultur jenes sagenhaften Dänemark durchdringt, wenn wir die Schlussszene betreten, in der das Wegtragen von Hamlets Leichnam von der Bühne sich mit der Darstellung von Fortinbras‘ Torheit jenes Augenblicks überschneidet, wie er das Publikum mit seinem lüsternen Prahlen schockiert und wie der verwirrte Freund des toten Hamlet gleichzeitig den Blick von der Bühne in das Publikum richtet und es unmittelbar anspricht, fast als wäre die Figur des Chorus herbeigerufen worden.

Nun rufe man sich das Bild des Geistes und das Wechselspiel vom Beginn der Szene in Erinnerung. Shakespeare braucht den Geist, der in der Schlussszene schweigend, unsichtbar, aber doch spürbar anwesend sein muss. Denn ohne den Geist könnte Shakespeare dem Publikum nicht so leicht dieses unheimliche Gefühl über die charakteristischen Ansichten, die spezielle Art von Aberglaube und die typische Art des Umgangs aller Schichten miteinander dieser auf der Bühne gezeigten Kultur vermitteln. „Diese Typen sind alle völlig verrückt!“ „Dieses Dänemark ist ein wahrer Albtraum!“

Ja, ich kann dieses Gefühl verstehen, aber man muss mehr Sorgfalt walten lassen. Es reicht nicht aus, diese Figuren einfach als wahnsinnig darzustellen. Es muss eine ganz bestimmte Art von Wahnsinn sein, mit der man sie bei der Aufführung ausschmückt: die Idiotie, die ihrem kulturellen Goldfischglas eigen ist. Man darf nicht impulsiv in grotesker Weise gegen das Grundprinzip historischer Einzigartigkeit verstoßen. Ohne dieses Gespür für die historisch spezifische Darstellung (wenn man an die britische Geschichte denkt) oder, was von der Wirkung her das gleiche ist, für die spezifisch sagenhafte Qualität, die unheimlich in der Irrationalität aller Charaktere dieser Kultur durchscheint, wird dort – und genauso auch in Shakespeares Behandlung von Macbeth und König Lear – die wahre Absicht des Stückeschreibers nicht angemessen vermittelt. Es reicht nicht, das Stück aufzuführen; man muss es und die darin dargestellte Kultur an ihrem tatsächlich historisch-spezifischen Ort miterleben.

Die Schlussszene und das Drama Hamlet enden mit einem Appell an das Publikum: Es soll diese tragische Gewalt in der Kultur dieses Dänemark als das wahre Thema des Dramas erkennen, nicht die Person Hamlets selbst. Hamlets persönliche Armseligkeit liegt darin, dass er nur allzusehr einen überdrehten Dänen jener sagenhaften Sorte der historisch spezifischen Zeit und des historischen spezifischen Orts verkörpert. Bevor die Hauptfigur auf die Bühne tritt, muss in dem Publikum das Gefühl der Wucht des Verderbens im Sinne des Gefühls dramatischer Ironie hergestellt werden, vergleichbar mit dem großen Ausbruch zu Beginn der Ersten Symphonie von Brahms. Somit wird mit Hilfe jener Vorsichtsmaßnahme er oder sie zu einer Figur im Kampf mit den Kräften des Untergangs, die charakteristisch für seine oder ihre Kultur sind, allerdings nicht die des Lesers. Könnte er/sie den Fluch dieses Verderbens gebrochen haben, oder wird er oder sie sich nur als weiteres bedauernswertes Mitglied dieser Kultur erweisen, das sich selbst zum Untergang verurteilt hat, da es nicht den Willen aufbringt, diese Kultur so zu ändern, wie es notwendig wäre, um die Menschen vor der Kultur zu beschützen?

Dennoch hat in der klassischen Tragödie wie in der wahren Geschichte jeder Fall seine historisch spezifischen Besonderheiten. Jeder Geschichtsmoment ist kulturell einzigartig, dies aber ironischerweise innerhalb einer nahtlos kontinuierlichen, doch vielfach verknüpften Riemannschen Universalität der Gleichzeitigkeit der Ewigkeit. Solche unterschiedlichen Augenblicke der Geschichte lassen sich nicht auf eine einfache Formel reduzieren. Bei jedem wichtigen Thema eines klassischen Dramas als ganzes müssen der Dramatiker und die Schauspieler den Stoff des Dramas als ein einzigartiges Ereignis auffassen, das durch keine Formel hätte hervorgerufen werden könnte. Sie müssen auf diese Weise dem Drama eine einzigartige Lebensqualität verleihen – ein ironisches Gefühl der Gegenwart eines lebenden Wortes. Kein Drama ist wirklich klassisch – weder hinsichtlich des Aufbaus noch hinsichtlich der Aufführung –, solange das zentrale Thema des Dramas als ganzes nicht ein einzigartiger schöpferischer Akt der Hypothesenbildung einer Lösung für ein Problem ist, das nie zuvor in der Menschheitsgeschichte aufgetreten ist und nie wieder in genau der gleichen Weise auftreten wird.

In letzter Zeit fand ich es des öfteren passend, mich auf den Sieg Friedrichs des Großen über die Österreicher bei Leuthen zu beziehen, als Veranschaulichung für das Prinzip des Oberkommandierenden im wichtigsten Führungsamt einer Nation oder als ein Befehlshaber, der persönlich die Verantwortung für den historischen Ausgang eines Krieges übernimmt. Diese Beispiele drücken das Wesen des Inhalts von klassischen Tragödien aus. Friedrichs neuartiges Vorgehen angesichts einer Lage, in der sein Heer den gut ausgebildeten und fachmännisch eingesetzten österreichischen Streitkräften zahlenmäßig weit unterlegen war, war eine erfolgreiche Lösung, die einzigartig auf diese Situation zugeschnitten war. Soll man versuchen, daraus irgendeine Rezeptur für eine Art „Durchschnittslösung“ von diesem Fall abzuleiten? Dies zu versuchen, wäre Betrug; nicht nur, dass der exzentrische Friedrich auch ein schöpferisches Genie war, sein Handeln war ganz auf diese historische Situation zugeschnitten – wieder Analysis situs.

Was man aus diesem Grund lernen kann, ist: die Kleingeister unserer Kultur und ihresgleichen haben einen erbärmlichen Hang zu der Behauptung – so wie der Betrüger Claudius Ptolemäus im Römischen Reich –, nachdem Gott die Welt erschaffen hatte, müsse die Schöpfung vollkommen sein, wie er a priori beteuerte. Falls wir daher, darauf pocht der Sophist, den Gedanken zulassen, Gott selbst könne in diesem Universum eine Änderung herbeiführen, dann wäre das so, als bestehe man darauf, dass Gott Fehler gemacht hat, die er nun nachträglich ausbügeln muss. Dieser Sophist hat damit Gott beleidigt! Gott hat recht; es sind Sophisten wie Aristoteles und später sein Anhänger Ptolemäus, die unrecht hatten – wenn sie nicht einfach nur dumm waren.

Wenn wir mit dem Menschen und der Gesellschaft zu tun haben, haben wir es mit einem schöpferischen Wesen zu tun, das oft Fehler macht, aber als lebendiges Abbild Gottes geschaffen worden ist, dessen Lebensweise die fortlaufende Schöpfung ist. Wie Heraklit betonen würde, und der Platon des Parmenides pflichtet ihm bei: Im Universum gibt es nichts als Veränderung, und das ist das ontologische Wesen des Schöpfers.

Diese Sicht der Schöpfung ist für den wirksamen Komponisten klassischer Tragödien der Standpunkt, von dem aus er seine Themenwahl trifft. Der ureigene Inhalt der klassischen Tragödie ist die schöpferische Kraft (der platonischen Hypothesenbildung) des menschlichen Individuums. Es ist das Vorhandensein und das Fehlen des Eingriffs durch derartige Hypothesenbildung, woraus jede klassische Tragödie seit Platons Dramen – seine sokratischen Dialoge – zusammengesetzt wurde.

Um diesen letzten Gedankengang der Deutlichkeit halber noch einmal zu rekapitulieren, sei folgendes bedacht:

Nur die Darstellung der Notwendigkeit dieses Akts kreativer Vernunft und kreativen Willens ist der einzig angemessene Gegenstand der klassischen Tragödie; dieses Element, welches Schiller als das Erhabene bezeichnet, ob es nun in der Tragödie stattfindet oder ob es als naheliegender schöpferischer Akt hätte stattfinden sollen, es aber nicht tat , ist der Gegenstand, den das Drama im Geist des Publikums hervorrufen soll, so wie der Name des ursprünglichen Entdeckers eines gültigen Naturprinzips uns dazu verpflichtet, auf seinen Akt der Hypothesenbildung als eine Erfahrung in den lebendigen Vorgängen unseres Geistes zu reagieren. Dieser Akt der Hypothesenbildung, das Erhabene bei Schiller, ist das Wesen der gelungenen Aufführung einer klassischen Tragödie, so wie das schon für das Werk Shakespeares galt, dessen lebendes Wort, vermittelt durch das historisch spezifische Eingreifen Abraham Kästners und Gotthold Ephraim Lessings, wieder zum Leben erweckt wurde, um an der klassischen humanistischen Renaissance des späten 18. Jahrhunderts mit ihrem Zentrum in Deutschland teilzunehmen. Als Resultat der Arbeit von Kästner, Lessing u. a. lebt Shakespeare heute wieder.

Diese Einstellung zur klassischen Tragödie ist beispielhaft für den Zustand des Geistes, der erforderlich ist, bevor Fragen eines Dialogs der Kulturen erörtert werden. Die Tragödie, falls es denn mit einer solchen endet, liegt nicht an den Führern der Gesellschaft, sondern an dem, was sie nicht sind. Die eigentliche Gewalt der Tragödie liegt vor allem an der Kultur, für die der tragische Held nur allzu typisch ist.

Deshalb verabscheute Platon Entsprechendes an den klassischen griechischen Tragödien seiner Zeit: Platon vermisste in diesen von ihm kritisierten Tragödien den Kontrast zu dem, was Schiller später das Erhabene nannte.

Im Unterschied dazu seien einige Versuche betrachtet, in denen bekannte Autoren versuchten, zeitgenössische Geschichtsthemen zu bearbeiten. Zu den gelungeneren bekannten Beispielen unter den neueren amerikanischen Tragödien zählen Arthur Millers Tod eines Handlungsreisenden und Eugene O‘Neills Der Eismann kommt. Ein klassisch ausgebildeter Schauspieler wie Lee J. Cobb hätte das Ironische der Hauptfigur des Tod eines Handlungsreisenden wirksam vermitteln können: dass sie nämlich nicht das Tragische dieser Figur auf der Bühne verkörpert, sondern das Tragische der damaligen amerikanischen Kultur überhaupt. Der Eismann kommt ist für die leicht erkennbare Absicht sehr schön komponiert, aber das Publikum tendiert dazu, sich auf die Tragödie Hickeys zu konzentrieren, statt auf die Tragödie der Kultur des Volkes, deren Opfer er ist. Die Figur Hickey „lebte aus dem Fusel“, doch es war der Fusel der spezifischen Ideologie dieser Kultur, nicht Hickey selbst, die die tragische Gewalt darstellt, wie ähnlich auch für den Tod eines Handlungsreisenden dargelegt werden muss. Bei beiden Beispielen besteht die Gefahr, dass die Verdorbenheit unserer Zeit das Publikum dazu bringen würde, das Drama mit dem verwirrten Geist des typischen Romantikers zu sehen und den Kern der Tragödie in der Hauptfigur auszumachen, statt in der Gesellschaft, die jene Figur vor unseren Augen wie eine Marionette an den kulturellen Fäden ihrer Zeit und ihres Ortes herumbaumeln lässt. Die Gefahr liegt im Fehlen des Gefühls für das Erhabene, das uns, das zeitgenössische Publikum, bei unserem Erleben des entsprechenden, fruchtbaren Ausgangs der Tragödie auf der Bühne mit uns selbst in Verbindung bringt.

Da dementsprechend das Prinzip der klassischen Tragödie von diesem Bezugsthema, den Veränderungen in der Kultur einer ganzen Nation, abhängt, hätten diese modernen Tragödienschriftsteller besser daran getan, die Tragödie um eine führende Persönlichkeit jener Gesellschaft und Kultur herum aufzubauen. So könnte man es leichter vermeiden, die Tragödie als die Angelegenheit eines einzelnen zu sehen, statt im Scheitern der Führungsperson das beispielhafte Opfer seiner Unterordnung unter die Kultur der Gesellschaft zu erkennen. Die Schlüsselfigur braucht nicht gerade z. B. einer der neuesten Präsidenten zu sein, aber die schicksalhaften Entscheidungsprozesse der Nation und die Verkommenheit des amerikanischen Volks, die solch einen Hohn auf die Gerechtigkeit zulassen, müssen sich in ihr in angemessener Weise widerspiegeln. Das Thema der klassischen Tragödie ist, wie Platon und Schiller forderten, die Menschheitsgeschichte. Um die lebenden Worte des erhabenen Erlebnisses anzuführen, braucht man ein echtes historisches Thema, entweder aus bekannten Orten der Geschichte oder aus Legenden, die vergleichbare Bedeutung hatten.

Deshalb war die von O’Neill und Miller versuchte Verwendung kleiner Leute statt zentraler Figuren als Dreh- und Angelpunkt der Tragödie in dieser Hinsicht ein Fehler, wenngleich ein Fehler, den sie aufgrund der populären Erwartungen der „Theaterindustrie“ und ihres damaligen, zahlenden Publikums begingen. Sie taten ihr Bestes, und ich bewunderte das Ergebnis sehr, weil es klassische Tragödien waren. Aber ich erkannte auch, dass die verseuchte Brut von Romantikern und Existenzialisten, die sich wie Räuber inmitten der Kritiker und der Theaterzuschauer bewegten, das tiefere Verdienst dieser Werke wahrscheinlich übersehen würde.

Das Thema der klassischen Tragödie sind die notwendigen Veränderungen in der Kultur als ganzer. DeDas Thema der klassischen Tragödie sind die notwendigen Veränderungen in der Kultur als ganzer. Deshalb kann der Versuch, durch die geeignete Handlung zur Veränderung einer ganzen Kultur ein lokales Umfeld innerhalb einer Kultur zu ersetzen, offensichtlich wirksam sein, falls der Autor und der Regisseur sich dieses gerade von mir auf einigermaßen effiziente Weise dargelegten Problems bewusst sind. Die Schilderung der Hexenprozesse von Salem in Millers Hexenjagd ging als Tragödie schief, weil das Massachusetts der Zeit der Winthrops und Mathers, einer reflexartigen Reaktion auf die Hexenjagd McCarthys und Trumans in der Ära Truman willen, falsch dargestellt ist und dabei etwas herauskam, aus dem sich keine wahrhaft lebenden Wörter ableiten ließen.((Die historischen Unterlagen belegen, dass die Hexenprozesse von Salem eine Operation der erklärten politischen Gegner der Winthrops und Mathers waren, aus der langfristig die politische Basis der verräterischen Hartford-Konvention Anfang des 19. Jahrhunderts (wie die Unterstützer von Lowell und Perkins in den „Syndikaten“) hervorging. Es gibt also eine Parallele zu dem Komplex um Harriman, Russell, Truman und Alan Dulles, der das Ferment für die Hexenjagd in der Zeit vor Eisenhowers Präsidentschaft schuf. Der Angriff dieser Kräfte galt dem verstorbenen Präsidenten Franklin Roosevelt, und er hält bis zum heutigen Tag an. Ohne die Helden von Massachusetts, die für die spätere Gründung unserer Republik stehen und gegen die sich die Machenschaften von Salem richteten, macht Millers dramatische Behandlung des Stoffes keinen Sinn.))

Ein Beispiel: Vor etwa einem Jahrzehnt erhielt ich eine Führung durch eine berühmte Moskauer Maschinenfabrik, deren Name mir wegen ihrer Bedeutung während der gefährlichen Zeit der Belagerung Moskaus durch die Wehrmachttruppen wohlbekannt war. Ich hatte zu jener Zeit wie viele Menschen meiner Generation bei jener Belagerung aus der Ferne mitgefühlt. Nun beobachtete ich in einem der Räume des Fabrikabschnitts einzelne Männer bei der Arbeit, die offenbar schon so alt waren, dass ich sehr lebhaft an die Arbeiter denken musste, die im Krieg unter dem Feuer der Belagerung gearbeitet hatten. Nicht lange nach meiner Besichtigung wurde diese Fabrik stillgelegt. Als ich davon erfuhr, vergoß ich stille Tränen und dachte an einige Gesichter der altgewordenen Männer bei der Arbeit an diesen Maschinen, die man ihnen nun weggenommen hatte, und ich dachte an die Zeit der Belagerung durch die Wehrmacht. Nun sagen Sie mir: Wo ist der zentrale Kern dieser Tragödie? Der Einzelne? Oder das System? Die Gesellschaft? Trägt nicht die Gesellschaft in solchen Fällen die Schuld für das Leiden des Einzelnen?

Könnte jener Arbeiter, der mehr als alle anderen meine Aufmerksamkeit erregt hatte, im Mittelpunkt eines Dramas über die heutige nachsowjetische Gesellschaft Russlands stehen? Sicherlich, aber es muss dabei mit dem Gespür für das Wesen der klassischen Tragödie vorgegangen und die gesellschaftlichen Abläufe, die das Schicksal des Arbeiters prägten, von oben nach unten behandelt werden, so wie es in Clifford Odets Warten auf Lefty getan wurde.

Denken wir dann noch einmal an die Methoden, nach denen große klassische Gedichte oder Tragödien komponiert werden. Ich habe beschrieben, welche Absicht solche Werke prägen sollte. Welche Methode dient nun dieser Absicht?

Die lebenden Wörter

Man konzentriere sich auf den Fall, bei dem dasselbe Bild oder Wort oder dieselbe Wortfolge an jeder einzelnen von mehreren Stellen, an dem eins der genannten Dinge in einem Gedicht auftaucht, eine andere Bedeutung hat. Dennoch definiert gerade der Widerspruch – die ausführbare formale Diskontinuität (Mehrdeutigkeit) zwischen klar zu unterscheidenden Sätzen zurechenbarer Bedeutungen jenes gleichen Ausdrucks – diese Mehrdeutigkeit als einzigartigen, klar umrissenen und unterscheidbaren Gegenstand, der die Qualität eines potentiellen lebenden Wortes (in dem Sinne, wie ich oben „lebende Wörter“ definiert habe) besitzt. Diese Methode, eine solche Singularität zu erzeugen, bildet die Grundlage der klassischen Ironie, ganz so wie diese Idee durch die Erörterung in Shelleys Abhandlung Verteidigung der Poesie veranschaulicht wird.((Man vergleiche meine und Shelleys Auffassung dieses Begriffes mit den Erklärungen in William Empsons Seven Types of Ambiguity (Sieben Arten der Mehrdeutigkeit), worauf schon weiter oben Bezug genommen wurde.)) Indem wir dem durch eine derartige Diskontinuität dargestellten Unterschied den Wert eines Namens zuordnen, haben wir, als Dichter oder als empfindsames Publikum, die vorhandene Sprache benutzt, um unserem intellektuellen Vokabular ein neues Konzept, einen neuen Ausdruck hinzufügen. Dadurch nehmen tote Wörter eine lebende Bedeutung an.

Solcher Art ist die Ironie beschaffen, die die jeweils verwendete Sprache als lebende Sprache bestimmt, nicht durch ihre Form an sich, sondern durch die ironische Art und Weise, in der sie benutzt wird. Im Rahmen der vorhandenen Möglichkeiten, einen stehenden nominellen Wortschatz zu verwenden, werden Bedeutungen lebender Wörter entwickelt – man beachte hier insbesondere Bedeutungen universeller Naturprinzipien. Falls die Bedeutung eines Begriffs, sein Bezug, sich anhand seines Platzes in einem deduktiven System definieren lässt, ist er kein lebendes Wort, solange man ihn in jenem Sinne gebraucht. Es muss eine sinnvolle funktionelle Diskontinuität im Gebrauch des Wortes geben, die gewährleistet, dass der Geist das Vorhandensein eines solchen Gedankenobjekts spürt.((So wie die Darstellung einer physikalischen Funktion durch einen Begriff des mathematischen komplexen Bereichs – beispielsweise bei Gauß oder Riemann – sich auf ein Naturprinzip bezieht, das vorhanden ist und wirkt, sich aber nicht unmittelbar als Gegenstand durch Sinneswahrnehmung erfassen läßt. Siehe z. B. Gaussens Angriff in seiner Dissertation aus dem Jahr 1799 auf die Empiristen d’Alembert, Euler und Lagrange, u. a., welche tatsächlich die Existenz der Leibnizschen Infinitesimalrechnung (d. h. des Prinzips der universellen physikalisch geringsten Wirkung) zu bestreiten versuchten, obwohl hier tatsächlich der von Gauß, Riemann u. a. entwickelte komplexe Bereich zu verorten ist. Man vergleiche damit das Prinzip der Elektrodynamik, wie es Ampère und Weber mit Hilfe von Gauß sowie Riemanns Rolle als Experimentalist entwickelten.))

Die Folgerung ist, dass allerdings eine Sprache, die auf diese Weise gebraucht wird, dadurch neue Diskontinuitäten erzeugt, die neu entdeckten existierenden Zuständen in dem durch diese Sprachnutzung dargestellten Universum entsprechen. Das ist die praktische Art, wie wir verschiedenen astronomischen Objekten, neu entdeckten Naturprinzipien und anderen realen geistigen Begriffen, die durch ihre strenge Definition, wie durch ihr Vorhandensein als Diskontinuitäten in Erscheinung treten, ihren Namen geben. Solcher Art war z. B. die Methode Keplers, der als erster ein Universalprinzip der Schwerkraft definierte, oder vorher von Archytas, der eine eindeutige Lösung zur Erzeugung der Würfelverdoppelung durch kontinuierliche geometrische Wirkung definierte. Das ist auch das unverzichtbare aktive Prinzip klassischer Formen künstlerischer Komposition.

Es ist der natürliche Ausdruck der künstlerischen Kreativität, auf die sich Shelleys Verteidigung der Poesie bezieht: die Umwandlung einer Sprache durch Perioden im Leben einer Nation, die von einer Zunahme der Fähigkeit, tiefgreifende und leidenschaftliche Gedanken über Menschen und Natur aufzunehmen und weiterzugeben,((Shelleys wichtigster Bezugspunkt war an dieser Stelle nicht nur die Amerikanische Revolution von 1776–89, sondern die ganze Welle humanistischen Aufschwungs, die in Deutschland um Persönlichkeiten wie Abraham Kästner, dessen Schüler Lessing und Moses Mendelssohn entstand und sich allgemein auf die europäische Kultur ausweitete. Die Schrecken des Jakobinerterrors und das Wüten Napoleon Bonapartes verdarben diesen humanistischen Aufschwung, und daraufhin breitete sich kultureller Pessimismus aus, der sich u. a. in der romantischen Reaktion auf Napoleons Tyrannei, dem folgenden Wiener Kongreß unter der Gewaltherrschaft Metternichs und dem Protofaschismus der Hegelschen Geschichts- und Staatstheorie niederschlug, die bis zu Adolf Hitler und darüber hinaus wirkte. Shelley und Heinrich Heine, der die Romantische Schule in Deutschland verurteilte, waren gefangen im zeitlich bedingten Abebben des klassischen Ferments in der Kunst – auch wenn beispielsweise Schumann und Brahms später noch viel erreichten. Es war noch kein Ende, aber ein ganz beträchtlicher Abschwung. So fiel auch der Tod von Gauß, Dirichlet und Riemann in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts mit dem Ende der an Tiefe und Breite fruchtbarsten Periode der Wissenschaft in Europa zusammen, und seither gewannen immer mehr die Reduktionisten die Oberhand.)) geprägt sind. Diese Fähigkeit drückt sich als Vermittlung eines lebenden Wortes aus.((Die Stelle in einer Äußerung, an der sich eine Idee befindet, markiert die Existenz einer Diskontinuität. Diese Markierung entspricht dem Ort, wo eine Idee erzeugt wird, im Sinne von Platons Begriff der Wirkung nach dem Hypothesenprinzip. Mit dem experimentellen Nachweis, dass eine solche hypothetische Idee einzigartig wirksam ist (d. h. ein einzigartiges Experiment im Sinne Riemanns), ist ein universelles Naturprinzip aufgestellt.))

Die Vermittlung der Bedeutung irgendeiner Aussage muss durch die Überprüfung der Anwesenheit solcher lebenden Wörter erbracht werden. Nur lebende Wörter bezeichnen Ideen im strengen, technischen Sinn des Wortes. Man erkennt eine Idee in einer Aussage an der An- oder Abwesenheit dieser Idee als lebendes Wort, dessen Bedeutung die Frucht derselben Art geistigen Vorgangs ist, der mit der Neubildung einer Idee aus den Anhaltspunkten des speziellen Problems, das sie löst, in Verbindung steht – etwa wenn ein heutiger Schüler Archytas’ Konstruktion der Würfelverdoppelung wieder durchlebt.

So wird beispielsweise die Idee, den Erdumfang zu wissen, zu einem lebenden Wort im Geist desjenigen, der es verwendet, wenn er das Experiment wieder durchlebt hat, mithilfe dessen Eratosthenes um 200 v. Chr. den Großkreis der Erde durch Beobachtungen in Tiefbrunnen an zwei Orten entlang einer Nord-Süd-Strecke in Ägypten und dann mit der gleichen Methode die Großkreisentfernung vom ägyptischen Alexandria nach Rom maß. Der Beweis der sogenannten „Sonnenhypothese“ des Aristarch von Samos ist ein ähnlicher Fall, den man z. B. mit den bekannten Komponenten des Werks von Thales früher zu vergleichen hat. Die Ansammlung solcher nachgestellten Entdeckungen grundlegender wissenschaftlicher Beweise bildet die notwendige, ordentliche Grundlage für die Entwicklung dessen, worauf wir abzielen sollten, nämlich das, was im jugendlichen Geist als Gefühl wissenschaftlicher Alphabetisierung hervorzurufen ist.

Erathostenes
„Erathostenes lehrt in Alexandria“ – Bernardo Strozzi

So beginnt z. B. die zur Debatte stehende Idee in Carl Gauß’ Angriff auf die Behandlung der Algebra durch d’Alembert, Euler und Lagrange für den heutigen Schüler zu einem lebenden Wort zu werden, wenn der Ursprung von Eulers Fehler vom Schüler durch Cardanus’ und anderer Arbeit an Kubikwurzeln von der Würfelverdopplung bei Archytas’ Freund Platon aus zurückverfolgt wird. Das führt zu einer erweiterten Erkenntnis, die Eulers Schwindel im Kern angreift: die Leibniz-Bernoulli-Entdeckung dessen, was als auf der Kettenlinie beruhende, verbesserte Form des Prinzips der Infinitesimalrechnung Bekanntheit erlangte, nämlich Leibniz’ Prinzip der universellen physikalisch kleinsten Wirkung. Diese Verbindung von Leibniz zu Gauß führt zur Verallgemeinerung des mathematisch-physikalischen Prinzips des komplexen Bereichs von Gauß, Riemann und anderen.

Ich wähle diese Veranschaulichung, um die Denkweise aufzuzeigen, die benötigt wird, um die Frage auf eine Weise anzugehen, die am direktesten relevant für die hier vorliegende Konzeption ist.

Diese Ideen, die nur „zwischen derartigen Brüchen“ existieren, sind lebende Wörter in dem spezifischen Sinn, für den der deutsche antikantianische Philosoph Herbart in seiner Einführung des Begriffs Geistesmasse eine spezielle Bedeutung verwendet. Bernhard Riemann erkannte Herbarts Bedeutung der Antizipation eines sowohl naturwissenschaftlichen als auch geisteswissenschaftlichen Konzepts an. Tatsächlich ist es bei beiderlei Verwendung nicht bloß ein angemessener Fachausdruck des Spezialisten. Der Begriff entspricht, auch wenn er heute selten mit derselben Bedeutung gebraucht wird, der wesentlichsten Vorstellung in der ganzen klassischen Philosophie. Er verweist auf etwas, das zumindest oberflächlich dem ähnelt, was der Psychologe Wolfgang Köhler „Gestalt“ nennt, auch wenn dieser Begriff eine weit gröbere Vorstellung der entsprechenden geistigen Funktion hat. Damit sind wir an einem Grenzbereich des wesentlichsten Arbeitsbegriffes beim Versuch eines Dialogs der Kulturen angelangt.

Wie ich in entsprechenden Veröffentlichungen wiederholt betont habe, entspricht der menschlichen körperlichen Erfahrung um den Einzelnen herum keine unmittelbare Erkenntnis der wirklichen Welt, die er wahrnimmt, sondern seine Auslegung der Reaktion seines Sinnesapparates auf die Begegnung mit der Welt, die jenseits seiner Sinne existiert. So kann der Blinde in der Tat sehen. Die menschliche Wahrnehmung jener Welt außerhalb erzeugt potentielles Wissen der Realität auf zwei aufeinanderfolgend höherstehenden Ebenen über die Sinneswahrnehmung als solche hinaus. Eine derartige Erfahrung heißt platonischer Realismus. Es ist der platonische Realismus, der dem Werk von Cusa, Leonardo da Vinci, Kepler, Leibniz, Gauß, Riemann u. a. zugrunde liegt. Es ist dieser platonische Realismus, der aus Wernadskijs Konzeption der Noosphäre hervorbricht.

Auf der erste Stufe behandeln wir nun die geistigen Vorgänge, von denen Köhler sagt, dass sie Affen und Menschen gemein haben. Der Strom von Eindrücken, der auf die Sinnesorgane des Kleinkinds einwirkt, wird zu einer Welt benennbarer Sinnesobjekte „entschlüsselt“. Diese Objekte stellen sich dem Kind nicht direkt dar, sondern sind das Ergebnis des Aufschlusses der Sinneserfahrung durch die Gesamtheit der menschlichen geistig-körperlichen Vorstellungskraft des Kindes. So wird durch den gesunden Geist des Kindes aus einem nicht zu bewältigenden Strom von Wahrnehmungen eine verständliche Ansammlung spielerischer Objekte und Objektbeziehungen.

Auf der zweiten Stufe kommt es zu einer ähnlichen Entwicklung auf einer qualitativ höheren Reaktionsordnung, eine Reaktion, die es nur beim Menschen gibt und nicht bei den Menschenaffen: die Entdeckung einer höheren Ordnung des geistigen Objekts, die z. B. der Entdeckung eines experimentell definierten Naturprinzips entspricht.

Diese höhere Ebene ist in der klassischen Kunst zu finden, wo Herbart für die Erziehungsarbeit den Fachausdruck „Geistesmasse“ verwandte, und in der Wissenschaft, wo Riemann sie mit seinem Begriff „Dirichlets Prinzip“, nach seinem Lehrer und Amtsvorgänger Lejeune Dirichlet, verbindet. Dieser Berührungspunkt der beiden Verwendungen der Bedeutung des Begriffs der „Geistesmasse“ ist der Schlüssel zu einer vernünftigen Herangehensweise an einen Dialog der Kulturen. Die mit diesem Begriff der „Geistesmasse“ verbundene Vorstellung verweist auf den zentralen Gedanken einer Kulturwissenschaft, der Wissenschaft, die einem Dialog der Kulturen angemessen ist.

Das bringt uns zum physikalischen – statt bloß formal mathematischen – Begriff des komplexen Bereichs. Der Gedankengang, den ich schon oft bei anderen Gelegenheiten beschrieben habe, lässt sich wie folgt zusammenfassen.

Riemanns besonderer Bezug auf seine Verwendung des Begriffs der „Geistesmasse“ erscheint nur als Einzelthema in einer Reihe verwandter, teilweise bruchstückhafter Schriften, die erst nach seinem Tode veröffentlicht wurden. Nichtsdestoweniger ist die Vorstellung, die er mit seiner Verwendung jenes Begriffs in dem posthum erschienenen Werk in Verbindung bringt, pädagogisch für ein besseres Verständnis praktisch unverzichtbar, wenn sich der Lernende heute etwa mit seinen Hauptwerken wie seiner Habilitationsschrift oder zur implizit physikalischen Geometrie der Abelschen Funktionen befasst. Diese Konnotation seiner (und stillschweigend auch Herbarts) Verwendung des Begriffs „Geistesmasse“ führt uns unmittelbar wieder zurück zur Behandlung der Frage des lebenden Wortes. Dieses Riemannsche Gespür für den Begriff des lebenden Wortes ist wesentlich für die deutliche Einsicht in die besondere Bedeutung von Wernadskijs Verwendung des Noosphärenbegriffs, um die drängenden Fragen der Realwirtschaft und Kultur der heutigen Welt zu definieren. Riemann meint das lebende Wort, wenn er von Geistesmasse spricht.

Es ist ein Konzept und Gedankending, dessen Aktualität sich in mathematisch-physikalischen Begriffen nur durch eine Vorstellung des physikalischen – statt bloß mathematischen – komplexen Bereichs ausdrückt.

Wir nehmen die Gegenstände unserer Umgebung nicht unmittelbar wahr. Was wir eher wahrnehmen, ist der Eindruck, den die Welt um uns herum auf uns macht, so wie unser Geist diesen Eindruck auf unseren biologischen Sinnesapparat beurteilt. Wir erreichen dies auf eine Art und Weise, dem Kleinkind nicht unähnlich, welches einen Strom von wahrgenommenen Sinneseindrücken in ein verständliches Gebiet von Gegenständen übersetzt. Aber es besteht in der Hinsicht ein qualitativer Unterschied zwischen Tier und menschlichem Geist.

Die Schwerkraft beispielsweise wird von den Sinnen auf allerlei Weise wahrgenommen, sie ist aber an sich nicht ausdrücklich ein Gegenstand der Sinne, noch lässt die Schwerkraft sich in einen Gegenstand verwandeln, so wie der Geist des gesunden Kindes einen Strom von Wahrnehmungen auf Gruppen unterscheidbarer Gegenstände reduziert. Ungeachtet dessen ist die Schwerkraft, wie Kepler sie definiert, ein existierender, wirksamer Gegenstand des menschlichen Geistes. Sie wird zu einem solchen bekannten Gegenstand, wenn wir sie mittels der Fähigkeit, die mit dem Begriff der lebenden Wörter verbunden ist, erkannt haben. Sie ist dann ein Gegenstand derjenigen höheren Funktionen des menschlichen Geistes, des Bereichs wahrer Ideen, denen wir sonst im Zusammenhang mit der Ironie in der klassischen Poesie oder Tragödie begegnen. Hier ist also die Stelle in den geistigen Abläufen des Menschen, wo strikt klassische Formen künstlerischer Komposition und Naturwissenschaft, richtig definiert, ein und dasselbe Thema werden.

Alle wahren, universellen Grundsätze der Naturwissenschaft haben dieses gleiche Merkmal.

Hier haben wir das Mittel gegen C. P. Snows Paradox der „zwei Kulturen“. Hier liegt der unabdingbare Schlüssel für ein erfolgreiches Format eines Dialogs der Kulturen.

Innerhalb dieser Einheit gibt es nichtsdestoweniger einen untergeordneten qualitativen Unterschied zwischen den beiden. In der Naturwissenschaft liegt unser Hauptaugenmerk auf der Entdeckung von Gegenständen höherer Ordnung im physikalischen Bereich, sowohl nichtlebende als auch lebende Gegenstände, als die für solche Bereiche spezifischen Vorgänge. In der klassischen künstlerischen Komposition hat sich das Verhältnis der Noosphäre zur Biosphäre verlagert: Es sind die sozialen Vorgänge selbst, die als Mittler zwischen dem Geist des Einzelnen und dem funktionalen Verhältnis der Gesellschaft zur Biosphäre dienen. Im höheren Bereich wirkt der Einzelne auf die Biosphäre durch die Vermittlung seines Wirkens auf die Gesellschaft als sozialer Vorgang. Die Schwierigkeiten, die diese Konzeption der Angelegenheit aufwirft, lassen sich größtenteils lösen, wenn man sich auf die erkenntnistheoretische Bedeutung von Wernadskijs Noosphärenbegriff bezieht.

Wir werden uns jetzt dieser ausschlaggebenden Frage zuwenden, um dann im nächsten Kapitel auf die Diskussion der Funktionen der Erkenntniskraft des Einzelnen zurückzukommen. Vorher gehen wir ausdrücklich auf die Schwierigkeit ein, die nach unseren bisherigen Ausführungen eine Spannung im Geist des Lesers aufgebaut haben dürfte: Was ist der menschliche Geist, physikalisch betrachtet?

Wernadskijs Riemannsche Definition der Noosphäre stellt uns ein Universum vor, das sich als vielfach verknüpfte physikalische Geometrie aus drei experimentell unterscheidbaren Qualitäten universeller Naturgrundsätze zusammensetzt. Jede dieser drei ist durch das gekennzeichnet, was Riemann als die einzigartige experimentelle Beweismethode anführt, die mit der Entdeckung jedes universellen Naturgrundsatzes in Verbindung steht.

Auf der untersten der drei Ebenen, der sogenannten anorganischen oder präbiotischen, schließen wir diejenigen Abläufe ein, deren experimenteller Nachweis elementarer Existenz die Annahme der ursächlichen Mitwirkung durch ein Prinzip des Lebens weder erfordert noch erlaubt. (Damit weisen wir den radikal positivistischen Gegnern einer solchen Idee des Lebens, wie z. B. dem für die „Künstliche Intelligenz“ berüchtigten John von Neumann, ihren Platz in den rein anorganischen Ascheimern an, worin sie ihr Dasein ohnehin von vornherein vorgesehen haben.) Die zweite, vergleichsweise höhere Ebene ist die der Vorgänge, die als lebende Vorgänge auftreten, für welche Louis Pasteurs Tradition die entsprechende experimentelle Herangehensweise zur Erzielung des Ergebnisses beschrieben hat. Die dritte ist der Bereich, der durch jene kognitiven Prozesse des schöpferischen (noetischen) individuellen menschlichen Geistes definiert ist, durch die Entdeckungen universeller Naturgrundsätze wie die Keplers geschehen und ohne die solche Entdeckungen sich nie ereignen würden.

Der Bereich der kombinierten anorganischen und lebenden Vorgänge ist die Biosphäre. Der Teil der Biosphäre unter der schöpferischen Herrschaft der menschlichen Erkenntnis ist die Noosphäre.

Wernadskij mit Tochter
Der ukrainisch-russische Wissenschaflter Wladimir Wernadskij (1863–1945) mit Tochter Nina

Alle drei Wirkungsbereiche (Kräfte) sind untereinander vielfach verknüpft im Riemannschen Sinne des Begriffs. In Wernadskijs Biogeochemie beziehen wir diese Sicht auf den sich entfaltenden Zustand des Planeten Erde hinsichtlich seiner Zusammensetzung in Bezug auf den in Veränderung begriffenen relativen Anteil an Fossilien, eine Anordnung, in der das Abfallprodukt eines Vorgangs zum möglichen Kapital eines anderen und der Schlüssel zum Verständnis und zur Bewältigung der sogenannten „Rohstoffprobleme“ unserer Zeit wird. Dann wäre die offensichtliche Bestimmung der Existenz unseres Planeten, seine Selbstentfaltung, auf diese beiden Bezugspunkte beschränkt. Allerdings kommen wir, als Menschheit, dann als zunehmend bedeutsamer Faktor ins Spiel, indem wir quasi wie von außen und von oben in die Entwicklung des Planeten eingreifen.

Es gibt heute keine Rohstoffkrise dieses Planeten auf diesem Planeten. Es gibt nur eine Krise, die durch die Dummheit der modernen Physiokraten entstanden ist, die unter wissenschaftlich völlig ungebildeten Männern und Frauen mit allzuviel Finanzkraft für sich oder für das Wohl des Planeten eine Rohstoffkrise erzeugt.

Gegen diese Sicht gibt es keinen kompetenten Einwand. Die Fossilien, wenn vom Standpunkte Wernadskijs untersucht, beweisen es. Könnte keine Zunge reden, würden doch die Fossilien aussagen, dass dies die Wahrheit der Existenz unseres Planeten ist, von seinen Ursprüngen bis zur heutigen Zeit. Dies ist die ausdrückliche Absicht des Schöpfers, die da ausgebreitet liegt.

Das verstörendste Merkmal der Sicht Wernadskijs solcher Wirkungen ist, dass sie alle Versuche widerlegt, die Rolle der menschlichen Schöpferkraft auf eine Art und Weise zu erklären, die Kreativität in einem Gehirn ausmacht, das nur zur Biosphäre gehört. In dieser Hinsicht wird derjenige, der die Bedeutung dessen, was ich bisher geschrieben habe, zu begreifen beginnt, von einer schleichenden Beunruhigung erfaßt. Für diejenigen Leser, die besonders empfindlich sind, macht sich an dieser Stelle meines Berichts schon eine unheimliche Vorahnung bemerkbar.

In der modernen Gesellschaft neigen wir zu der Auffassung, wir selbst verkörperten alle wesentlichen Eigenschaften des Lebens und auch der Persönlichkeit innerhalb der Grenzen eines biologischen Vorgangs als solchem. Aber wie das Verhältnis der wachsenden Ansammlung der von Wernadskijs höhergestuften Klasse von Fossilien zur menschlich gesteigerten Leistung im Universum belegt, gibt es eine Macht, die nicht auf den Bereich der Biosphäre begrenzt ist und die für all dies hinsichtlich unserer menschlichen Existenz verantwortlich ist. Etwas Höheres greift in die biologischen Abläufe des einzelnen lebenden Menschen ein, um die Wirkungen, die wir mit der Noosphäre und ihr allein verbinden müssen, hervorzurufen. Genau dies erfahren wir, inmitten seines Wirkens, beim Vermitteln einer Idee als lebendem Wort, wenn ein früherer Einschnitt in der beschriebenen Art und Weise wiederbelebt wird, wie ihn uns etwa ein längst verstorbener Archimedes aus dem Altertum hinterlassen hat, damit er heute im Geist eines Schülers wiedergeboren werden soll.

Wenn man darüber nachdenkt, muss es uns dämmern, dass die ganze Menschheit aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft die Beschaffenheit einer pulsierenden Masse von Selbstentwicklung hat, wie in einer Art Gleichzeitigkeit der Ewigkeit, eine Gleichzeitigkeit, die sich als Kontinuität durch die gesetzmäßigen Wiederbelebungsvorgänge durch lebende Wörter ausdrückt. Wir fühlen uns an diesem Punkt in unseren Überlegungen mit Recht getröstet, denn die Vorstellung der geistigen Wirklichkeit ist jetzt wissenschaftlich klar. Wie im Fall der wirklichen, historischen Johanna von Orleans, wie sie von Schiller dargestellt wurde, reißt das Gefühl einer wahren Basis für den Begriff der menschlichen Unsterblichkeit, anstatt dem einer kindlich fantastischen, das Selbstwertgefühl hinauf und weg von Hamlets Angst vor dem „Land, von dem noch kein Wanderer zurückgekehrt ist“, und vervielfacht die geistige Kraft des Einzelnen für seinen Beitrag zum beständigen Fortschritt der Menschheit und zu dem noch höheren Zweck, dem eine – vom Schöpfer – geliebte Menschheit in ihrem Dasein noch dienen soll.

Das wäre für sich genommen schon eine große Wohltat für eine Menschheit, die heute durch Staatsführer so gefährdet ist, die aus Angst vor einer Sterblichkeit, die noch schlimmer ist als der normale Tod, feige oder korrupt werden. Ihre Ängste vor Unsterblichkeit machen aus ihnen Hamlets oder schlimmeres.

Sprechen wir kurz über den Schlüssel dazu, wie man den Punkt bezüglich der „Hamlets“, den ich gerade herausgehoben habe, in die Form eines lebenden Wortes übersetzt.

Ich erzähle eine Seite aus meinem Leben

Während der Zeitspanne von 1983–1989 geriet ich wegen der Auswirkungen meiner Rolle bei dem Vorschlag, den Präsident Ronald Reagan am 23. März 1983 als „Strategische Verteidigungsinitiative“ (SDI) machte, in Lebensgefahr. Der sowjetische Generalsekretär Jurij Andropow lehnte sogar Präsident Reagans Vorschlag einer Diskussion dieses Angebots kurzerhand ab, und aus verwandten Gründen drohte meinem Leben Gefahr sowohl von Kräften in führenden Kreisen der USA als auch spätestens ab Anfang 1986 von der sowjetischen Regierung jenes Generalsekretärs Gorbatschow, dessen häufige Drohungen ebenso reichlich und weitverbreitet wie unheilvoll waren.

Reagan SDI
US-Präsident Ronald Reagan (1911–2004) bei der Bekanntgabe der von LaRouche geschaffenen Strategischen Verteidigungsinitiative 1983.

So geschah es vom 6. zum 7. Oktober 1986, kurz vor dem „Gipfel“ zwischen Reagan und Gorbatschow in Reykjavík, dass eine Streitkraft von mehr als 400 bewaffneten Beamten, darunter sogar Sondereinheiten mit gepanzerten Fahrzeugen, nach Leesburg in Virginia und Umgebung kam, mit einer geplanten Operation beauftragt, die keinen anderen Ausgang haben konnte als mich und zahlreiche andere an dem Ort, wo ich mich damals aufhielt, umzubringen. Höhere Stellen meiner Regierung griffen am Morgen des 7. Oktober ein, so dass diese beabsichtigte Mordoperation eingestellt wurde. Doch dieser kurzfristig abgebrochene Plan für meine Ermordung und das folgende abgekartete juristische Vorgehen gegen mich aus dem Justizministerium und anderen Stellen in den Jahren 1983–89 und darüber hinaus waren ein und dieselbe Sache. Man ließ mich später wissen, wenn es mir gelänge, mich dem juristischen Komplott erfolgreich zu entziehen, würde man mich beim nächsten Mal mit Sicherheit umbringen.

Ich komme hier wieder auf diese Angelegenheit, weil sie als Beispiel wirksam und dramatisch vor Augen führt, wie sehr es den maßgeblichen Politikern in Europa und den Vereinigten Staaten heute an politischem Mut und Nervenstärke fehlt, eine Erfahrung dieser Kreise, die absticht von meiner Vorahnung des persönlichen Risikos, das ich durch meine Führungsrolle in Fällen wie der SDI-Angelegenheit einging.

In dieser Hinsicht war es ein glücklicher Zug, der aus der Erfahrung meiner Familienerziehung und der allgemeineren Erfahrung unserer Gesellschaft in den letzten etwa 80 Jahren herrührt, dass mich als Erwachsener niemals Furcht davon abhalten konnte, manchmal sogar Gefahren für mein Leben einzugehen, wenn ich mich dazu moralisch verpflichtet fühlte. Es gab viele andere Ereignisse in meinem Leben, die jenen Punkt veranschaulichen, darunter mindestens ein oder zwei weitere geplante Mordanschläge, die sich zwar weit weniger dramatisch darstellten als das Geschehen vom 6. zum 7. Oktober 1986, die aber in gehörigem Maße dasselbe grundsätzliche Merkmal des heutigen öffentlichen Lebens in Europa, den USA und anderswo zum Ausdruck brachten. Weil ich selbst beinahe mit einem solchen Schicksal Bekanntschaft gemacht hätte, verstand ich sehr deutlich, was einem Walther Rathenau, Kurt von Schleicher, Martin Luther King, Aldo Moro, Jürgen Ponto, Indira Gandhi oder Alfred Herrhausen widerfahren war.

Über diese Erfahrungsspanne habe ich eine andere Facette dieses Musters kennengelernt: Hauptsächlich infolge des Einflusses der Propaganda und verwandter Unternehmungen des „Kongresses für kulturelle Freiheit“ haben wir seit jener Zeit einen viel kleineren Anteil möglicher Führungspersönlichkeiten für Krisenzeiten hervorgebracht – weit weniger, als ich es noch als Jugendlicher und junger Erwachsener beobachten konnte. Das eigentliche Verbrechen der Existenzialisten – einschließlich der moralisch verkommenen Vertreter der Frankfurter Schule wie Theodor Adorno und Hannah Arendt – besteht darin, dass sie es darauf anlegten, ebendiese Idee, wahrhaftig zu sein, aus unserer Kultur auszumerzen. Durch diese Wirkung ist die Kapazität für wahre Führung größtenteils beeinträchtigt, wenn nicht gar ausgelöscht.

Hauptsächlich infolge dieses existenzialistischen Feldzuges glauben wenige aus der sogenannten „68er-Generation“, wenige der typischen Studienanfänger vom Ende der 1960er Jahre noch so weit an die Wahrheit, dass sie bereit wären, für irgendeine Sache im Dienst der Wahrheit (im Gegensatz zu irgendwelchen romantischen Schwärmereien) ihr Leben aufs Spiel zu setzen. Sie neigen dazu, sich entweder vor Angst schlotternd in irgendeinem Mauseloch zu verkriechen oder aber mit entblößter Brust eine selbstmörderische Flucht nach vorn anzutreten. Sie glauben nicht mehr daran, dass die Wahrheit wirksam existiert, und das haben wir so korrumpierten Geschöpfen wie Adorno oder Arendt zu verdanken.

Dieses gemeinsame Syndrom bei den Nachkriegsgenerationen auf dem amerikanischen Kontinent und in Europa ist somit eine besondere Art des Ausdrucks eines „Hamlet-Problems“. Das sichtbare Verhalten des amtierenden Präsidenten der USA ist hier nur ein typisches, wenn auch extremes Beispiel, wie weit ein übellauniger, verzogener, einfältiger Bengel bei seinen Ausbrüchen extremer, kaleidoskopischer Labilität, in seinen öffentlichen Zurschaustellungen moralischer und allgemein intellektueller Verderbtheit gehen darf.

Der entscheidende Punkt, den ich hier und jetzt betonen möchte, ist der Wesenszusammenhang zwischen einem Sinn für Wahrhaftigkeit und Unsterblichkeit, ganz besonders hinsichtlich der politischen Führung der Gesellschaft für Krisenzeiten wie der gegenwärtigen.

Das intelligente Mitglied unserer Kultur weiß, dass wir alle letztendlich sterben. Diese Gewißheit der sich entwickelnden Persönlichkeit eines Erwachsenen führt zu einer bestimmten Art geistiger und moralisch gesunder Einstellung zum eigenen Leben, in der man das sterbliche Leben als ein Talent, das am Ende auf jeden Fall verbraucht sein wird, behandelt – das Gleichnis von den Talenten aus dem Neuen Testament erinnert uns daran. Statt sich also hysterisch an die bloß sinnliche Erfahrung des Lebens im Jetzt zu klammern, denkt ein wirklich erwachsener Mensch an die Bedeutung dessen, was er oder sie mit diesem sterblichen Leben anfängt, solange er oder sie es hat, und denkt daran im Hinblick auf die Art von Welt, die er bei seinem unvermeidlichen Ableben hinterlassen wird.

Für denjenigen, der die Sterblichkeit des einzelnen so auffaßt, besteht die größte übriggebliebene existenzielle Furcht darin, er könne vielleicht am Ende sein Leben vergeudet haben, weil er nichts wirklich Nützliches für spätere Generationen oder zur Ehre früherer Generationen beigetragen hat. Damit wird Gewißheit in der Frage der Wahrheit – wie Wahrhaftigkeit nur mit dem in Verbindung gebracht werden kann, was ich bezüglich lebender Wörter gesagt habe – zum alles überragenden Antrieb für das Handeln im Leben, wie es bei mir gewesen ist.

Ein solche Person spürt sicherlich keinen Drang zu einem frühen Tod. Im Gegenteil, die Erfahrung, seiner Lebensaufgabe zu dienen, stärkt den Lebenswillen, ja „Lebenshunger“: Man schüttelt die Nöte und Gebrechen des Alters ab, um weiter daran Freude zu haben, an dem zu arbeiten, was man wahrhaftig als sein Lebenswerk ausgesucht hat.

Das soll nicht heißen, dass mir immer schon klar war, wofür ich mich im Laufe meines Lebens entscheiden würde. In manchem war ich mir schon seit der Kindheit sicher, und im Laufe der Jahrzehnte wurde es immer mehr. Dennoch ist und war für alle von uns, die wahrhaftig zu entscheiden und zu handeln suchten, die Suche nach der Wahrheit und die sozusagen reflexartige Bereitschaft, notfalls dabei das Leben zu riskieren, der wichtigste Teil an der eigenen Identität als sterbliches Wesen.

Nachdem soviel über das Thema im allgemeinen gesagt wurde, ist der folgende Punkt zu betonen – und es sollte offensichtlich sein, warum das den Dialog der Kulturen grundsätzlich betrifft –: Die Frage der Wahrheit ist entscheidend, ganz besonders für eine Zivilisation, die so bedroht ist wie die gegenwärtige. Wenn in den maßgeblichen Kreisen auf der Welt hamletartige und noch schlimmere Feigheit um sich greift, ist das deshalb die größte Gefahrenquelle für die Menschheit überhaupt. Sollte man also beim Dialog der Kulturen das axiomatisch Unvereinbare einfach so hinnehmen, wie das bei den entsprechenden Kreisen heute eine unübersehbare Tendenz ist, so wäre die Folge mit Sicherheit eine weltweite Katastrophe – weil es in hohen und anderen Positionen an Mut fehlt, der Wahrheit ins Auge zu sehen.

Verstärkt wird diese Gefahr wiederum durch die Ausbreitung von Existenzialismus und wahrheitsfeindlichem Fanatismus, der sich z. B. in verschiedenen Sorten von „religiösem Fundamentalismus“ ausdrückt, allem voran jene rechten, religiösen Fundamentalisten, die den harten Kern der Unterstützerbasis von Präsident George W. Bush bilden.

Er hat sich als Präsident hervorgetan, der lügt, wie er es zu allen wesentlichen Fragen seiner Zeit getan hat. Er log über den Irakkrieg, er log über seine Mitverantwortung für die Folter von Kriegsgefangenen und er log über seine Absicht, dem Volk die Rentengelder zu stehlen, damit sich gewisse Geldadelinteressen unter seinen Unterstützern bereichern und diese Beute aufteilen würden. Er wählt seine politischen Ziele aus, indem er an die Stelle der Wahrheit seine persönlichen, gewöhnlich irrationalen Gefühle setzt. So handelt er wiederholt – wenn er denkt, dass er sich bei etwas in diesem Augenblick wohlfühlt, ist es das, was er tun wird, ohne Rücksicht auf die Folgen für ihn selbst, seine Nation oder die Menschheit insgesamt. Eben weil dieser fundamentalistischste Präsident der jüngeren Zeit sich in vielen entscheidenden politischen Fragen auch als der landesweit größte, vielleicht unmoralischste Lügner erwiesen hat, hängt heute nicht nur über den USA, sondern quasi über allen Teilen der Welt in ihrem Einflussbereich eine dunkle Wolke des drohenden selbstverschuldeten Untergangs.

Dieses Problem ließe sich in den Griff bekommen, wenn die Völker allgemein, insbesondere in den USA, gewillt wären, sich ohne Rücksicht auf eigene Furcht oder Vorteil für die Wahrheit einzusetzen. Das gilt insbesondere für politische und andere verwandte Führungspersonen. Trotzdem würde die Tatsache bestehen, wie ich es hier betont habe, dass die Wahrheit nur siegreich sein kann, wenn sie tüchtige Verfechter hat – vor allem eine Führung, die diese Herausforderung mit dem gleichen Ernst und der gleichen Sorgfalt annimmt, wie man das von den besten Militärbefehlshabern unseres Landes erwarten würde.

Ich kann mit Ihnen über solche Dinge sprechen, weil ich mir das Recht und die Pflicht dazu erworben habe. Um Ihretwillen wünschte ich, es gäbe mehr Menschen wie mich. Das Leben der Nationen, unsere mit eingeschlossen, hängt heute an so wenigen Fäden, an so wenigen kostbaren Menschen, die die Aufgabe wahrer Führung mit ihren benötigten Qualifikationen und Risiken wahrnehmen. Es ist ungeheuer wichtig, dass wir tun, was notwendig ist, um so viele andere wie möglich zu erheben und somit zu inspirieren.