Hermann Oberth – Vater der Raumfahrt

Seit unsere Urahnen in den Nachthimmel hinaufsahen und der Mond zum Greifen nahe auf sie herableuchtete, träumen Menschen davon, dorthin zu gelangen und jenen Himmelskörper zu erforschen. Immer wieder tauchen in der Literatur Erzählungen über Reisen zum Mond und zu fernen Sternen auf, und das noch, als man schon damit begann, mit dem Fernrohr den Himmel zu beobachten und den Himmelsraum wissenschaftlich zu erforschen. Die Frage, wie der Mond und andere Himmelskörper erreicht werden könnten, wie sich eine solche Reise tatsächlich durchführen ließe, blieb für lange Zeit unbeantwortet.

Es war gegen Ende des amerikanischen Bürgerkriegs, als der Franzose Jules Verne eine realisierbare Vision zu entwickeln versuchte, mit der es dem Menschen gelingen könnte, durch die Lüfte in den Weltraum vorzudringen. In seiner Vorstellung ließ er eine riesige Kanone nicht weit vom heutigen Kennedy Space Center abfeuern, um damit Raumfahrer auf den Mond zu schießen. Auch wenn sich die Aufgabe mit diesem Vorschlag nicht lösen ließ, so beflügelte Jules Verne mit seinen Schilderungen die Vorstellungskraft vieler junger Männer. Er regte sie an, die Realisierung dieses Menschheitstraums ins Auge zu fassen, wozu sicher auch die vielen wissenschaftlichen Konzepte und mathematischen Einzelheiten beitrugen, mit denen Verne seine Vorstellungen konkretisierte.

Unter den vielen, die von Jules Vernes Roman Von der Erde zum Mond begeistert waren, befand sich auch ein junger Mann mit Namen Hermann Oberth. Er wollte genauer wissen, was an Vernes Vorschlägen bloße Phantasie und was realisierbar war. Er besorgte sich alle Bücher zu dem Thema, die ihm nur erreichbar waren, und studierte sie.

Hermann Oberth, der Vater der Raumfahrt (1894–1989).
Hermann Oberth, der Vater der Raumfahrt (1894–1989).

Oberths Arbeiten und Beiträge begleiten die gesamte Geschichte der bisherigen Raumfahrt. In den 20er Jahren löste er die wichtigsten theoretischen Probleme der Raketenkunde und fertigte Zeichnungen der ersten Raketenfahrzeuge an, mit denen sich seine Konzepte umsetzen ließen. Dadurch zog er in Deutschland eine Gruppe junger Studenten und Ingenieure in seinen Bann, die mit ihm später die Technik der Raumfahrt entwickeln sollten. Er blieb ihr Lehrer und eine Quelle immer neuer Ideen und Anregungen. Zwangsläufig kam es zum Konflikt mit den „anerkannten“ Wissenschaften, gegen deren Skeptizismus er die Astronautik, den neuen Zweig in der Naturwissenschaft, durchsetzen musste. Schließlich sorgte er durch seine Schriften, Vorlesungen und Vorträge, Experimente und sogar durch einen Film dafür, dass diese neuen Ideen und Gedanken in der Öffentlichkeit bekannt wurden. Hermann Oberth löste nicht nur die theoretischen Probleme der Raketenkunde und entwarf die notwendige Technik, damit Menschen in den Weltraum vordringen, dort leben und arbeiten können. Er war auch entschlossen, all diese Möglichkeiten Wirklichkeit werden zu lassen. Daher ist er fraglos der Vater der Raumfahrt.

In ihren theoretischen Arbeiten knüpften Hermann Oberth und seine Studenten an die naturwissenschaftliche Tradition vor allem der Hydrodynamik an, wie sie seit Gottfried Wilhelm Leibniz, Carl Gauß und Bernhard Riemann in Deutschland verankert war. Vor allem Ludwig Prandtl und der Aerodynamiker Adolf Busemann waren wichtige Bindeglieder in dieser wissenschaftlichen Tradition für das 20. Jahrhundert.

Natürlich gab es schon vor Oberth Raketen. Sie waren klein und wurden mit festem Brennstoff, mit „Raketenpulver“, angetrieben und dienten als Leuchtzeichen oder Feuerwerkskörper. Es gab auch schon „Rettungsraketen“, Geschosse, mit denen ein Tau einige hundert Meter weit zu einem Schiff in Seenot hinübergeschleudert werden konnte. In den USA hatte Robert Goddard eine Abhandlung unter dem Titel Eine Methode, extreme Höhen zu erreichen veröffentlicht, die Oberth allerdings erst viel später kennenlernte. Dort führte Goddard aus, dass Raketen mit flüssigem Brennstoff den bekannten Feststoffraketen überlegen seien.

In der Sowjetunion hatte der Theoretiker Konstantin E. Ziolkowski zwei Jahrzehnte vor Oberth geschrieben, dass nur flüssige Brennstoffe die notwendige Energie liefern könnten, um den Menschen mit den zum Überleben notwendigen Geräten aus der Atmosphäre herauszutragen. Beide Forscher fanden weder bei ihren Regierungen noch in der Öffentlichkeit die erforderliche Unterstützung, um ihre Ideen weiterentwickeln zu können. So fielen ihre Anregungen in eine Art Dornröschenschlaf.

Oberths theoretische Arbeiten und Experimente reichten weiter als die Ideen Ziolkowskis und Goddards. Er wollte den Menschen in den Weltraum setzen. Die Raketen waren hierfür nur Mittel zum Zweck, sein Ziel war die Raumfahrt. Sein ganzes Leben hindurch arbeitete Oberth an der Zukunft der Raumfahrt und entwickelte die für Raumfahrzeuge und Raumstationen erforderlichen Techniken. Er entwarf Vorgehensweisen zur Monderkundung und für Marsexpeditionen. Er nahm zwar nicht persönlich an der Entwicklung der ersten Lenkrakete der Welt in Peenemünde teil. Und auch vom Apollo-Programm, das den ersten Mensch auf den Mond brachte, blieb er im wesentlichen ausgeschlossen. Doch bei beiden Ereignissen war er als Ehrengast anwesend, und alle Beteiligten wussten, dass sie ihre Erfolge Oberths Arbeiten zu verdanken hatten. Hermann Oberth erlebte noch den Start des ersten wiederverwendbaren Raumschiffs, des amerikanischen Space Shuttle, bevor er 1989 im Alter von 95 Jahren starb.

Es wird noch einige Jahrzehnte dauern, bis alle seine Ideen und Pläne für das Weltraumzeitalter ausgeschöpft sein werden.

Oberths Lebensweg

Hermann Oberth wurde am 25. Juni 1894 in Hermannstadt (Siebenbürgen) geboren, das damals zum österreichisch-ungarischen Kaiserreich gehörte. Seine Eltern waren Siebenbürger Schwaben, die dort seit Jahrhunderten lebten und ihre deutsche Sprache und Kultur beibehalten hatten. Oberths Vater Julius galt als tüchtiger Arzt und arbeitete als Sekundararzt am Franz-Joseph-Bürgerhospital in Hermannstadt. Als Hermann Oberth zwei Jahre alt war, wurde sein Vater Chefarzt im Bezirkskrankenhaus Schäßburg in Siebenbürgen, wohin die Familie dann umzog.

Schäßburg war ein Städtchen von 11.000 Einwohnern. Hans Barth, Oberths Biograph, schreibt über den Ort: „Die Eisenbahn, die neben der Stadt vorbeizieht, wurde 1872 gebaut. Dagegen waren Wasserleitung und elektrischer Strom noch große Unbekannte. Erst 1902 wurde mit ihrer Einführung begonnen… Auch das Telefon war nur vom Hörensagen bekannt, es sollte erst elf Jahre später bei insgesamt 37 Abonnenten läuten.“((Barth 1991, S. 24.)) Selbst 1930 fehlte dort noch die Kanalisation. 1904 sah Oberth zum ersten Mal ein Automobil. Aber „das größte technische Wunder, das es zu bestaunen gab, war die Dampflokomotive auf dem Bahnhof“.((Barth 1991, S. 24.))

Hermann Oberths Tochter, Frau Dr. Erna Roth-Oberth, berichtete in einem Interview am 12. Dezember 1992, dass man in Siebenbürgen „engen Kontakt zu Deutschland und Österreich pflegte und die Entwicklung der deutschen Kultur mitverfolgte. Wir hatten viele wissenschaftliche Zeitungen und Fachzeitschriften.“

Hermann Oberth hatte schon früh Interesse und Hingabe für die Wissenschaft entwickelt, was hauptsächlich auf den Einfluss seines Großvaters mütterlicherseits, Friedrich Krasser, zurückzuführen war, der als Freidenker und Dichter ebenso bekannt war wie als praktizierender Arzt. Dr. Krasser verkehrte in sozialdemokratischen Kreisen Ungarns, Österreichs und Deutschlands. Seine Philosophie drückte er in einem seiner Verse so aus: „Der Held, der künftig deine Ketten bricht, das ist die Wissenschaft mit ihrem Licht.“((Barth 1991, S. 17.)) Krasser hatte seiner Frau gegenüber des öfteren verkündet: „In hundert Jahren fliegen die Menschen zum Mond. Unsere Enkelkinder werden dies noch miterleben.“

„Großvaters Worte und die Lokomotive, deretwegen der kleine Hermann, so oft er nur konnte, zum Bahnhof lief, hatten es ihm also angetan. Wieso denn diese merkwürdige Paarung? Einfach: Die stampfende Dampflokomotive war für ihn damals der alleinige Inbegriff für Kraft und Energie. Und soviel ahnte der Vierjährige bereits: Für den Mondflug braucht man die mächtigsten Maschinen. Zumindest so starke wie die Lokomotiven, die hinter dem Garten vorbeirasen. Der Sinn fürs Technische, Logische machte sich schon bemerkbar.“((Barth 1991, S. 25 f.))

Erna Roth-Oberth beschrieb Hermanns Vater, Dr. Julius Oberth, als einen Mann, der „fast jede Art Literatur kannte. Er zitierte gern auswendig. Er trug oft ganze Passagen von Gedichten vor. Jeden Morgen kam er zum Beispiel in mein Schlafzimmer, und nach der Begrüßung ,Guten Morgen‘ sagte er immer den Spruch: ,Edel sei der Mensch, hilfreich und gut!‘ Und erst nach diesem Spruch begann er mit seinem Tagewerk.“

Wie sein Vater lernte auch Hermann Oberth Gedichte, und bis ins 90. Lebensjahr konnte er den Prolog zu Goethes Faust auswendig aufsagen. „Er wusste eine Menge Literatur auswendig“, erklärte Dr. Roth-Oberth. „Er hatte ein phantastisches Gedächtnis. Er beschäftigte sich mit unglaublich vielen Themen und wusste eine Menge über Biologie, Chemie, Theologie, was er studiert hatte, und Medizin. Er hatte ein breites Wissen über viele Zweige der Wissenschaft.“

Hermann Oberth klagte darüber, dass die Erziehung zu seiner Zeit allzu sehr von Vorstellungen der Vergangenheit, wenn nicht sogar von Vorurteilen belastet gewesen sei. Er sah darin einen Grund dafür, warum seine revolutionären Ideen über das Raketenwesen und die Raumfahrt so häufig auf Ablehnung gestoßen seien. Dr. Roth-Oberth sagte dazu: „Er drückte es so aus: ,Unsere Bildung gleicht einem Auto, das nach hinten zu helle Scheinwerfer hat und die Vergangenheit hell beleuchtet. Dagegen nach vorne die Zukunft schlecht erkennbar macht‘.“ Und sie fuhr fort:

„Es ist wahr, dass er keine Geduld für die banalen Dinge des Alltagslebens besaß. Er lebte tatsächlich immer mit Blick auf die Zukunft. Es war so, dass mein Vater ja schon in frühen Jahren, also schon als Kind, erfahren hatte, dass er in seinem Denken ganz anders war als andere Leute. Und oftmals musste er auch feststellen, dass seine Gedanken viel sorgfältiger ausgearbeitet waren als die anderer Leute. Daher wurde er allergisch, wenn man ihm sagte: ,Dies haben andere schon vor Dir gewusst und haben das immer so gemacht und nur so kann man das machen, so ist es richtig.‘ Er hatte sehr oft in seinem Leben erfahren müssen, dass es eben so nicht richtig war, sondern so wie er es tat.“

Für viele war Hermann Oberth ein exzentrisches Genie, das zurückgezogen in seiner Studierstube saß und mit anderen Leuten nicht auskommen konnte. Dr. Roth-Oberth erklärt dieses Gerücht vor allem damit, dass ihr Vater das in der etablierten Wissenschaft verlangte „politische Wohlverhalten“, wie man es heute nennen könnte, herausgefordert habe. Sie beschrieb Oberths Einstellung so:

„Er war immer sehr skeptisch gegen irgendwelche Gruppenmitarbeiter, auch wenn sie es wirklich gut meinten und glaubten, ihm helfen zu können. Denn er hatte die Erfahrung gemacht, dass diese Hilfen ihn oft nur hinderten und zurückwarfen in seiner Arbeit. Er war ein sehr gewissenhafter Arbeiter. Er arbeitete eigentlich sein ganzes Leben lang an dieser Sache und er fühlte sich durch gesellschaftliche Verpflichtungen und durch die Aufforderung, Vorträge zu halten oder sich irgendwo zu präsentieren, sehr belästigt.

Er war also absolut unempfindlich sowohl gegen Lob als auch gegen Tadel, und er erwarb sich dadurch den Ruf, unzugänglich zu sein. Er war dagegen sehr aufgeschlossen für junge Leute, die diesen Schritt in den Weltraum wagen wollten, und er hatte eine unendliche Geduld, alles zu erklären.“

Oberth besaß ein großes Selbstvertrauen in seine geistigen Fähigkeiten und machte daher keinen Kniefall vor Autoritäten. Titel ließen ihn unbeeindruckt, und er duckte nicht vor akademischer Kritik. John Eider, der Hermann Oberth interviewte, weist darauf hin, dass es zeitweilig so schien, „als fände Oberth Gefallen daran, in die Patsche zu geraten, nur um seine geistige Unabhängigkeit zu beweisen“.((Eider 1991, S. 24.)) In Hermann Oberths Aufzeichnungen gibt es dazu zahlreiche Belege. So schrieb er, als die Universität Heidelberg 1922 die von ihm eingereichte Dissertation ablehnte: „Ich nahm davon Abstand, eine andere zu schreiben, und dachte bei mir: Macht nichts, ich werde beweisen, dass ich in der Lage bin, ein größerer Wissenschaftler zu werden als einige von denen, auch ohne Doktortitel.“ Und weiter: „In den USA werde ich oft mit Doktor angeredet. Ich möchte jedoch darauf verweisen, dass ich es nicht bin und nicht daran denke, es zu werden.“((Oberth 1967, S. 118.))

Für Oberth war die Raumfahrt nicht nur eine Serie mathematischer Formeln oder technischer Tests. Sie war für ihn eine Lebensphilosophie, ganz ähnlich wie für seinen späteren Schüler, den deutschen Raumfahrt-Visionär Krafft Ehricke. Der Schlusssatz seines Buches Menschen im Weltraum aus dem Jahr 1954 drückt dies treffend aus: „Denn das ist das Ziel: Dem Leben jeden Platz erobern, auf dem es bestehen und weiter wachsen kann, jede unbelebte Welt zu beleben und jede lebende sinnvoll zu machen.“((Oberth 1954, S. 201.))

Jules Vernes Buch Von der Erde zum Mond war für Hermann Oberth der entscheidende Anstoß für seinen Lebensweg. Seine Mutter hatte ihm das Buch geschenkt, als er gerade elf Jahre alt war. „Ich habe es mindestens fünf- oder sechsmal gelesen und schließlich auswendig gekonnt“, schreibt er.((Oberth 1967, S. 114.))

Verne hatte seine furchtlosen Weltraumfahrer aus einer riesigen Kanone in den Weltraum geschossen. (Von daher soll übrigens die für die Raumfahrt besondere Bezeichnung „Abschuss“ für Start stammen.) Oberth rechnete die Angaben nach, die Verne in seinem Buch machte. Vernes Einschätzung, dass die Raumkapsel eine Geschwindigkeit von 11.000 Metern pro Sekunde erreichen müsse, um die Erdanziehungskraft zu überwinden, stimmten mit Oberths eigenen Berechnungen in etwa überein. Oberth gibt aber zu, dass seine Rechenmethode damals noch durch „defizitäres mathematisches Wissen“ belastet gewesen sei, vor allem habe er damals noch nicht die Differential- und Integralrechnung gekannt. Aber, so erinnert er sich, „unserem jungen, klugen Physiklehrer Ludwig Fabini gelang es, uns verständlich zu machen, dass die Erdanziehungskraft in quadratischer Proportion zur Entfernung des Erdinneren abnahm.“

„Also teilte ich die Strecke, die der Flugkörper zum Mond zurückzulegen hatte, in Abschnitte ein – in kleinere, runter zur Erde und in größere, rauf zum Mond – und nahm in jedem Abschnitt einen Mittelwert für die Gravitationsbeschleunigung an.“ Auf diese Weise gelangte er zu ähnlichen Ergebnissen wie Jules Verne, nämlich 11.000 Meter pro Sekunde. Entsprechend stimmte auch die Flugzeit, die Verne seinen Reisenden zuschrieb, „wenn angenommen wird, dass das Geschoss mit minimaler Geschwindigkeit flog“.((Oberth 1967, S. 115.))

Freilich war der Start ins Weltall durch einen Kanonenschuss physiologisch unmöglich. Davon konnte sich Oberth schon damals leicht überzeugen. Er überlegte, dass bei Verne die Beschleunigung auf 11.000 Meter pro Sekunde auf einer Strecke von nur 300 Metern erreicht werden musste. Dabei wären die Raumfahrer einem Druck des Vielfachen der Erdschwerkraft ausgesetzt. Sie müssten rund das Zwanzigtausendfache ihres Eigengewichtes aushalten. Oberth erkannte – er war gerade 12 Jahre alt –, dass die Reisenden im Flugkörper durch die enorme Gravitationsbeschleunigung zerquetscht worden wären. „Jules Verne schlug dagegen einen Wasserpuffer vor, und er hatte damit auch Glück – wenigstens auf dem Papier! In Wirklichkeit wäre er für die Katz, denn er stützt nicht die inneren Organe. Also war es mit dem Kanonenschuss nichts, und ich musste nach anderen Raumschiffen Ausschau halten.“

Im Alter von 14 Jahren verwarf Oberth nach sorgfältiger Analyse eine andere Idee dieser Art. Danach sollte das Raumschiff auf Laufschienen in einem Vakuumtunnel mit Hilfe von Elektromagneten beschleunigt und in die Erdumlaufbahn geschleudert werden. Nach seinen Berechnungen hätte man dazu nicht nur riesige Magneten gebraucht, sondern auch einen mindestens 10.000 Kilometer langen Tunnel. Danach stellte er Überlegungen mit bestimmten Flugzeugmodellen an. Er verwarf sie wegen des zu großen Gewichts, das diese Flugzeuge mit entsprechenden Treibstofftanks benötigten. Er trennte sich auch von der Vorstellung, eine Scheibe ließe sich mit Hilfe der Zentrifugalkraft in den Weltraum schleudern.

Oberth fand außer der Raketentechnik keinen anderen Weg in den Weltraum. Allerdings machte ihm auch hierbei die hohe Explosionsgefahr Sorgen. Schon Jules Verne hatte in seinen Büchern von Raketen gesprochen, die den Absturz bemannter Flugkörper auf die Mondoberfläche abbremsen sollten. Das Prinzip ist heute noch in den sogenannten „Bremsraketen“ gebräuchlich. Oberth fragte sich, ob Raketenantriebe im luftleeren Raum, wie zum Beispiel auf dem Mond, überhaupt Schubkraft entwickeln könnten – ein damals wissenschaftlich durchaus umstrittenes Problem.

Oberth stellte sich den Ablauf der Schubkraft im Weltraum ähnlich den Vorgängen vor, wie sie sich im Rohrrücklauf eines Geschützes abspielen. Daraus ergab sich das Argument, im Vakuum fehle die Luft, gegen welche sich das ausströmende Gas stützen könnte. Oberth fragte sich also, ob sich Jules Verne auch hier, ähnlich wie bei den Startbedingungen, geirrt hätte, als er vorschlug, den Anflug des Raumschiffes auf den Mond mit Hilfe von Raketen abzubremsen.((Oberth 1967, S. 129.))

Um diese Frage zu beantworten, führte Oberth eine Reihe von Versuchen durch, um das widerstandslose Vakuum im Weltall zu simulieren.((Hartl 1958, S. 43.)) Er stieg in einen kleinen Kahn und sprang nahe am Ufer vom Bug aus an Land. Der Sprung drückte das Boot rückwärts vom Ufer weg in den See. Oberth deutete dies als eine Reaktion auf die nach vorwärts gerichtete Bewegung. Der Sprung stieß zwar gegen die Luft, diese bot aber einen wesentlich niedrigeren Widerstand als das Wasser, gegen das sich das Boot in Bewegung setzte.

Bei einem zweiten Experiment legte Oberth einige große Steine ins Boot und warf sie dann einzeln nacheinander über Bord. Auch in diesem Fall bewegte sich das Boot in die dem Steinwurf entgegengesetzte Richtung. Diese Versuche überzeugten ihn davon, dass das Rückstoßphänomen auch ohne Luftwiderstand auftreten müsse. Um eine Rakete im luftleeren Raum zu bewegen, wäre es lediglich nötig, Materie in die der gewünschten Flugbahn entgegengesetzten Richtung auszustoßen.

Ebenso müsste es im Weltall sein, dachte Oberth. Wenn man – frei vom Widerstand der Erdatmosphäre – Materie rückwärts abwirft, müsste die Rakete vorwärts gestoßen werden. Er entdeckte auch einen Zusammenhang zwischen Menge und Geschwindigkeit der abgestoßenen Materie und der dadurch erzielten Beschleunigung des Fahrzeugs. Dabei ist weniger die Größe der abgestoßenen Materieteile von Bedeutung als die Geschwindigkeit, mit der sie herausgeschleudert werden. Es ließ sich eine beträchtliche Schubkraft auch dadurch erzielen, dass kleine Partikel, zum Beispiel Gasmoleküle, mit sehr hoher Geschwindigkeit wegflogen.

Oberth erzählt, er habe die Infinitesimalrechnung schließlich während seiner Schulzeit am Bischof-Teutsch-Gymnasium in Schäßburg in den Jahren 1910–1912 erlernt, obgleich die Schule eher humanistisch denn naturwissenschaftlich ausgerichtet war. Er hatte sich aber auch das Buch von August Schuster, Mathematik für Jedermann angeschafft. „Dies führte doch bis zu den Differenzialgleichungen und half mir, manche Mängel der Schulausbildung zu überbrücken“. Da er wenig Gelegenheit zum Experimentieren hatte und unbedingt etwas tun wollte, „suchte ich die Probleme der Raketentechnik und der Weltraumfahrt wenigstens theoretisch durchzudenken und zu berechnen“.

„Das hatte vor mir noch niemand so richtig getan. Der amerikanische Raketenpionier Goddard schrieb noch 1919… ausdrücklich, dass sich bei aufsteigenden Raketen das Zusammenspiel zwischen Treibstoffverbrauch, Ausströmgeschwindigkeit, Luftwiderstand, Schwereeinwirkung usw. nicht in geschlossenen Buchstabengleichungen ausdrücken ließ. Ich begann 1910 damit, dass ich diese Zusammenhänge mathematisch untersuchte und diese Gleichungen aufstellte. Diese Arbeiten sind dann bis 1929 zu einem gewissen Abschluss gekommen.“

Im Jahre 1909, im Alter von 15 Jahren, erstellte Oberth seinen ersten Plan für eine bemannte Rakete. „Die Treibapparate sollten mit angefeuchteter Schießbaumwolle nach Art eines Maschinengewehres versehen werden. Das Gas sollte oben seitlich ausströmen. Die Form der Düsen war noch ziemlich unvollkommen… Trotz aller Unvollkommenheiten wäre ein derartiger Apparat imstande aufzusteigen“, schrieb Oberth 1923 in Die Rakete zu den Planetenräumen.

Sein erster Entwurf einer Sauerstoff-Wasserstoff-Rakete folgte drei Jahre später. 1918 berechnete er bereits das Modell einer kleinen mehrstufigen Rakete, deren erste Stufe mit Alkohol betrieben wurde. Die Abgase sollten am Boden der Rakete austreten, wie es heute noch üblich ist.

Bevor eine Rakete überhaupt in den luftleeren Raum vorstoßen konnte, musste eines der Hauptprobleme gelöst werden, nämlich die günstigste Geschwindigkeit herauszufinden, „bei der Luftwiderstand und Schwerkraft auf ein Mindestmaß zurückgehen“. Oberth stellte fest, dass die Rakete, wenn sie zu langsam aufsteigt, „zu lange gegen ihr Eigengewicht ankämpft“, also gegen die Anziehungskraft der Erde. Steigt die Rakete schneller, wächst dafür der Luftwiderstand mit dem Quadrat der Geschwindigkeit, und die Verluste sind größer.

Abbildung 1.1: Die optimale Raketenflugbahn. Um in eine Erdumlaufbahn zu gelangen, muss die Rakete als Folge der Schwerkraft nicht nur gegen ihr eigenes Gewicht, sondern auch gegen den Widerstand der Atmosphäre „ankämpfen“. Oberth berücksichtigte die komplexen Beziehungen zwischen diesen und anderen Faktoren bei der Berechnung des bestmöglichen Fluges der Rakete. Quelle: Hermann Oberth, Wege zur Raumschiffahrt, Oldenbourg, 1929
Abbildung 1.1: Die optimale Raketenflugbahn. Um in eine Erdumlaufbahn zu gelangen, muss die Rakete als Folge der Schwerkraft nicht nur gegen ihr eigenes Gewicht, sondern auch gegen den Widerstand der Atmosphäre „ankämpfen“. Oberth berücksichtigte die komplexen Beziehungen zwischen diesen und anderen Faktoren bei der Berechnung des bestmöglichen Fluges der Rakete. Quelle: Hermann Oberth, Wege zur Raumschiffahrt, Oldenbourg, 1929

Bei Raketen, die vor 1920 gebaut wurden, sah Oberth die Hauptschwierigkeit darin, dass sie zu klein waren und zu schnell flogen, „denn zwischen Raketengewicht und der Luftdichte findet eine Art Wettlauf statt“. Spontan sollte man annehmen, der Luft- und Schwerkraftwiderstand sei um so geringer, je kleiner die Rakete sei. Dagegen erklärte Oberth, die Rakete müsse groß genug sein, damit sie genügend Treibstoff mitführen könne, um sowohl die Anziehungskraft wie den Atmosphärenwiderstand unter optimalen Bedingungen überwinden zu können. Beide sind zu Beginn des Fluges am größten (Abbildung 1.1).

„Je mehr Antrieb, um so besser“, erkannte er, weil „der Antrieb um so effektiver ist, eine je höhere Abgasgeschwindigkeit erzeugt werden kann… Wenn die Rakete genug Treibstoff mitführt, kann sie die Erde verlassen und sogar dem Bereich der Erdschwerkraft entkommen.“

Aus all diesen Überlegungen ergab sich für Oberth das „Stufenprinzip“ für Raketen. „Wenn auf einer großen Rakete eine kleinere steht, und wenn die große abgestoßen wird und die kleinere zu arbeiten beginnt, so addieren sich ihre Geschwindigkeiten.“ Ohne Luftwiderstand vergrößert jeder Rückstoßimpuls die Geschwindigkeit der Rakete – in etwa vergleichbar mit dem Autofahren auf einer Straße ohne jede Hemmung oder Reibung. Hielte man das Gaspedal durchgedrückt, so führe das Auto immer schneller. Die Beschleunigung hielte an, bis das letzte Benzin verbraucht wäre. Je größer der Benzinvorrat, um so höher die zu erreichende Geschwindigkeit.

Noch während seiner Gymnasialzeit in Schäßburg führte Oberth einfache Experimente im dortigen Schwimmbad durch. Ihn interessierte vor allem das Verhalten von Flüssigkeiten in der Schwerelosigkeit, weil der Raketenmotor mit flüssigem Treibstoff betrieben werden sollte. Er sprang mit Schwung vom Sprungbrett ab, wobei er eine Flasche in der Hand hielt, die jeweils etwa zu einem Drittel mit verschiedenen Flüssigkeiten gefüllt war. „Wenn ich die Spitze (der Flasche) am Ende des freien Falls etwas nach unten bewegte, um die Verzögerung durch den Luftwiderstand zu kompensieren, so sah ich, dass die Flüssigkeit tatsächlich darinnen schwebte. Bei diesen Versuchen erkannte ich, dass der Mensch diesen Zustand ein bis zwei Sekunden sicher vertragen konnte. Dass er ihn körperlich tagelang aushalten würde, das war mir klar…“((Oberth 1974, S. 132.))

In der gleichen Zeit erlebte er unfreiwillig auch die seelischen Probleme der Schwerelosigkeit, als er einmal beim Tauchen im kalten Wasser des Schwimmbeckens die Orientierung verlor und erst in letzter Sekunde wieder an die Oberfläche kam. Die Kälte des Wassers und der Kohlensäureüberschuss im Blut, so überlegte Oberth richtig, hatten sein Gleichgewichtsorgan empfindungslos gemacht. Dieses Gefühl mangelnder Richtungsorientierung bedeutete „nicht mehr und nicht weniger, als dass ich das seelische Erlebnis der Andruckfreiheit gehabt hatte!“

Hermann Oberth hat sich große Verdienste um die Raumfahrt erworben. Nicht zuletzt hat er in Deutschland eine Reihe junger Wissenschaftler in der Raketenforschung ausgebildet. Hier ist Oberth zusammen mit seinem berühmtesten Schüler Werner von Braun, als dieser am 10. Oktober 1961 aus seinen Händen den Oberth-Preis der Amerikanischen Raketengesellschaft entgegennahm.
Hermann Oberth hat sich große Verdienste um die Raumfahrt erworben. Nicht zuletzt hat er in Deutschland eine Reihe junger Wissenschaftler in der Raketenforschung ausgebildet. Hier ist Oberth zusammen mit seinem berühmtesten Schüler Werner von Braun, als dieser am 10. Oktober 1961 aus seinen Händen den Oberth-Preis der Amerikanischen Raketengesellschaft entgegennahm.

Im Juni 1912 bestand Oberth das Abitur und erhielt eine Auszeichnung in Mathematik. Im folgenden Jahr ging er nach München, um Medizin zu studieren, doch der Erste Weltkrieg unterbrach sein Studium. Er verbrachte drei Jahre in einem Krankenhaus, wo er Zugang zu allen Medikamenten aus der Militärapotheke hatte. „Mit Hilfe von Drogen, die das Gleichgewichtsorgan sowie den Muskel-und Hautsinn betäuben, und dadurch, dass ich mich unter Wasser legte, den Luftschlauch um meinen Körper wickelte und die Augen schloss, konnte ich das seelische Erlebnis der Andruckfreiheit auf Stunden ausdehnen“. Allerdings sei er nicht dafür,

„den Menschen ohne Grund unnatürlichen Bedingungen auszusetzen. Meiner Ansicht nach ist es der Sinn und das Ziel der Technik, dem Menschen in einer fremden Umwelt die Lebensbedingungen zu verschaffen, die seiner inneren Natur entsprechen.“((Ebenda.))

Oberth erzählte oft, dass es für seinen Vater eine bittere Enttäuschung war, als er bei der Lazaretteinheit während des Krieges zu der Einsicht kam, nicht Arzt werden zu wollen.

Schon während des Krieges hatte Oberth versucht, das Militär für seine Raketenideen zu interessieren. 1917 unterbreitete er dem Reichswehrministerium sein Konzept einer mit wasserhaltigem Spiritus und flüssiger Luft betriebenen Fernrakete – „also etwas Ähnliches wie die spätere V-2, nur größer und nicht so kompliziert“.((Oberth 1974, S. 131.)) Im Frühjahr des folgenden Jahres erhielt er sein Manuskript mit folgendem Kommentar zurück: „Die Erfahrung hat gelehrt, dass Raketen nicht weiter fliegen können als sieben Kilometer. Und bei der bekannten preußischen Gründlichkeit, mit der auch unsere Raketenstelle arbeitet, ist nicht zu erwarten, dass diese Zahl noch wesentlich zu übertreffen sein wird.“((Barth 1991, S. 61.)) Jenseits des Atlantik hatte Robert Goddard ähnliche Erfahrungen machen müssen. Auch das US-Militär zeichnete sich nicht durch ein Übermaß an Zukunftsvisionen aus.

1918 heiratete Hermann Oberth Mathilde Hummel und ein Jahr später kehrte er an die Universität München zurück. Von der Medizin hatte er nun auf die Physik umgesattelt. Da ihm der Freistaat Bayern keine ständige Aufenthaltsgenehmigung erteilen wollte, musste er bald an die Universität Göttingen überwechseln. Dort fand er 1920 Gelegenheit, bei Ludwig Prandtl, einem der bedeutendsten Wissenschaftler jener Zeit, Aerodynamik zu hören. Barth berichtet, dass Oberth seine Arbeiten Prandtl vorgelegt habe, „der sich die Mühe nahm, seine Pläne anzuschauen… Der Begründer der modernen Strömungsdynamik… machte Oberth auf einige Fehler aufmerksam und empfahl ihm einige einschlägige Fachbücher. Mit den Worten: ,In Ihnen steckt etwas. Lassen Sie sich durch nichts entmutigen!‘, verabschiedete Prandtl seinen Studenten.“((Barth 1991, S. 68.))

Der Historiker Michael J. Neufeld versuchte zu erklären, warum die deutsche Kultur einen Hermann Oberth hervorbringen konnte und warum seine Ideen gerade im Nachkriegsdeutschland der 20er Jahre auf so fruchtbaren Boden fielen. Zwar sieht Neufeld in der damaligen Faszination mit Raketen nur so etwas wie ein Steckenpferd und nicht den Vorboten des heraufziehenden Raumfahrtzeitalters, doch immerhin bemerkte er, dass „ein tiefempfundener Stolz über die technischen Errungenschaften Deutscher in den Medien der Weimarer Zeit zum Ausdruck kam“.((Neufeld 1990, S. 745.)) Nur erkannte er nicht den Grund für diesen Glauben an den technischen Fortschritt, der damals in Deutschland noch lebendig war.

John Eider kommt der Sache näher. Er schreibt, Oberth hatte „Glück, in die deutsche Kultur hineingeboren worden zu sein. Deutschland hatte eine Tradition in Wissenschaft und Technik; deutsche Bücher und Zeitschriften wurden damals in Europa viel gelesen, übersetzt und überallhin verkauft.“((Eider 1991, S. 6.)) Eider weist daraufhin, dass zwischen 1901 und 1922 zwanzig der 66 Nobelpreise für Wissenschaft nach Deutschland gingen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu der Zeit, als Hermann Oberth studierte, war Deutschland das Zentrum der naturwissenschaftlichen Forschung.

Fritz Haber, der damals das Kaiser-Wilhelm-Institut für physikalische Chemie und Elektrochemie leitete, erhielt 1918 den Chemienobelpreis für die Synthese von Ammoniak. Damit schuf er die Grundlage der modernen Düngemittel-Produktion und einer weltweiten Revolution der Nahrungsmittelerzeugung. Haber sagte 1926: „Das letzte Viertel des Jahrhunderts war eine große Zeit für die wissenschaftliche Forschung – trotz Krieg und menschlichen Leids. Die Forscher des 19. Jahrhunderts waren wie Oasen in der Wüste. Das letzte Vierteljahrhundert zeigte, dass diese Oasen verbunden werden können.“((Goran l967, S. 141.))

Titelbild von Oberths berühmtem Buch aus dem Jahr 1923. Es enthielt nicht nur alle wichtigen theoretischen Berechnungen der Raketenentwicklung, sondern stellte bereits mögliche praktische Anwendungsbereiche auch der bemannten Raumfahrt dar.
Titelbild von Oberths berühmtem Buch aus dem Jahr 1923. Es enthielt nicht nur alle wichtigen theoretischen Berechnungen der Raketenentwicklung, sondern stellte bereits mögliche praktische Anwendungsbereiche auch der bemannten Raumfahrt dar.

Es war die große Zeit der deutschen Wissenschaft, die in den 30er Jahren durch die Nazis jäh unterbrochen wurde, als viele der besten Köpfe genötigt wurden, in die Vereinigten Staaten auszuwandern. Wilhelm Krad Röntgen bekam 1901 den ersten Nobelpreis in Physik für seine Entdeckung der nach ihm benannten Strahlen. Max Planck erhielt 1918 den Nobelpreis für die von ihm entwickelte Quantentheorie des Lichts. Eine seiner Studentinnen, Lise Meitner, sollte später zusammen mit Otto Hahn an der Atomspaltung arbeiten und diesem Jahrhundert die Nutzung der Kernenergie erschließen. 1915 veröffentlichte Albert Einstein, Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für theoretische Physik, seine allgemeine Relativitätstheorie. Ebenfalls in Berlin arbeiteten Werner Heisenberg und Karl Geiger, der Erfinder des nach ihm benannten Gerätes, mit dem sich Radioaktivität messen lässt.

Die zweifellos größte Konzentration von Gelehrten fand sich an der Universität Göttingen. Am Institut für angewandte Mechanik lehrte Ludwig Prandtl, am mathematischen Institut Felix Klein. Es war die Heimat der brillantesten Köpfe der Mathematik des 19. Jahrhunderts, von Carl Gauß, Lejeune Dirichlet und Bernhard Riemann. Während des ersten Viertels dieses Jahrhunderts versammelten sich in Göttingen die führenden Denker in Mathematik und Physik: David Hilbert, Hermann Minkowski, Hermann Weyl, Max Born, Ernst Zermelo, Richard Courant, Edmund Landau und James Franck. In Göttingen studierte Hermann Oberth Mathematik bei Hubert und Klein, Physik vor allem bei Prandtl.

Während der ersten zwei Jahrzehnte dieses Jahrhunderts sah Hermann Oberth, wie sich die Welt der Technik um ihn herum veränderte. Und er hatte Gelegenheit, bei den Wissenschaftlern, die hierfür wesentliche Beiträge geleistet hatten, zu studieren und eigene grundlegende Beiträge zu dieser Entwicklung beizusteuern. Dieses kulturelle Umfeld schuf die Zuversicht, durch technischen Fortschritt und große Projekte die Zukunft immer besser zu gestalten.

Trotzdem, Hermann Oberths Dissertation über das Raketenwesen wurde von der Universität Heidelberg abgelehnt. Da er in den „maßgebenden“ wissenschaftlichen Fachkreisen kein Gehör fand, entschloss er sich, die Öffentlichkeit für die Raumfahrt zu interessieren.

Um das Thema Raumfahrt auch dem Nichtwissenschaftler zugänglich zu machen, begann er nach technischen Lösungen der Raumfahrtprobleme zu suchen. In Experimenten während der zwanziger Jahre erzielte er bereits einen Rückstoß, der auf eine Ausströmungsgeschwindigkeit von 3900 Meter pro Sekunde schließen ließ. Dabei benutzte er jedoch Treibstoffe im gasförmigen Zustand, „da ich sie verflüssigt in Siebenbürgen nicht bekommen und auch nicht selbst verflüssigen konnte“.

„Ich schrieb das einigen Bekannten in Wien, worauf ein Professor der Wiener Technischen Hochschule [Dr. Karl Wolf] erklärte, ich müsse ein ,Schwindler‘ sein.“ Wie Oberth über diesen Vorgang 1929 in Wege zur Raumschiffahrt berichtete, hätte Wolf errechnet, dass es unmöglich sei, mit einer Mischung aus Wasserstoff und Sauerstoff Ausströmungsgeschwindigkeiten über 2000 Meter pro Sekunde zu erzielen, da der bei der Verbrennung entstehende Wasserdampf („nämlich wegen der Dissoziation“) nicht mehr als 3000 Grad Celsius heiß werden könne.((Oberth 1929, S. 34.)) Oberth weist daraufhin, der Professor habe die Tatsache übersehen, dass die Dissoziation praktisch unterbleibe, wenn Wasserstoff bei niedriger Temperatur im Überschuss vorliege. Er schreibt: „Tatsächlich war ich in der Lage, mit einer bei weitem noch nicht vollkommenen Maschine 3800 bis 4000 Meter pro Sekunde zu erreichen.“((Oberth 1959b, S. 134.))

Oberth arbeitete weiter an praktischen Problemen der Raketentechnik. Er schlug damals zum Beispiel vor, die Landung der Raumfahrzeuge durch Fallschirme abzubremsen, und die Ventile, die den Brennstoffzufluss regulieren, elektrisch zu steuern. Außerdem wollte er eine riesige Zentrifuge mit einem 35 Meter langen Arm bauen, um die Widerstandsfähigkeit des Menschen gegen hohe Beschleunigungen systematisch zu untersuchen. Damit ließen sich unter den Bewerbern für Raumflüge die passendsten aussuchen. Im Frühjahr 1921 hatte er die Pläne einer zweistufigen Rakete fertiggestellt, die mit Alkohol und flüssigem Sauerstoff betrieben werden sollte. Die theoretischen Berechnungen dafür waren Gegenstand seiner Doktorarbeit für die Universität Heidelberg gewesen, die abgelehnt worden war. Allerdings hatte Oberths Doktorvater Professor Max Wolf ein Zeugnis ausgestellt, dass er die Arbeit für „wissenschaftlich einwandfrei und geistreich“ halte. Auch sechs Verlage, denen er die Arbeit zur Veröffentlichung angeboten hatte, lehnten ab. Schließlich musste sich Hermann Oberth von seiner Frau Geld leihen, um die Arbeit selbst veröffentlichen zu können.

Die Rakete zu den Planetenräumen

In einer Zeit, wo der Mensch gerade die ersten Schritte in die Lüfte setzte, löste Oberth in dieser Schrift von weniger als hundert Seiten die theoretischen Probleme der Raketenkunde und entwarf Raketen für den bemannten Raumflug. Das Buch brachte frische Luft in die Akademikerstuben. Es löste rege Debatten erst unter deutschen Wissenschaftlern, aber schon bald auch in internationalen Kreisen aus. Und es ermutigte viele andere Wissenschaftler und Visionäre dazu, Wernher von Braun eingeschlossen, auch lebenslange Untersuchungen zur Raumfahrt zu verfolgen.

Die Rakete zu den Planetenräumen rief aber auch ein Schwall von Kritik hervor. Ein Mathematiker gab zum Beispiel ein Jahr nach Erscheinen von Oberths Buch zum besten: „…es wird wegen des ungeheuren Materialverschleißes nicht möglich sein, im All herumzufahren. Wir denken, die Zeit ist noch nicht gekommen, um mit diesem Problem fertig zu werden, und sie wird wahrscheinlich nie kommen.“((Oberth 1967, S. 119.)) Der vehementeste Angriff kam aber von Geheimrat Professor Dr. Hans Lorenz aus Danzig, der in einer Artikelreihe in der angesehenen Zeitschrift des Vereins Deutscher Ingenieure (VDI) über Oberth herzog. Darin „bewies“ der Geheimrat, Oberths Raumschiff könne nicht einmal die notwendige Geschwindigkeit von etwa 11 Kilometern pro Sekunde erreichen, um die Erdatmosphäre zu verlassen. Lorenz argumentierte, das Raumschiff müsste dazu das 34fache seines Eigengewichts an Treibstoffen tanken, und das sei unmöglich.

Oberth und das VDI-Mitglied Walter Hohmann reichten Gegendarstellungen ein, sie wurden aber nicht abgedruckt. Als Grund gab die Redaktion Platzmangel an. Willy Ley erzählt aber, ihm seien Jahre später in einem vertraulichen Gespräch die wahren Gründe genannt worden: „Es geht nicht an, dass Leute, die halb so alt sind wie der Geheimrat, diesem widersprechen!“ Ley berichtet auch, der VDI habe später eingelenkt und eine Gegendarstellung veröffentlicht – im Jahre 1950.((Ley 1957a, S. 118.))

Oberth erhielt jedoch eine Möglichkeit, seine Sache vorzutragen. Im Juni 1928 setzte die Wissenschaftliche Gesellschaft für Luftfahrt (WGL) auf ihrem Jahrestreffen in Danzig eine Debatte zwischen Oberth und Lorenz auf die Tagesordnung. Hans Barth berichtet, Oberth habe in seinen Ausführungen darauf hingewiesen, dass Lorenz sein Buch nicht einmal gelesen habe. „Herr Geheimrat Lorenz ist also nicht, wie allgemein angenommen wird, nach einer eingehenden Beschäftigung mit den Konstruktionsvorschlägen zu seiner bekannten Stellung gekommen, sondern a priori.“ Er gab seiner Hoffnung Ausdruck, dass Lorenz sich ernsthaft mit seiner Arbeit beschäftigen möge, „damit die mathematische Kraft und der Scharfsinn, die er bisher auf die Lösung der Probleme verwandt hat, fruchtbringende Bahnen einschlagen mögen“.((Barth 1991, S. 101 f.))

Ley fasst Oberths Argumente zusammen: Folgte man den von Lorenz vorgetragenen Argumenten, müsste man zustimmen, dass das Verhältnis zwischen der betankten und leeren Rakete 34 zu 1 betrage. Jedoch war Oberth zu einem günstigeren Verhältnis gekommen, nämlich 20 zu 1. Das sei dem Geheimrat entgangen, da er Oberths Buch nicht zu Ende gelesen hätte. „Oberth konnte nichts dafür, dass der Geheimrat nicht glauben wollte, dass es möglich sei, einen Aluminiumtopf zu bauen, in den man soviel Wasser gießen kann, dass der volle Topf zwanzigmal mehr wiegt als der leere.“((Ley 1957a, S. 119.))

Der bekannte Aerodynamiker Theodore von Kármán schreibt über die Debatte in seiner Autobiographie Die Wirbelstraße:

„Ich erinnere mich, dass ich in den zwanziger Jahren an einer Konferenz der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Luftfahrt in Danzig teilnahm, bei der Professor Hermann Oberth, einer der deutschen Raketenpioniere, einen enthusiastischen Vortrag hielt über die Möglichkeit, die Erde zu verlassen. Nach dieser futuristischen Rede hielt ein angesehener deutscher Professor namens Lorenz einen langen Vortrag, in dem er ,bewies‘, warum es dem Menschen nicht gelingen könne, dem Schwerefeld der Erde zu entrinnen. Er sagte, dass Oberths Raumschiff die Erdfluchtgeschwindigkeit von 11.200 Metern pro Sekunde nicht erreichen könne, weil eine Rakete zur Erzielung einer so hohen Geschwindigkeit eine enorme Energiemenge benötigen würde – ja, sagte er, wenn sie den besten zur Zeit bekannten Brennstoff verwendete, würde die Rakete so viel Brennstoff enthalten, dass sie betankt 34mal soviel wiegen würde wie im leeren Zustand. Lorenz schloss daraus, dass das technisch unmöglich sei und daher vergessen werden sollte.

Ich hielt das im Prinzip für falsch. Ich stand auf und verteidigte Oberth. ,Wenn wir die Energie in einem Kilogramm Petroleum oder einem anderen Kohlenwasserstoff berechnen und sie in mechanische Arbeit umrechnen‘, sagte ich, ,werden wir feststellen, dass mehr als ausreichend Energie vorhanden ist, um eine Rakete in den Weltraum zu befördern‘. Theoretisch war es also möglich, der Erde zu entrinnen, und ich hielt es nicht für richtig, die ganze Idee zu verwerfen, weil sie mit den zur Zeit vorhandenen Mitteln nicht zu verwirklichen war.“((von Kármán 1968, S. 284.))

Geheimrat Lorenz äusserte sich nie wieder über Raketen.

Auf Oberths erste Veröffentlichung im Jahre 1923 folgten viele weitere, inzwischen zu Klassikern gewordene Arbeiten. Dazu zählen zum Beispiel Walter Hohmanns Die Erreichbarkeit der Himmelskörper (1925), mit der die Grundlage für die interplanetarische Flugdynamik und Flugbahnberechnung gelegt wurde, Die Fahrt ins Weltall des Weltraumschriftstellers Willy Ley (1926), eine Arbeit, die eher für die Allgemeinheit bestimmt war, und Der Ansturm auf den Kosmos von Max Valier (1924). Bis 1928 erschienen in deutscher Sprache über 80 Bücher zu Fragen der Raumfahrt, sowohl streng wissenschaftliche Bücher wie auch phantastische Geschichten, die der Romanliteratur zugeordnet werden müssen.

Oberths kleines Buch hatte auch starken Einfluss auf die Arbeit eines anderen Raumfahrtpioniers der ersten Stunde. Wie Barth berichtet, löste Oberths Veröffentlichung in Russland erneutes Interesse an Konstantin Ziolkowski aus, dessen bahnbrechende frühe Arbeiten bis dahin völlig übergangen worden waren. Im Vorwort zu einer Sammlung von Ziolkowskis Schriften, die 1924 unter dem Titel Eine Rakete im Kosmos erschienen, schreibt der Herausgeber Alexander Tschijewski:

„Erst nachdem in Deutschland das Buch Hermann Oberths über Die Rakete zu den Planetenräumen Aufsehen erregt hatte und eine Notiz über dasselbe in die offizielle russische Presse gedrungen war, erinnerten wir Russen uns daran, dass vor ungefähr 30 Jahren ein Theoretiker der Luftschiffahrt, Herr K. E. Ziolkowski, mit einer ins einzelne gehenden und mathematisch begründeten Arbeit über einen Rückstoß-Apparat für Reisen zwischen den Planeten vor die Öffentlichkeit getreten war.“((Barth 1991, S. 80.))

Oberth begann sein Buch von 1923 mit folgenden Sätzen:

„1. Beim heutigen Stande der Wissenschaft und der Technik ist der Bau von Maschinen möglich, die höher steigen können, als die Atmosphäre reicht.

2. Bei weiterer Vervollkommnung vermögen diese Maschinenderartige Geschwindigkeiten zu erreichen, dass sie – im Ätherraum sich selbst überlassen – nicht auf die Erdoberfläche zurückfallen müssen und sogar imstande sind, den Anziehungsbereich der Erde zu verlassen.

3. Derartige Maschinen können so gebaut werden, dass Menschen (wahrscheinlich ohne gesundheitlichen Nachteil) mitemporfahren können.

4. Unter den gewissen wirtschaftlichen Bedingungen kann sichder Bau solcher Maschinen lohnen. Solche Bedingungen können in einigen Jahrzehnten eintreten.“((Oberth 1923, S. 7.))

Oberth endet seine Einleitung so:

„Schließlich will ich nicht verschweigen, dass ich manche Einrichtung in ihrer jetzigen Form keineswegs als definitive Lösung betrachte. Ich musste mir natürlich, als ich meine Pläne und Berechnungen ausarbeitete, jede Einzelheit überlegen; dabei konnte ich wenigstens feststellen, dass nirgends unüberwindliche technische Schwierigkeiten vorliegen. Gleichzeitig wurde mir aber auch klar, dass manche Einzelfragen nur nach gründlichem Spezialstudium und vielleicht jahrelangem Experimentieren so gelöst werden können, dass die Lösung ein Optimum darstellt.“((Oberth 1923, S. 8.))

In der ersten Hälfte seines Buches behandelt Oberth vor allem theoretische Probleme des Raumflugs. Dazu zählen Untersuchungen über verschiedene Treibstoffe, ihre Verbrennungseigenschaften und Ausströmungsgeschwindigkeiten, Berechnungen über die optimale Neigung und die günstigsten Breiten- und Längengrade beim Start, über die aerodynamische Form der Rakete und allgemein über „die Beziehungen zwischen Zeit, Masse, Kraft, Weg, Luftdruck und günstigster Geschwindigkeit“.((Oberth 1923, S. 13.))

Entscheidend für Oberths Berechnungen der Raketenform waren Vorarbeiten Alfred Busemanns und anderer. Sie halfen ihm, den aerodynamischen Luftwiderstand der Rakete zu minimieren und die optimale Geschwindigkeit des Raumschiffes beim Start in die Umlaufbahn der Erde zu ermitteln. Oberth war sich darüber bewusst, dass sich in der Raketentechnik ständig neue wissenschaftliche Herausforderungen stellen, um in einer komplexen Fülle von Grenzbedingungen den „Weg des geringsten Widerstandes“ zu finden.

Mit Ziolkowski und Goddard teilte Oberth die Idee, Raketen in Stufen zu bauen. Dabei sollte ein Motor über dem anderen angebracht und erst dann gezündet werden, wenn der vorige ausgebrannt war. Oberth beschrieb auch sogenannte „Bandwurmraketen“, die die leeren Brennstofftanks abwerfen, um sich des toten Gewichtes zu entledigen.

Der Vorteil dieser Anordnung wurde von vielen Wissenschaftlern zunächst nicht erkannt. Er beruht auf der Tatsache, dass sich in der Schwerelosigkeit die Raketengeschwindigkeiten addieren, da der Luft- und Gravitationswiderstand fehlt. Erreicht das Raumschiff nach dem Brennschluss der ersten Stufe eine Geschwindigkeit von 10 Kilometern pro Sekunde und erzielt die zweite Stufe eine Beschleunigungsgeschwindigkeit von 5 Kilometern pro Sekunde, fliegt das Raumschiff schließlich mit einer Endgeschwindigkeit von 15 Kilometer pro Sekunde. Auf diese Weise ließ sich die erforderliche Umlaufgeschwindigkeit von 8 Kilometern pro Sekunde und die Fluchtgeschwindigkeit aus dem Schwerefeld von 11 Kilometern pro Sekunde erreichen.

Oberth wird oft als reiner Theoretiker hingestellt, den die notwendigen Ingenieurdetails wenig interessierten. Solche Behauptungen sind völlig aus der Luft gegriffen. Er schließt den ersten Teil seines Buches mit einer Aufzählung der Grunderfordernisse des Raketenflugs und schreibt: „Diese Forderungen stehen vielfach zueinander im Gegensatz. Sache der Konstruktion ist es, zwischen allen das Optimum zu finden.“((Oberth 1923, S. 47.))

Oberth wandte die Gleichungen, die sich aus seinen theoretischen Überlegungen ergaben, auf einen konkreten Entwurf, das Raketenmodell B, an (Abbildung 1.2), das über viele Jahre den Ausgangspunkt für die experimentelle Forschung bildete. Im zweiten Teil der Rakete zu den Planetenräumen wird das Modell B anhand von Skizzen genau beschrieben. Es besteht aus einer ersten Stufe, einer mit Alkohol betriebenen Flüssigkeitsrakete, sowie einer oberen Stufe mit flüssigem Wasserstoff. „Das Modell B hat den Zweck, die Höhe, Zusammensetzung und Temperatur der Erdatmosphäre zu erforschen, die Widerstandskurve (die sich aus Atmosphärendruck, Geschwindigkeit und Form der Rakete ergibt) besser kennenzulernen und unsere Berechnungen über erzielte Endgeschwindigkeit, Temperatur, Druck usw. (besonders für die Wasserstoffrakete) zu bestätigen und zu verbessern.“((Oberth 1923, S. 48.))

Das Modell B mit seinen Alkohol- und Wasserstoffantrieben ist 5 Meter lang, hat einen Durchmesser von 55,6 Zentimetern und wiegt 544 Kilogramm. Vom Gesamtgewicht macht die obere Wasserstoffstufe nur 6,9 Kilogramm aus. Oberth errechnete die Ausströmungsgeschwindigkeit der ersten Stufe mit 1800 Meter pro Sekunde. Am Treibapparat sind zur Stabilisierung und Lenkung vier Flossen angebracht, die nach Oberths Vorstellung beim Abstieg nach rückwärts umgeklappt werden, was einen Bremsfallschirm überflüssig machen würde.

Abbildung 1.2: Zeichnung der Rakete Modell B. Oberths erste Mehrstufenrakete, das Modell B. Die Hauptstufe wird mit Alkohol und die obere Stufe mit flüssigem Wasserstoff betrieben. Mit dieser Kombination ließe sich nach seinen Berechnungen genügend Schubkraft entwickeln, um eine Erdumlaufbahn zu erreichen. Quelle: Hermann Oberth, Die Rakete zu den Planetenräumen, Oldenbourg, 1923.
Abbildung 1.2: Zeichnung der Rakete Modell B. Oberths erste Mehrstufenrakete, das Modell B. Die Hauptstufe wird mit Alkohol und die obere Stufe mit flüssigem Wasserstoff betrieben. Mit dieser Kombination ließe sich nach seinen Berechnungen genügend Schubkraft entwickeln, um eine Erdumlaufbahn zu erreichen. Quelle: Hermann Oberth, Die Rakete zu den Planetenräumen, Oldenbourg, 1923.

Die Ausströmungsgeschwindigkeit, welche die Wasserstoffrakete als zweite Stufe erzielen konnte, schätzte Oberth auf 3400 Meter pro Sekunde. Damit konnte die Rakete eine Höhe von fast 2000 Kilometern erreichen. Wenn man aber die Geschwindigkeiten aller Stufen (er sah noch eine zusätzliche Hilfsrakete vor) zusammenrechnet, sollte das Modell B in seiner endgültigen Beschaffenheit nicht nur Instrumente zum Studium der Erdatmosphäre transportieren, sondern sogar eine Erdumlaufbahn erreichen können. Oberth schreibt fast beiläufig: „…meine Geschosse können sehr wahrscheinlich sogar kosmische Geschwindigkeit erzielen“.((Oberth 1923, S. 75.))

Im „technischen Teil“ ist die Rakete zu den Planetenräumen praktisch ein Handbuch, um die wichtigsten Bestandteile des Raketensystems zu entwerfen, herzustellen und zu testen. So finden sich hier Entwürfe für Zerstäuber und Düsen, für neue Materialien, die den Anforderungen von flüssigem Wasserstoff einige Grade über dem absoluten Nullpunkt standhalten, sowie Entwürfe für Brennkammern, Treibstoffpumpen, Kreisel zur Stabilisierung und viele andere Teile.

Den Schlussteil seiner Arbeit überschrieb Oberth recht unscheinbar „Ziel und Aussichten“. Er beginnt mit einer aus damaliger Sicht einzigartigen Feststellung: „Die auf S. 65 ff. beschriebenen Raketen können so stark gebaut werden, dass sie imstande sind, einen Menschen mit in die Höhe zu tragen.“ Er wagte etwas, was sich Goddard und Ziolkowski nicht getrauten, nämlich zu beweisen, dass seine Raketen funktionieren und sogar einen Menschen in den Weltraum bringen können.

Schon von klein auf und mit dem Wissen, das ihm sein Vater vermittelt hatte, beschäftigte sich Oberth mit den Wirkungen, die Veränderungen der Schwerkraft auf Lebewesen ausüben. In Wege zur Raumschiffahrt überlegte er, dass bei der geringeren Schwerkraft, die zum Beispiel auf dem Mars herrscht, Pflanzen und Tiere weit weniger Belastungen aushalten müssten, und folgert daraus: „Unser Mann könnte wie eine Primaballerina auf der großen Zehe stehen… die Tiere könnten nach Gauß dreimal so groß wachsen, ohne zu plump zu werden.“((Oberth 1929, S. 84.))

Sorgen machten ihm dagegen in seinem ersten Buch vor allem die Belastung durch den erhöhten Andruck beim Start und die Folgen der Schwerelosigkeit während des Fluges. Zuerst stellte Oberth die Frage: „Welchen Andruck verträgt nun ein Mensch? Beispiele: Es ist mir ein Fall bekannt, dass ein Feuerwehrmann aus 25 Meter Höhe absprang, in liegender Stellung am Sprungtuch ankam und dieses 1 Meter weit eindrückte, ohne bei diesem Sprung irgendwelchen Schaden zu nehmen. Der Andruck, den er während des Anpralles auszuhalten hatte, stieg dabei sicher über 240 Meter pro Sekunde im Quadrat. Doch gehört dieser Fall wohl zu den Ausnahmen.“((Oberth 1923, S. 70.))

Nach der Beschreibung eines Sprunges ins Wasser aus 8 Metern Höhe (siehe Abbildung 1.3) kommt Oberth zu dem Schluss, dass

„der Mensch mehr aushält, wenn der Druck vom Kopf zu den Füßen gerichtet ist, als wenn er umgekehrt verläuft. Den größten Andruck verträgt der Mensch in der Transversal- und Sagittalrichtung. Weil hier nämlich bei gleichem Andruck die Zug-und Druckspannungen am kleinsten werden, konnte ihm die Natur in dieser Richtung die größte Andruckfestigkeit geben. Nun hätte die Natur aber ebensogut auch Material sparen und etwa das Bindegewebe in dieser Richtung schwächer lassen können. Dies letztere geschah wohl aus Zweckmäßigkeitsgründen nicht. Es kommt so oft vor, dass wir nicht lebensfähig wären, wenn wir dabei jedesmal innere Verletzungen davon tragen würden, wie zu hoher Andruck sie mit sich bringt.“((Oberth 1923, S. 70.))

Oberth schildert außerdem eine eigene Erfahrung und schreibt: „Ich glitt einmal, als ich von einem 6 Meter hohen Gerüst ins Wasser sprang, aus und fiel auf die Seite. Ich konnte nicht die geringste Schädigung durch Andruck feststellen.“((Oberth 1923, S. 71.)) Er schließt daraus, dass der menschliche Körper Beschleunigungskräften in aufrechter Haltung von 60 Metern bis zu 90 Meter pro Sekunde im Quadrat in liegender Haltung standhalten könne.

Abbildung 1.3: Der beste Weg, hohem „Andruck“ standzuhalten. Oberth interessierten von Anfang an auch die gesundheitlichen Auswirkungen der Raumfahrt. Er unternahm dazu auch verschiedene Selbstversuche, um herauszufinden, wie der Körper auf hohen Andruck (in der Startphase) reagiert. Dabei fand er heraus, dass sich die Einwirkung starker Gravitationskräfte im Liegen besser aushalten ließe und Astronauten daher in Rückenlage starten sollten. Quelle: Hermann Oberth, Wege zur Raumschiffahrt, Oldenbourg, 1929.
Abbildung 1.3: Der beste Weg, hohem „Andruck“ standzuhalten. Oberth interessierten von Anfang an auch die gesundheitlichen Auswirkungen der Raumfahrt. Er unternahm dazu auch verschiedene Selbstversuche, um herauszufinden, wie der Körper auf hohen Andruck (in der Startphase) reagiert. Dabei fand er heraus, dass sich die Einwirkung starker Gravitationskräfte im Liegen besser aushalten ließe und Astronauten daher in Rückenlage starten sollten. Quelle: Hermann Oberth, Wege zur Raumschiffahrt, Oldenbourg, 1929.

Eine andere Frage war, ob der Mensch einen solchen Druck während der 200 bis 600 Sekunden langen ersten Beschleunigungsphase des Raumschiffs aushalten kann. Auch war ungewiss, ob die Schwerelosigkeit irgendwelche bleibenden Schäden hervorruft. „Schon die Tatsache, dass alle lebenswichtigen Vorgänge sowohl in aufrechter als auch in liegender Stellung möglich sind, beweist, dass wir nicht (wie etwa geotropische Pflanzenteile) auf einen Andruck aus irgendeiner Richtung angewiesen sind.“((Oberth 1923, S. 72.)) Auch dieser Schluss ist nicht so selbstverständlich, wie er zunächst erscheinen will, und noch 1929, als sein Buch schon erschienen war, untersuchte Oberth weiter die Auswirkungen, die ein längerer Aufenthalt im All unter Schwerelosigkeit auf Muskeln und Knochen hat.

Er beendet daher seine Erörterung über die physiologischen Auswirkungen des Raumfluges mit folgendem Hinweis:

„Unsere Kenntnis über die physiologische und psychische Wirkung abnormer Andruckverhältnisse ist heute noch ziemlich lückenhaft. Ich wäre daher für jede Mitteilung auf diesem Gebiet aufrichtig dankbar… Ich wollte hier eigentlich nur beweisen, dass auch auf diesem Gebiet Vorarbeit möglich ist.“((Oberth 1923, S. 79.))

Schließlich fasst Oberth seine Gedanken über die Aussichten der Raumfahrt mit Raketen zusammen:

„Ich will nicht behaupten, dass dies bereits in den nächsten 10 Jahren geschehen wird, ich möchte aber zeigen, was diese Apparate nützen und was sie kosten würden, um hieraus einen Schluss darauf zu versuchen, ob sie jemals ausgeführt werden… außer den… angeführten Messungen würde dieses Modell keinen Nutzen bringen. Nun ist ja der Nutzen irgendeiner wissenschaftlichen Entdeckung vorher nicht abzuschätzen. Es haben oft genug Dinge, die scheinbar ganz abseits vom täglichen Leben liegen, später die höchste praktische Bedeutung erlangt. (Ich erinnere hier nur an die Elektrizität.)“((Oberth 1923, S. 84.))

Oberth meint jedoch, dass der Mensch im All viel Nützliches vollbringen kann. Die Astronauten werden ihr Raumschiff in einer Art Taucheranzug verlassen und im All arbeiten können, wenn sie durch ein Seil mit dem Raumschiff verbunden bleiben. Als mögliche Nutzanwendungen führt er an:

„Versuche, die nur in einem großen luftleeren Raum möglich sind. Während der freien Fahrt ist der Apparat keinem Andruck ausgesetzt. Daher lassen sich viele physikalische und physiologische Versuche ausführen, die auf der Erde der Schwere wegen unmöglich sind. Im Ätherraum können Fernrohre von jeder Größe benutzt werden, da die Sterne nicht flimmern… Da der Himmel vollkommen dunkel ist, genügt ein Abblender der Sonnenscheibe, um die Sonnennähe nach Belieben zu beobachten. Gewisse Untersuchungen über strahlende Energie sind auf der Erde nicht möglich, da die Atmosphäre kurzwellige Lichtstrahlen verschluckt… Endlich könnte eine derartige Rakete bei einer Anfangsgeschwindigkeit von 11 Kilometer pro Sekunde um den Mond fahren und die unbekannte Hemisphäre erforschen.“((Oberth 1923, S. 94.))

Wenn solche wissenschaftlichen Untersuchungen den Forschergeist noch nicht geweckt haben und staatliche Gelder fließen lassen, schlägt Oberth vor, Raketen dieser Größe könnten wie kleine Monde um die Erde kreisen und als Raumstationen wichtige Aufgaben für Schiffahrt und Kommunikation erfüllen. Man könne aus dem Weltall frühzeitig herannahende Naturkatastrophen erkennen und sogar Nachrichten übermitteln, womit er die Aufgabe heutiger Kommunikationssatelliten vorwegnahm.

In diesem Zusammenhang stellte Oberth auch zum ersten Mal sein Konzept vor, einen großen Spiegel in eine erdnahe Umlaufbahn zu bringen, der die Sonnenenergie bündelt und auf bestimmte Orte der Erde abstrahlt. Dieses in Oberths späteren Büchern ausführlicher dargestellte Konzept wurde von dem deutschen Raumfahrtvisionär Krafft Ehricke in vielerlei Hinsicht weiter ausgebaut (siehe Kapitel 10).

Angesichts solcher und ähnlicher Anwendungen, die Hermann Oberth für seine Raketen sah, beendete er sein Werk mit dem Satz: „Das Betreten fremder Weltkörper hätte sicher hohen wissenschaftlichen Wert.“((Oberth 1923, S. 89.))

In den zwanziger Jahren hatte Hermann Oberth viele der Konzepte entwickelt, auf denen das US-Raumfahrtprogramm aufbaute. In aller Bescheidenheit stellte er 1959 fest, er sei „eigentlich selbst überrascht, wieviel davon in die heutige Raumfahrttechnik Eingang gefunden hat“. Unter den vielen technischen Details, an denen Oberth bereits arbeitete, sind die folgenden erwähnenswert:

„Regeneratives Kühlen, Drucktanks, flüssige Treibstoffe wie Alkohol, angereichert durch Wasser und flüssigen Sauerstoff, Richtungskontrolle mittels elastisch aufgehängter Gewichte, Geschwindigkeitsmessung durch Messung der durch die Beschleunigung erzeugten induktiven Ströme in einem Amperemeter, Drosselung der Beschleunigung durch automatisches Schließen der Brennstoff-Ventile, wenn die gewünschte Geschwindigkeit erreicht wurde, und schließlich die Verwendung flüssigen Wasser- und Sauerstoffs für die oberen Stufen.“((Oberth 1967, S. 118.))

Hermann Oberth verfolgte am 16. Juli 1969 von der Ehrenloge aus den Start von Apollo 11. Bild: National Air and Space Museum, Smithsonian Institution, 83-297

Seine Ideen aus den zwanziger Jahren waren der Kern, aus dem heraus sich die wissenschaftlichen Konzepte und praktischen Anwendungen der späteren Raumfahrt entwickelten.