„Die Schlacht der vielen Formeln“

Willy Ley nannte die Jahre, die der Veröffentlichung von Hermann Oberths Buch Die Rakete zu den Planetenräumen folgten, „die Schlacht der vielen Formeln“.((Ley 1957a, S. 108.)) Oberth war fest entschlossen, seine Ideen auch zu verwirklichen. Er trug sie in die breite Öffentlichkeit, setzte sich mit seinen Kritikern auseinander, stritt gegen die Vorurteile aus den Reihen der anerkannten Wissenschaft und suchte nach Wegen, andere an seinen Forschungen zu beteiligen. Mit Experimenten und Lehrveranstaltungen machte der 1927 gegründete Verein für Raumschiffahrt bald von sich reden. Und nach seinem Vorbild bildeten sich in dieser Zeit ähnliche Vereine in ganz Europa, in den Vereinigten Staaten und vereinzelt sogar in Asien und Lateinamerika.

Den deutschen Raketenforscheramateuren der ersten Stunde mangelte es nicht an Tatkraft und Optimismus, sondern vor allem an Geld und Ausrüstung. Ihr Optimismus lag in der Methode und der Tradition begründet, mit der in Deutschland Wissenschaft betrieben wurde. Die Kultur, aus der sie stammten, hatte die verheerende Weltwirtschaftskrise und die damit einhergehende Not überdauert und ließ sich zunächst auch durch Hitlers Aufstieg zur Macht nicht brechen.

Hermann Oberths wichtigste Schaffensperiode fiel in eine Zeit, als Deutschland von einem tiefen politischen Umbruch erfasst wurde. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg sollte mit dem Versailler Vertrag sichergestellt werden, dass Deutschland als wirtschaftliche Konkurrenzmacht ausschied. Doch der Versuch, Deutschland zu entindustrialisieren – ein Ziel, das die britische Geopolitik schon seit dem 19. Jahrhundert verfolgte – konnte keinen dauerhaften Frieden bringen. Das zeigten schon die Ereignisse des Jahres 1923. Nach den Bestimmungen des Versailler Vertrags wurden 7 Millionen Deutsche umgesiedelt und ein Achtel Deutschlands abgetrennt. Dazu gehörte auch das Kohlerevier an der Saar, das dem Völkerbund unterstellt wurde. Die dicht bevölkerte Industrieregion Oberschlesien, reich an Kohle und Eisenerz, musste teilweise an Polen abgetreten werden.

Der Versailler Vertrag lieferte den Rahmen, um so viele deutsche Industrieanlage wie nur irgend möglich zu demontieren und Deutschland finanziell und materiell zu ruinieren. Die Kommission für Reparationszahlungen legte fest, dass Deutschland bis zum 1. Mai 1921 1 Milliarde Pfund Sterling zu zahlen hatte. Die Gesamthaftung wurde auf 6,6 Milliarden Pfund festgelegt. Die Raten sollten jährlich 100 Millionen Pfund und zusätzlich ein Viertel des deutschen Warenexports betragen. Bei Zahlungsverzug sollten die Alliierten Truppen Deutschland besetzen.

Über die saarländischen Gruben hinaus musste Deutschland Frankreich noch 10 Jahre lang jährlich 7 Millionen Tonnen Kohle liefern. Belgien sollte jährlich 8 Millionen Tonnen Kohle erhalten, und selbst Italien war umsonst zu beliefern.

Zur Begleichung der Geldzahlungen – die Industrie, die Überschüsse erwirtschaften könnte, war weitgehend stillgelegt worden – druckte die deutsche Regierung mehr Papiergeld. Das führte im Zusammenhang mit anderen widrigen Umständen schließlich zur Währungskrise. Im Dezember 1922 verfehlte die deutsche Regierung die Zahlungsfrist um wenige Tage. Das nahmen die Franzosen zum Vorwand, um mit ihren Truppen ins Ruhrgebiet einzumarschieren. Sie wollten sich ihre „Produktivgarantien“, wie es hieß, sichern. Die Reaktion war ein Generalstreik. Diese Entwicklung stürzte Deutschland wirtschaftlich endgültig in den Ruin. Der größte Teil des Bergbaus und der Industrie lagen still. Die Folge war Hyperinflation und eine dramatische Verelendung weiter Teile der Bevölkerung.

Damit endete allerdings auch jede Möglichkeit für Reparationszahlungen, und die Alliierten einigten sich schließlich darauf, Deutschlands Zahlungsbelastung zu strecken. Im Dawes-Plan von 1924 lieferten die Siegermächte Deutschland den internationalen Großbanken als Geisel aus. Man errichtete ein komplexes System internationaler Anleihen, das Deutschland erlauben sollte, seine Reparationsleistungen auf Kredit zu zahlen. Die einsetzende Geldorgie täuschte einige Jahre „Wohlstand“ auf Pump vor. Schließlich zeigte der Börsenkrach an den Aktienmärkten 1929, dass das Kreditvolumen erschöpft war. Alle demokratischen Parteien und die verschiedenen Regierungen hatten mehr oder weniger bereitwillig für die Alliierten die Ausplünderung Deutschlands betrieben und waren so in misskredit geraten.

Die Franzosen waren gerade im Ruhrgebiet einmarschiert und Deutschland war den höchsten wirtschaftlichen und politischen Belastungen ausgesetzt, als die deutschen Raketenfreunde, angeregt von Oberths Ideen und Visionen, die Möglichkeiten der Raumfahrt zu erkunden versuchten.

Der vernehmbarster Sprecher für das aufgehende Feld der Astronautik war der 1906 geborene wissenschaftliche Schriftsteller Willy Ley. Wie viele junge Leute damals verschlang er alle Bücher über Raumflüge, die in den frühen 20er Jahren erschienen waren. Er beschloss, dieses neue Gebiet vielen Menschen, denen Oberths Buch zu anspruchsvoll war, auf möglichst einfache Weise zu erschließen. Den gleichen Gedanken hatte auch der Raketen-Enthusiast Max Valier, der in Europa herumreist war und dort Vorträge zu Themen der Raumfahrt hielt. Er schlug Oberths Verleger Rudolf Oldenbourg vor, dem Thema eine populärwissenschaftliche Reihe zu widmen, woraufhin sich dieser an Oberth wandte und ihn um eine Stellungnahme bat.

In seinem Antwortschreiben vom 19. Januar 1924 dankte Oberth dem Verleger für die Mitteilung und meinte zu Valiers Plan: „Herr V. schickt mir eine Kopie seines Manuskripts, wenn er es soweit fertig hat, und ich füge dann von meinen Arbeiten hinzu, was ich für eine brauchbare Ergänzung halte; bzw. mache ich ihn auf das eine oder andere aufmerksam, was mir ungeeignet scheint.“((Barth 1984, 1. Band, S. 12.)) Oberth wollte selbst eine eigene populäre Darstellung seiner Arbeit schreiben und glaubte, die beiden Abhandlungen könnten einander ergänzen.

Oberth half Max Valier zwar bei den Berechnungen, die dieser nicht allein anfertigen konnte, dennoch enthielt das 1924 veröffentlichte Buch Der Vorstoß in den Weltenraum etliche Fehler. Ley schrieb über das Buch: „Als ich Valiers Buch las, merkte ich sofort, dass es nicht allgemein verständlich war und setzte mich hin, um es meinerseits zu vereinfachen. Dabei erkannte ich, dass er Oberth nicht einmal richtig interpretiert hatte – also schrieb ich mein eigenes Buch, das 1926 veröffentlicht wurde.“((Ley 1943, S. 67.))

Die Schwierigkeiten, ein allgemeinverständliches Buch zu schreiben, erklärte Ley so: „Während sich deutsche Wissenschaftler mit Einzelheiten herumschlugen und manchmal in die falsche Richtung gingen, bestand eindeutiger Bedarf, durch Berichte die breite Öffentlichkeit darüber zu informieren, mit welcher Hochspannung der Kampf um Gleichungen geführt wurde… Die Idee musste aus dem Studierzimmer hinaus in die Laboratorien und später in die Werkstätten getragen werden.“((Ley 1957a, S. 114–115.))

Im gleichen Jahr, als Valiers Buch erschien, zog Hermann Oberth „auf Einladung eines Bankiers, der mein Raketenprojekt finanzieren wollte“, nach Würzburg, musste aber bald erkennen, dass dies nur ein schöner Traum war. Er schrieb dazu: „[Es] stellte sich heraus, dass er die Meinung eines Berliner Professors der Technischen Universität über den Stellenwert des Projektes abwartete. Als schließlich nach sechs Monaten die Stellungnahme eintraf, waren meine Ersparnisse, die ich für Experimente vorgesehen hatte, für meinen Unterhalt aufgebraucht.“((Oberth, 1967, S. 119.))

Die „Meinung“ des Professors war vorhersehbar. Er riet dem Bankier davon ab, das Projekt zu finanzieren – und Oberth musste, finanziell ruiniert, nach Schäßburg zurückkehren, wo er seine Unterrichtstätigkeit am Gymnasium wieder aufnahm.

Aber inzwischen hatte sich der gerade 20jährige Willy Ley ans Werk gemacht und Die Fahrt ins Weltall geschrieben. Die 1926 erschienene allgemeinverständliche Arbeit beginnt mit der Frage, unter welchen Bedingungen menschliches Leben im Weltall überhaupt möglich sei und ob Menschen auf anderen Welten überhaupt leben können. Er beantwortet die Frage mit „einem vorsichtigen Ja“ und beschreibt die technischen Vorrichtungen, die verfügbar sind, um den Menschen gegen Kälte, Sauerstoffmangel und andere lebensfeindliche Bedingungen im All zu schützen.

Als „Feinde der Weltraumfahrt“, die überwunden werden müssten, nennt er amüsiert u. a. die Erdanziehungskraft. „Der Sieger“, sagt er, „ist die Rakete“ und beschreibt anschließend die Einzelheiten des Raketenbaus, den Einsatz verschiedener Treibstoffe, den Gebrauch der Landungsfallschirme usw.

Ley entwickelt, wie sich ein Mondkrater zu einer Zwischenstation umbauen ließe. Diese könne als eine Art wirtschaftliches Depot dienen, um von dort aus zu anderen Planeten vorzudringen. Der Mond eigne sich besonders deshalb als Zwischenstation, weil man von ihm aus nur ein geringes Gravitationsfeld überwinden müsse. Er schlägt des weiteren vor, die kleinen Marsmonde Phobos und Deimos als Raumstationen für die Marserforschung zu nutzen.

Ley beschließt seine Ausführungen mit den Worten: „Prophetisch aber können wir sagen: An dem Tage, da die erste bemannte Rakete die Erdatmosphäre verlässt, hat die Menschheit, die körperlich und geistig die Erde beherrscht, den ersten Schritt getan in eine neue Zeit: Die Zeit der Herrschaft über den Weltenraum!“1

Ley fand als Sprecher und Befürworter der Raumfahrt bald verbreitete Anerkennung. Von seinem kleinen Buch wurden in den folgenden sechs Jahren 6000 Exemplare verkauft. Das war – wie er berichtet – der Grund dafür, dass „ich ein Jahr später vom Verein für Raumschiffahrt e.V. um Mitgliedschaft ersucht wurde.“((Ley 1943, S. 67.))

Der Verein für Raumschiffahrt

Im Hinterzimmer eines Breslauer Gasthauses versammelte sich am 5. Juli 1927 eine Handvoll Weltraumbegeisterter und gründete den Verein für Raumschiffahrt (VfR). In der Vereinssatzung hieß es: „Die Aufgabe der Vereinigung wird es sein, aus kleinen Anfängen allmählich jene gigantischen Raumschiffe zu entwickeln, die uns sicher und jedem Wink ihres Führers gehorchend zu den Sternen emportragen sollen.“((Die Rakete, 15. Juli 1927.))

Erklärtes Ziel des Vereins war es, „so viele Leute wie möglich zu interessieren, Mitgliedsbeiträge zu kassieren, außerordentliche Zuwendungen hereinzuholen und einen Fonds für Experimente anzulegen.“ Die Öffentlichkeit wurde aufgefordert: „Helft das Raumschiff schaffen!“((Winter 1983, S. 36.))

Max Valier befand sich unter den Gründern, der sich aktiv dafür eingesetzt hatte, eine Vereinigung zu gründen, um Spendengelder für Hermann Oberths Raketenexperimente zu sammeln.

Ley, der als Gründungsmitglied selbst an der ersten Versammlung nicht teilnehmen konnte, berichtete, dass es bei der Eintragung in das Vereinsregister zunächst Schwierigkeiten gab, denn das Wort „Raumschiffahrt“ sei in der deutschen Sprache unbekannt, argumentierte das Gericht, „so dass das Publikum den Zweck des Vereins nicht erkennen kann.“

Zum Vorstand des Vereins gehörte neben Max Valier auch Johannes Winkler, der Mathematik und Physik, später auch Religionsgeschichte studiert hatte. Zur Zeit der Vereinsgründung war er bei der Kirchenverwaltung beschäftigt. Winkler wurde zum Vorsitzenden gewählt, allerdings hatte er weniger Organisationstalent als Valier oder Ley. Er steckte seine Kraft hauptsächlich in die Arbeit bei den Junkers-Flugzeugwerken in Dessau und entwickelte dort Pulverraketen als Zusatztriebwerke für Flugzeuge. Ley und Valier stellten eine Liste international bekannter Persönlichkeiten zusammen, die zum Vereinsbeitritt aufgefordert werden sollten. Sie schickten Briefe an Oberth und Walter Hohmann, an Guido von Pirquet (Wien), Prof. Nikolai Rynin (UdSSR) und Robert Essnault-Pelterie (Frankreich). Sie traten alle dem Verein bei.

Dem Verein flossen Spenden aus Polen, der Tschechoslowakei, Russland, Frankreich, Dänemark, Spanien, aus Südamerika und von einer Gruppe deutscher Wissenschaftler aus Südwestafrika zu.

Die wichtigste Vereinstätigkeit der ersten beiden Jahre war die Herausgabe der Monatszeitschrift Die Rakete, wofür vor allem Winkler unter Mitwirkung von Ley verantwortlich war. Es erschienen Pläne und Ideen der führenden Verfechter und Experten des Raketenwesens. Daneben enthielt das Magazin auch Reportagen über Debatten und öffentliche Veranstaltungen zum Thema Raumfahrt sowie technische Artikel über Astronautik und die Physik des Raumfluges.

Die Zeitschrift brachte in Fortsetzung Essnault-Pelteries mathematische Abhandlung Astronautik und Relativität und ebenfalls als Fortsetzungsreihe die Berechnungen von Guido von Pirquet über Flugbahnen zu verschiedenen Planeten des Sonnensystems sowie von Winkler eine Aufsatzserie mit dem Titel Eine Einführung in den Raumflug. Weniger technische Beiträge stellten die Fortsetzungsromane von Max Valier, Otto Willi Gail und Walter Vollmer dar.

Die erste Ausgabe der Zeitschrift Die Rakete stellte das Ziel des Vereins für Raumschiffahrt bereits auf dem Umschlag dar – ein Raumgefährt ins All zu setzen. Zwei Jahre lang unterrichtete die Zeitschrift monatlich ihre breitgestreute Leserschaft über die jüngsten Entwicklungen in allen Bereichen der Raumfahrt und angrenzender Wissenschaftszweige.
Die erste Ausgabe der Zeitschrift Die Rakete stellte das Ziel des Vereins für Raumschiffahrt bereits auf dem Umschlag dar – ein Raumgefährt ins All zu setzen. Zwei Jahre lang unterrichtete die Zeitschrift monatlich ihre breitgestreute Leserschaft über die jüngsten Entwicklungen in allen Bereichen der Raumfahrt und angrenzender Wissenschaftszweige.

Die Rakete berichtete auch über Entwicklungen in anderen Bereichen, die für die Raketenkunde fruchtbare Ergebnisse abwarfen. Damals wurden Experimente mit raketengetriebenen Schlitten und Wasserflugzeugen durchgeführt. Die berühmtesten Experimente dieser Art waren die Raketenwagen von Fritz von Opel und Max Valier. Jede Zeitschriftennummer informierte die Mitglieder über Ereignisse, die von allgemeinem Interesse sein konnten, so zum Beispiel im Oktober 1929 über Winklers Hörfunkvortrag zum Thema Die Rakete als Motor. Fast jede Ausgabe enthielt außerdem Gedichte und Witze.

Unter der Rubrik „Buchbesprechungen“ wurde auf weltweit erschienene Veröffentlichungen zu dem Thema hingewiesen. Im Mai 1929 besprach J. J. Perlmann zum Beispiel Konstantin Ziolkowskis neues Buch Fahrten zwischen den Planeten.

Während der Verein für Raumschiffahrt zur international führenden Organisation der Förderer des Raumflugs aufstieg, bildeten sich auch außerhalb Deutschlands überall in Europa kleinere Gruppen, die sich für Raketen begeisterten.

Flüssiger oder fester Brennstoff

Unter den vielen Raumfahrtgruppen wurde immer heftiger über die Frage gestritten, welche Treibstoffe sich für die Raumfahrt am besten eigneten. Bis zu den Experimenten der 20er Jahre stellte man sich eine Rakete als eine Art großen, mit brennbarem Pulver gefüllten Knallkörper vor. Oberth, Goddard und Ziolkowski hatten unabhängig voneinander erkannt, dass stärkere Brennstoffe entwickelt werden müssten, damit Raketen die Erdanziehung überwinden könnten. Und das konnten aufgrund der physikalischen Gesetze nur flüssige Brennstoffe sein. Oberth hatte zusätzlich angeführt, dass flüssige Treibstoffe unabdingbar seien, weil diese wesentlich gleichmäßiger brennen als Feststofftreibsätze. Letztere brennen in explosionsartigen Schüben und erzeugen dadurch ruckartige Bewegungen, die für Weltraumreisende unerträglich sind.

Hauptkriterium für die Beurteilung eines Raketentreibstoffs ist der spezifische Impuls, ein Maß für den erzeugten Schub (Kraft pro Einheit Brennstoff pro Zeit). In Sekunden gemessen entspricht der spezifische Impuls der effektiven Ausströmgeschwindigkeit der bei der Verbrennung entstehenden Abgase geteilt durch die Konstante der Schwerebeschleunigung.

Je höher die Sekundenzahl des spezifischen Impulses, desto größer der Antrieb, der mit jedem Kilo verbrauchten Treibstoffes erzeugt wird. Bei gleicher chemischer Zusammensetzung des Treibstoffs bedeutet ein höherer spezifischer Impuls eine effizientere Motorleistung. Ein höherer spezifischer Impuls in Form des erzielten Schubes pro Kilogramm Brennstoff senkt die erforderliche Menge Brennstoff, die die Rakete mitführen muss, und erhöht die Nutzlast, die transportiert werden kann.

Ein höherer spezifischer Impuls zeigt eine höhere Ausströmungsgeschwindigkeit an und ermöglicht eine höhere Fluggeschwindigkeit der Rakete. Um eine Erdumlaufbahn zu erreichen, ist eine Geschwindigkeit von ungefähr 8 Kilometer pro Sekunde nötig. Um der Erdanziehungskraft ganz zu entkommen und den Mond zu erreichen, braucht die Rakete eine Geschwindigkeit von 11,2 Kilometer pro Sekunde.

Die Feststoffraketenmotoren, die zum Beispiel das Space Shuttle vom Erdboden abheben lassen, erreichen einen spezifischen Impuls von 250 Sekunden. Im Vergleich dazu haben die mit flüssigem Wasserstoff betriebenen Hauptmotoren des Space Shuttle im fast luftleeren Raum einen spezifischen Impuls von 453 Sekunden. Die zweite und dritte Stufe der Saturn-V-Rakete, die wie das Space Shuttle flüssigen Wasserstoff verbrennen, erreichten einen spezifischen Impuls von nur 425 Sekunden. Daran zeigt sich auch die Entwicklung der Raketenantriebstechnik seit 1960, als die Saturn V bei der Apollo-Mondmission zum Einsatz kam.

Schon in seinem Buch von 1923 hatte Oberth sorgfältig die Geschwindigkeiten berechnet, die ein Raumschiff erreichen muss, um eine ballistische Flugbahn (von einem Ort der Erde zu einem anderen) zu beschreiben, eine Erdumlaufbahn zu erreichen oder das Gravitationsfeld der Erde zu verlassen. Er konnte theoretisch nachweisen, dass der spezifische Impuls eines mit Festbrennstoff betriebenen Raumschiffs nicht ausreicht, um die für den Raumflug erforderliche Geschwindigkeit zu erzielen.

Auch Treibstoffe aus Petroleum oder Alkohol reichen nach Oberth nur für ballistische Flüge. Für Orbitalflüge sind Benzinderivate erforderlich. Die ersten kleinen Satelliten, die ersten Interkontinentalraketen und die erste Stufe der riesigen Saturn V verwendeten solche chemischen Treibstoffe.

Um größeres Frachtgut für wissenschaftliche Untersuchungen aus der Erdumlaufbahn zu anderen Planeten zu befördern oder den Menschen auf den Mond zu bringen, bedurfte es eines stärkeren Treibstoffes als Benzin. Oberth schlug für solche Zwecke flüssigen Wasserstoff vor. Aber nicht alle Raketenforscher in Deutschland wollten ihm hierin folgen.

Auch wenn Max Valier maßgeblich am Zustandekommen des Vereins für Raumschiffahrt beteiligt war, der Oberths Forschungen an Flüssigbrennstoffraketen förderte, bestand er darauf, mit verschiedenen Verfahren für Festbrennstoff- oder Pulverraketen zu experimentieren. Er glaubte, dass die Raketentechnik zuerst an Autos, dann an Flugzeugen und schließlich an Raumschiffen demonstriert werden müsse.

Willy Ley erzählt, dass im Juni 1928, als in Danzig Hermann Oberth mit Geheimrat Lorenz über die Rakete mit Flüssigtreibstoff (siehe Kapitel 1) debattierte, in den Schlagzeilen der europäischen Presse der „erfolgreiche Versuch des ersten raketengetriebenen Gefährts der Welt“ erschien, gemeint war Valiers Raketenauto.((Ley 1957a, S. 119.)) Valier hatte den Autofabrikanten Fritz von Opel dazu überreden können, die Finanzierung seiner Experimente mit raketengetriebenen Autos zu übernehmen. Der erste Versuch mit einem „Raketenauto“ fand am 11. April 1928 statt. Zwar fielen diese ersten Versuche nicht ganz zufriedenstellend aus, trotzdem rührte von Opel ordentlich die Werbetrommel. Er setzte auf den Werbeeffekt der aufsehenerregenden Experimente.

Die Mitglieder des Vereins für Raumschiffahrt waren aufgebracht. Ley schildert:

„Nachdem der Verein für Raumschiffahrt bis zur Erschöpfung daran gearbeitet hatte, den Unterschied zwischen festen und flüssigen Brennstoffen zu erklären, nachdem Zeitrechnungen über Zeitrechnungen angefertigt worden waren, die zeigten, dass Raketen nur dann weit fliegen können, wenn die Geschwindigkeit zum großen Prozentsatz aus ihrer Abgasgeschwindigkeit besteht, ging einer der Gründer des Vereins für Raumschiffahrt daran und spielte mit Festbrennstoff-Raketen aus gewerblicher Fertigung und bahnte den Weg für etwas, was wir einen billigen Reklametrick nennen. Valier wurde beinahe aus dem Verein für Raumschiffahrt ausgeschlossen.“((Ley 1957a, S. 122.))

In einem Brief an Fritz von Opel vom 2. Mai 1928 beglückwünschte Oberth den Autohersteller höflich zu seinem Raketenwagen, fügte dann aber mit deutlichem Groll hinzu:

„Gleichzeitig halte ich es aber auch für meine Pflicht, Sie vor Valier zu warnen… ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass Valier nicht der Fachmann ist, für den er sich ausgibt… Vor 15 Monaten brach ich die Korrespondenz mit Valier ab, hauptsächlich weil ich den Eindruck gewonnen hatte, dass er ein unverbesserlicher Scharlatan ist.“

Zwei Jahre später, im April 1930, erklärte Valier Willy Ley, er habe „sich von den Pulverraketen verabschiedet“((Ley 1957a, S. 135.)) und experimentiere nun mit flüssigen Brennstoffen. Zu diesem Zweck arbeitete Valier in der Fabrik von Dr. Paul Heylandt, der Aktiengesellschaft für Industriegasverwertung. Das Werk verdichtete und verflüssigte Gase und stellte flüssigen Sauerstoff für die deutsche Industrie her.

Im Mai 1930 testete Valier mit seinen Mitarbeitern Walter Riedel und Arthur Rudolph Motoren für Raketenwagen mit flüssigem Treibstoff. Arthur Rudolph war gerade erst in Heylandts Dienste getreten und traf Max Valier am 2. Mai auf dem Betriebshof. Er war ganz versessen darauf, an den Experimenten der Raketenautos mitwirken zu dürfen. Während des Tests eines Raketenmotors kam es am 17. Mai zu einer Explosion, wobei Valier von einem Metallstück der explodierenden Rakete tödlich getroffen wurde. Riedel und Rudolph blieben unverletzt. Arthur Rudolph setzte die Arbeit bei Dr. Heylandt fort, den der Tod Valiers nicht von seinen Versuchen abbringen konnte.

Dr. Paul Heylandt (links) neben Max Valier mit ihrem Raketenauto bei Berlin. Bei einem fehlgeschlagenen Test mit einem Raketenmotor, den Valier zusammen mit Walter Riedel entwickelt hatte, kam Valier am 17. Mai 1930 ums Leben. Bild: Deutsches Museum, München
Dr. Paul Heylandt (links) neben Max Valier mit ihrem Raketenauto bei Berlin. Bei einem fehlgeschlagenen Test mit einem Raketenmotor, den Valier zusammen mit Walter Riedel entwickelt hatte, kam Valier am 17. Mai 1930 ums Leben. Bild: Deutsches Museum, München

Rudolph entschloss sich, das Einspritzsystem des Motors neu zu konstruieren. Valier und Riedel hatten in ihrem Motor eine Art „Gießkanne“ als Einspritzsystem verwendet, wobei der Brennstoff aus mehreren kleinen Löchern in die Brennkammer eintrat. Nach Angaben Rudolphs war es sehr schwierig, diese Löcher richtig zu bohren, da jede kleinste Abweichung zu einer ungleichmäßigen Kraftstoffverteilung und gestörter Verbrennung führte. Der flüssige Sauerstoff strömte an den Wänden der Brennkammer entlang, aber die Einlassbereiche waren nur schlecht steuerbar. Die Rakete überhitzte leicht, an den Brennkammerwänden entwickelten sich glühende Stellen und es kam zum Durchbrennen.

Rudolph ersetzte in seinem Motor die „Gießkanne“ durch einen Einspritzer, der einem Lampenschirm ähnelte. Treibstoff und Sauerstoff gelangten durch ringförmig angeordnete Schlitze, die sich einfach herstellen ließen, in die Brennkammer (Abbildung 2.1). Die Kraftstoffverteilung war viel gleichmäßiger, und die Zufuhr von Brennstoff und Sauerstoff ließ sich einfacher steuern. Mit seiner neuen Konstruktion erzielte Rudolph eine gleichmäßige und viel besser kontrollierbare Verbrennung.

Abbildung 2.1: Entwurf eines Raketenmotors von Arthur Rudolph (1930). Riedel/Valier spritzten den Treibstoff in ihren Raketenmotor nach einer Art „Gießkannenprinzip“ ein, was zu einer ungleichmäßigen Verteilung führte. Es kam zu stellenweiser Überhitzung, der Motor brannte häufig durch, und es entwickelten sich Druckspitzen, die explosionsartige Erschütterungen auslösten. Rudolph verbesserte das Einspritzverfahren nach dem sog. „Lampenschirm“-Prinzip. Damit ließ sich eine gleichmäßigere und besser regelbare Treibstoffzufuhr erreichen. Der flüssige Sauerstoff strömte von der unteren Wand zur Mitte der Brennkammer. Das Prinzip wurde für die ersten Raketenmotoren der Wehrmacht beibehalten. Quelle: Arthur Rudolph
Abbildung 2.1: Entwurf eines Raketenmotors von Arthur Rudolph (1930). Riedel/Valier spritzten den Treibstoff in ihren Raketenmotor nach einer Art „Gießkannenprinzip“ ein, was zu einer ungleichmäßigen Verteilung führte. Es kam zu stellenweiser Überhitzung, der Motor brannte häufig durch, und es entwickelten sich Druckspitzen, die explosionsartige Erschütterungen auslösten. Rudolph verbesserte das Einspritzverfahren nach dem sog. „Lampenschirm“-Prinzip. Damit ließ sich eine gleichmäßigere und besser regelbare Treibstoffzufuhr erreichen. Der flüssige Sauerstoff strömte von der unteren Wand zur Mitte der Brennkammer. Das Prinzip wurde für die ersten Raketenmotoren der Wehrmacht beibehalten. Quelle: Arthur Rudolph

Willy Ley bemerkte, dass „Valiers Tod deshalb so tragisch war, weil ihm während aller gefährlichen und sinnlosen Experimente mit Festbrennstoff-Raketen nichts zugestoßen war. Er starb, als er an seinem ersten, wirklich nützlichen Experiment arbeitete, obgleich die Idee lächerlich war, eine Rakete in einem Auto anzubringen“.((Ley 1957a, S. 136.))

Valiers damaliger Mitarbeiter Riedel wurde später Chefkonstrukteur in Peenemünde. Arthur Rudolph begann mit einem Arbeitsvertrag der Wehrmacht bei Heylandts Aktiengesellschaft für Industriegasverwertung und arbeitete später mit von Braun am Raketenprogramm des Heeres.

In Deutschland gab es weitere Gruppen von Amateur-Raketenbauern, die vielerlei Erfahrungen sammelten, welche später in das Raketenprogramm von Peenemünde einflössen. Im November 1931 gründete zum Beispiel ein begeisterter junger Mann namens Albert Püllenberg in Hannover die „Gesellschaft für Raketenforschung“. Er war gerade 18 Jahre alt und arbeitete am Flughafen Hannover. Wie Konrad Dannenberg berichtet, hatten Max Valiers Vorträge in Hannover sowie ein Test Fritz von Opels mit einem raketengetriebenen Schienenwagen im Juni 1928 das Interesse Püllenbergs und seiner Freunde am Raketenwesen geweckt. Sie begannen Hermann Oberths Bücher und die Arbeiten anderer deutscher Raketenforscher zu studieren und waren so bald in der Lage, eigene Experimente mit Raketen durchzuführen.((Dannenberg 1991, S. 5.))

Püllenberg und seine Helfer, zu denen Konrad Dannenberg gehörte, testeten ihre Flüssigkeitsraketen auf dem Gelände eines ehemaligen Munitionsdepots in der Nähe von Hannover. „Nachdem wir in diesem frühen Stadium Abschüsse ausgeführt hatten, fanden wir heraus, dass alle Formeln und Daten aus den Büchern wahrscheinlich für künftige Raumflüge geeignet waren“, berichtet Dannenberg, „aber sie halfen uns nicht, unsere primitiven Raketen zu entwerfen und zu bauen… Wir zählten auch viele Sprengungen und Explosionen.“((Dannenberg 1991, S. 6.))

Dannenberg schrieb sich 1934 an der Technischen Universität Hannover ein, um sich gründlicher auf die Arbeit mit Raketen vorzubereiten. Im Jahre 1939 zogen Pullenberg, Dannenberg und andere nach Peenemünde um.

1927 waren die besten Fachleute dem Verein für Raumschiffahrt bereits beigetreten. Willy Ley hielt es nun für die Aufgabe des Vereins, ein weiter gestreutes Publikum zu erreichen. Er plante eine neue Bildungs- und Organisationsinitiative des VfR. „Zuerst (sollten) alle Leute, die schon mit der Raumfahrt beschäftigt waren, zusammenkommen und in Gemeinschaftsarbeit ein Buch verfassen. Es sollte ein lesbares Buch sein, das eine große Anzahl Leute überzeugt, nicht gerade den Mann auf der Straße, aber vielleicht Ingenieure, Lehrer, die höheren Ränge der Staatsverwaltung usw. Dann sollten die Leser dazu gebracht werden, dem Verein beizutreten… Beiträge zu zahlen. Das Geld sollte Oberth für experimentelle Arbeit erhalten.“((Ley 1943, S. 68.))

Ley gelang es, führende Mitglieder des Vereins für sein Projekt gewinnen – darunter Oberth, Walter Hohmann und Franz von Hoefft aus Österreich. Jeder von ihnen schrieb ein Kapitel. „Ich wollte auch Robert Goddard zu einem Beitrag gewinnen“, berichtet Ley, „aber er antwortete nicht.“ Das Buch, Die Möglichkeit der Weltraumfahrt, erschien 1928 gerade rechtzeitig für die Debatte zwischen Geheimrat Lorenz und Oberth in Danzig.

In der Einführung schreibt Willy Ley:

„Der erste Gedanke kam mir, als mich jemand bat, ihm eine Zusammenstellung aller ernsthaften Bücher und Schriften über das Raumfahrtproblem zu geben und die Bemerkung daran knüpfte, es möchten aber nicht zu schwer verständliche Sachen sein. Da war nun guter Rat teuer – die leichtverständlichen Sachen waren (und sind) nicht gründlich, die gründlicheren nicht leichtverständlich. Wirklich umfassende Arbeiten gibt es ja überhaupt noch nicht, dazu ist das Problem eben zu neu. Auch fehlte bisher ein Buch, wie es andere Wissenschaften mehr oder weniger besitzen, das nicht schwerverständlich und trotzdem nach Möglichkeit umfassend ist. Mein Gedanke damals war, unter Heranziehung aller Autoren deutscher Sprache, die öffentlich bejahend zur Weltraumfahrtfrage Stellung genommen haben, ein nach Möglichkeit umfassendes Raketenbuch zusammenzustellen. Das gleichzeitig für möglichst viele verständlich sein sollte, denn auf das Interesse der Öffentlichkeit sind wir Raumfahrtsleute mehr als jeder andere technische bzw. wissenschaftliche Zweig angewiesen… Meine Hoffnung ist nun, dass dies Buch mithilft, das allgemeine Interesse nicht nur in geistiger, sondern auch in finanzieller Hinsicht zu erwecken, damit zu diesem deutschen Raketenbuch das deutsche Weltschiff entsteht.“((Ley 1928, S. III–IV.))

Das Buch behandelt alle wichtigen theoretischen Fragen über Raketen, es schlägt den Bau von Raumstationen in erdnahen Umlaufbahnen vor und enthält Dr. Hohmanns präzise Angaben zu Reisedauer, Flugbahnen und sogar Landemöglichkeiten auf anderen Planeten. Ein Beitrag von Dr. Franz von Hoefft, einem Chemiker aus Österreich, setzte die kritische Debatte mit Professor Oberth aus der Zeitschrift Die Rakete fort. In dem Kapitel „Vom Luftschiff zum Raumschiff“ regt von Hoefft – wie schon Valier – an, die Raketentechnik zuerst an Flugzeugen und erst dann an Raumschiffen zu erproben.

Gegen Ende des Jahres 1928 erhielten dann Oberth und der Verein für Raumschiffahrt die Chance ihres Lebens: Es sollte ein Film entstehen, der eine ganze heranwachsende Generation für die Raketenidee begeisterte.

Frau im Mond

Der weltbekannte Filmregisseur Fritz Lang las wie viele andere Zeitgenossen in den 20er Jahren Bücher über Raumfahrt. 1928 besuchte er Oberth in Rumänien und bat ihn, nach Berlin zu kommen. Er sollte als technischer Berater bei einem Film mitwirken, der der letzte große deutsche Stummfilm werden sollte: Frau im Mond. Das Drehbuch stammte von Längs früherer Frau Thea von Harbou, und seine jetzige Frau Gerda Maurus spielte die Hauptrolle. Willy Ley berichtet, dass Gerda Maurus 1930 sogar Mitglied im Verein für Raumschiffahrt wurde.

In jener Zeit, so Ley weiter, „waren Fritz Lang und ,der Film‘ ein und dasselbe im öffentlichen Bewusstsein. Es ist fast unmöglich, in Worte zu fassen, welche Faszination von dem Namen damals in Deutschland ausging.“((Ley 1957a, S. 124.)) Hermann Oberth reiste noch im Herbst 1928 nach Berlin.

Otto Folberth, Kunsthistoriker, Schriftsteller und Direktor des Stefan-Ludwig-Roth-Gymnasiums, berichtete 1930 in einem Artikel über einen Abend in Mediasch:

„Da kamen wir vier Freunde zusammen, um uns von Oberth über den letzten Stand der Raketenangelegenheit unterrichten zu lassen… Da überraschte ihn das Angebot der Ufa, ihr bei der Herstellung des Raketenfilmes ,Frau im Mond‘ behilflich zu sein. Die Idee hatte sich, seitdem sein grundlegendes Werk über ,Die Rakete zu den Planetenräumen‘ erschienen war, allerdings außerordentlich verbreitet… Ein Dutzend Romane à la Jules Verne sahen rasch das Tageslicht. In Neubabelsberg bei Berlin, dem deutschen Filmbabel, witterte man den hundertprozentigen Sensationsgehalt des Stoffes. Oberth musste sehr viele innere Hemmungen überwinden, bevor er sich dazu entschloss, das Angebot anzunehmen. Denn schon hatten die Zeitungen, Magazine, Romane und Witzblätter den wissenschaftlichen Ernst seiner Idee bedenklich kompromittiert.“((Folberth 1930, S. 41–45.))

Willy Ley, der mit Oberth in Berlin zusammentraf, erzählte, dass der Professor stur darauf bestand, der Filmversion nichts an wissenschaftlicher Genauigkeit zu opfern. Natürlich war wegen des filmischen Effekts ein gewisses Entgegenkommen nötig. Wie ließ sich sonst eine Liebesgeschichte inszenieren, die auf dem Mond spielen sollte, wenn die Hauptdarsteller beim Sprechen und Händchenhalten in Raumanzügen steckten? So erhielt der luftleere Mond eine Atmosphäre und sogar Wasser. Die Dramaturgie erzwang noch weitere kleine Kompromisse.((Ley 1943, S. 70.))

Ley und auch Oberth erkannten, dass es vorteilhafter sei, einen Film mit kleinen Ungenauigkeiten zu zeigen, als der Öffentlichkeit nur im Buch eine Vorstellung von den Möglichkeiten des Raumfluges zu geben. Ley schlug Oberth vor, Regisseur Lang um Geld zu bitten, um eine richtige Rakete bauen zu können, was dieser auch tat. Fritz Lang stimmte zu und begründete die verlangte Summe bei der UfA damit, dass es sich dabei um einen Werbevorspann für den Film handele. Da er damit beim Direktorium auf erhebliche Skepsis stieß, versprach Lang, den Werbeetat mit eigenen Mitteln zu decken.

Angesichts der Aufgabe, innerhalb von etwa zwölf Wochen eine funktionierende Rakete mit flüssigem Brennstoff herzustellen, brauchte Oberth natürlich Mithelfer und suchte sie durch Zeitungsinserate. Einer, der sich auf die Anzeige meldete, war Rudolf Nebel, der später auch dem Verein für Raumschiffahrt beitrat, obwohl manche Mitglieder darin den Anfang vom Ende der Organisation sahen.

Hermann Oberth im Studio der Ufa während der Dreharbeiten an dem Film Frau im Mond. Oberth wirkte als technischer Leiter an dem Film mit, der viele junge Leute in Deutschland für die Weltraumforschung begeisterte. Bild: National Air and Space Museum, Rolf Engel Collection, Smithsonian Institution A-3894
Hermann Oberth im Studio der Ufa während der Dreharbeiten an dem Film Frau im Mond. Oberth wirkte als technischer Leiter an dem Film mit, der viele junge Leute in Deutschland für die Weltraumforschung begeisterte. Bild: National Air and Space Museum, Rolf Engel Collection, Smithsonian Institution A-3894

Professor Oberth begann mit einer Testreihe in der Hoffnung, auf diesem Weg eine Rakete zu bauen, die am Tag der Filmpremiere zum Abschuss bereit sei. Für sein Geschoss, das später „Oberth-Rakete“ bezeichnet wurde, konstruierte er eine ideale Brennkammer in Form einer Kegeldüse. Er testete damit die Brenneigenschaften von Benzin und flüssigem Sauerstoff. Bei einem der Tests zog er sich schwere Verletzungen zu. Eine Explosion hätte ihm fast das Augenlicht gekostet.

In diesem Zusammenhang gibt es eine interessante Anmerkung. Als Oberth nach einem unbewohnten Testgebiet für seine Raketenabschüsse suchte, entschied er sich für die Greifswalder Oie an der Ostsee. Die örtlichen Behörden wandten dagegen ein, dass dort eventuell ein Leuchtturm beschädigt werden könnte. So wählte man schließlich ein Gebiet beim Küstenort Horst. Abgesehen davon, dass man von dort, wie Ley erzählt, keinen Leuchtturm treffen könnte, ist interessant, dass die Wehrmacht nur wenige Jahre später den gleichen Platz für ihre eigenen Raketenversuche auswählte. Die Hauptversuchsstätte in Peenemünde lag in Sichtweite der Greifswalder Oie.

Während Oberth noch Entwürfe machte und experimentierte, kündigte die Ufa in Werbeinseraten bereits an, dass am Tage der Filmpremiere die famose „Oberth-Rakete“ abgefeuert werde. Man muss bedenken, dass bis dahin praktisch noch keine Experimente mit Raketenmotoren in Deutschland stattgefunden hatten. Oberth hatte sich also auf ein überaus ehrgeiziges Projekt eingelassen, als er versprach, eine zwei Meter hohe, mit flüssigem Brennstoff betriebene Rakete zu bauen, die knapp 8 Liter Treibstoff fasste und eine Höhe von 40 Kilometern erreichen sollte.

Franz Storch beschrieb 1969 den Reklamefeldzug, den die Filmgesellschaft für die Frau im Mond in Gang setzte: „Die Ufa mietete alle verfügbaren Fernrohre und ließ sie abends an verkehrsreichen Stellen montieren, um den Passanten die Möglichkeit zu geben, ,den Mond so nahe wie noch nie‘ zu sehen.“ Eine Mondlandschaft wurde nachgestellt und

„ließ auf dunklem Grund ein Meer von elektrischen Sternen blinken – irgendwo dazwischen flitzte Oberths Rakete hin und her. Dasselbe Motiv wurde auf Postkarten, Abziehbildern, werbekräftigen Plakaten gezeigt; auf den Markt geworfen wurden raketenförmige Drehstifte, in deren Guckloch ,die Frau im Mond‘ mit entblößten Armen nach den Sternen griff. Vorträge wie ,Von Kepler bis zur Frau im Mond‘ sollten den angeblich streng wissenschaftlichen Charakter der allzu abenteuerlichen Fabel bescheinigen…“

Als die Filmpremiere nahte, wurde klar, dass die „Oberth-Rakete“ nicht fertig sein würde. Ein weniger ehrgeiziges Unterfangen, bei dem Kohle und flüssiger Sauerstoff benutzt wurden, brachte auch kein Ergebnis. Am Tag vor der Premiere verließ Oberth völlig frustriert die Stadt. Die Ufa entschuldigte sich bei der Presse für den ausgebliebenen Raketenabschuss, und Oberth tauchte zur Premiere am 15. Oktober 1929 wieder auf.

In der November/Dezember-Ausgabe der VfR-Zeitschrift Die Rakete beschreibt Willy Ley die Premierenszene:

„Und dann kommt der große Abend. Die Außenfront des Ufa-Palastes ist in einen Sternenhimmel verwandelt, eine silberne Rakete rast mit Donnergetöse zwischen Erde und Mond hin und her. Autoreihen, Menschenmauern, die Gäste in Smoking und großem Abendkleid drängen sich durch. Hinter mir freut sich eine Filmprominenz – sie ist nicht erkannt worden… Prominente werden betuschelt… von Hugenberg bis zu Einstein, man sieht, paradox gesprochen, keinen, der nicht da ist.“

Die fesselndste Filmszene war das Abheben der Rakete vom Erdboden:

„Unbestreitbar, sie ist es, keine andere Szene, weder auf der Erde noch auf dem Mond brachte die Gemüter dieses kühlen, reservierten und sachverständigen Publikums – dieser Journalisten, Gelehrten, Diplomaten, Geldmänner und Filmgrößen – aus dem Gleichgewicht, bei dieser technischen Glanzleistung klatschten sie los. Elektrisiert, mitgerissen. Die Feuerstrahlen dieser Filmrakete fegen alle ihre sorgsam vorbereitete Skepsis, Kühle und Blasiertheit weg, mit derselben Geschwindigkeit, mit der das Raumschiff über die Leinwand rast, dringt eine Ahnung der großen Möglichkeit in ihre Hirne.“

Das Publikum war tatsächlich überwältigt. Oberth schreibt in einem Brief vom 19. Februar 1980 an den rumänischen Filmhistoriker Tudor Caranfil: „Bei der Uraufführung ,Am Zoo‘ war ich auch anwesend, ich wurde zweimal vor die Rampe gerufen.“((Barth 1984, 2. Band, S. 275.))

Krafft Ehricke erzählt, dass ein Ufa-Mitglied den amerikanischen Botschafter in Berlin Dr. Shurman interviewte, der sagte: „Was die Fernrakete von Professor Oberth angeht, so kann und wird sie zweifellos zu einem wichtigen Instrument menschlichen Fortschritts werden, und ich wünsche von Herzen, dass dem Forscher seine Absichten gelingen werden. Amerika ist sicherlich an der Arbeit Oberths in stärkstem Maße interessiert.“((Ehricke 1960b, S. 17.))

Der Botschafter nahm die Sache durchaus ernst. Sollte Oberth eines Tages die amerikanische Botschaft davon in Kenntnis setzen, dass er seine Postrakete nach Amerika abschießen wolle, würde „die Botschaft das State Department (Auswärtiges Amt) in Washington per Kabel benachrichtigen. Von dort aus würde die Angelegenheit sofort dem Präsidenten Hoover vorgelegt werden, und die Folge davon würde sein, dass in kürzester Frist ein Kabinettsrat einberufen würde, in welchem besonders der Marine- und der Kriegsminister vertreten sein müssten. Erst dieser Ministerrat würde dann über die Vorbedingungen der Erlaubniserteilung für Prof. Oberth zu entscheiden haben.“((Die Rakete, 15. Oktober 1929, S. 118.))

Frau im Mond ist einer der bemerkenswertesten Filme, die je gedreht wurden. Über dreißig Jahre danach, bei der Mondlandung am 20. Juli 1969 durch die Apollo-11-Astronauten, berichtete Krafft Ehricke, der diesen Film ein Dutzend Mal 1929 im Kino gesehen hat: „Es ist genau wie in Oberths Film“. Schon 1960 erwähnte Ehricke, dass Oberth als technischer Berater des Films „dazu beigetragen hatte, dass jener Film realistischer und technisch richtiger wirkte als viele andere Weltraumfilme bis zum heutigen Tage“.((Ehricke 1960b, S. 17.))

Sieht man den Film heute, beeindrucken einen besonders die Einstellungen zu den Startvorbereitungen des Raumschiffes. Das riesige Gefährt wird senkrecht stehend in einem großen Gebäude montiert. Das erinnert sehr an das Gebäude zur Endmontage der NASA im Kennedy-Raumfahrt-Zentrum. Dann wird die Rakete ganz langsam auf Schienen zur Abschussrampe gerollt, wiederum eine Parallele zu dem Mammut-Transportfahrzeug, das seit dem Apollo-Flug im US-Raumfahrtzentrum benutzt wird.

Es gibt noch weitere Ähnlichkeiten. Das Raumschiff steht vor dem Start in einem Wasserbassin, um die Außenhaut aus „empfindlichem Material“ vor der gewaltigen Flammenentwicklung beim Start zu schützen. Als beim Start der Raumfähre Columbia die Stoßwellen der beiden Feststoffzusatzraketen das Space Shuttle beschädigten, beschloss die NASA 1981, das Raumschiff zum Schutz mit viel Wasser zu umspülen. Im Film zählen die Astronauten an Bord beim Countdown vor dem Start von 10 rückwärts bis null, was seitdem bei jedem Start so geschieht. Die Parallelen sind nicht ganz verwunderlich, denn Hermann Oberth besorgte die Starts im Film, seine Studenten taten dies später im Kennedy-Raumfahrt-Zentrum.

Junge Männer wie Krafft Ehricke saßen 1929 im Kino und erlebten in diesem Film, wie die Zukunft der Raumfahrt aussehen könnte. Manch einer beschloss damals, sein Leben dieser Zukunft zu widmen.

Für Oberth lief die Sache eher demütigend ab, nachdem es ihm nicht gelungen war, die wirkliche Rakete rechtzeitig fertigzustellen. Er empfand auch später noch die Ufa-Geschichte „beschämend“. Aber sie hatte ihm gezeigt, dass seine Stärke auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Theorie lag und anderen die Aufgabe zufiel, seine Ideen in Technik umzusetzen. Mitglieder des Vereins für Raumschiffahrt retteten den Prüfstand und die übrige Ausrüstung des Oberth-Projektes. Damit verfügten sie über einen Grundstock, um mit eigenen ernsthaften Experimenten fortzufahren.

Szene aus dem Film Die Frau im Mond: Das Raumschiff wird von der Fertigungshalle zur Abschussrampe gefahren. Die Szene kommt den Vorbereitungen heutiger Raketenstarts in Cape Canaveral sehr nahe. Bild: National Air and Space Museum, Smithsonian Institution, A-3543
Szene aus dem Film Die Frau im Mond: Das Raumschiff wird von der Fertigungshalle zur Abschussrampe gefahren. Die Szene kommt den Vorbereitungen heutiger Raketenstarts in Cape Canaveral sehr nahe. Bild: National Air and Space Museum, Smithsonian Institution, A-3543

Die Verbreitung der Zeitschrift Die Rakete und des Films Frau im Mond taten ihre erwartete Wirkung: die Mitgliedschaft des VfR wuchs sprunghaft. Ein Jahr nach der Gründung, also 1928, hatte er schon über 500 Mitglieder; im Jahre 1929 waren es 870. Die Mitgliederzahl wuchs auf ungefähr 1000 an, bevor die Wirtschaftskrise voll durchschlug.

Wege zur Raumschifffahrt

Kaum war Oberths erstes Buch 1923 erschienen, hagelte es auch schon Kritiken aus uninformierten, aber anerkannten Wissenschaftlerkreisen. Oberth verbrachte die nächsten sechs Jahre damit, die falschen Vorstellungen der Experten über Raketen und Raumflüge abzuwehren und richtigzustellen. Zugleich wandte er sich an technisch gebildete Laien, um sie für seine Arbeit, die neue Wissenschaft und Technik der Astronautik, zu interessieren.

Oberth widmete sein neues Buch Wege zur Raumschiffahrt, das er im September 1928 schrieb, Fritz Lang und Thea von Harbou. In der Einleitung heißt es dort:

„Ich versuchte, diese Auflage etwas leichter zu fassen… Ich wählte diese etwas populäre Fassung, 1. um mein Buch dem Verständnis eines weiteren Leserkreises näher zu bringen. Als ich die erste Auflage schrieb, da glaubte ich nicht, dass der Stoff in so weiten Kreisen Interesse finden würde; 2. aber fühle ich mich zu dieser leicht verständlichen Fassung auch durch den Umstand veranlasst, dass, wie ich noch zeigen werde, auch die Fachpresse mein Buch vielfach missverstanden hat.“((Oberth 1929, S. V.))

Wenn Oberth sein über 400 Seiten langes Buch eine „leicht verständliche Fassung“ bezeichnet, so ist dies ein Beleg für das hohe akademische und intellektuelle Niveau jener Zeit, denn es enthält einen guten Teil der mathematischen Formeln, mit denen Oberth seine grundlegenden Konzepte bewies.

In der 1928 mit Professor Lorenz geführten Debatte nannte Oberth einige praktische Anwendungsmöglichkeiten für seine Raketen. Er schlug vor, dass zunächst kleine Raketen mit einem automatischen Steuerungssystem gebaut werden sollten, die eine Strecke von ein- bis zweitausend Kilometern zurücklegen und eine Fracht von zehn bis zwanzig Kilogramm befördern könnten. Diese Rakete könnte eingesetzt werden, um dringende Postsendungen über weite Entfernungen zu befördern. Sie würde zum Beispiel Briefe in einer halben Stunde von Berlin nach New York bringen.

Oberth zeigt in seinem Buch Wege zur Raumschiffahrt weitere Anwendungsmöglichkeiten für sein Modell B auf. Sie klingen noch heute recht sinnvoll:

„Da man die Rakete besser dorthin senden kann, wo man sie haben will, als einen Registrierballon, so könnte man mit Hilfe der Raketen auch ungeklärte Fragen der Gewitterbildung, der Entstehung barometrischer Maxima und Minima und dgl. erforschen. Es lässt sich heute natürlich nicht abschätzen, ob diese Erforschung auch zur Beherrschung der betreffenden Naturvorgänge führen wird, doch dies ist wahrscheinlich.“((Oberth 1929, S. 269.))

Das Modell B könnte zum Beispiel mit einer beweglichen Kamera ausgerüstet und zu Erkundungszwecken eingesetzt werden, sagte Oberth. Ein Photoapparat ließe sich so ausrüsten, dass er an einer Rakete befestigt wird, die über Land fliegt und Aufnahmen von schwer zugänglichen Gebieten liefert.

Schon Jahrzehnte vor der ersten Weltraumrakete entwarf Oberth Einzelheiten einer Rakete des „Modells E“, mit der sich der Mensch die Weite des Weltraums erschließen sollte. Wie würde sich der Mensch aber außerhalb der Erdatmosphäre fortbewegen und dort leben können? Oberth schreibt dazu:

„Man kann Raumfahrzeuge größten Maßstabes im Kreise um die Erde laufen lassen. Sie stellen dann sozusagen einen kleinen Mond dar. Sie müssen auch nicht mehr zum Niedergehen eingerichtet sein. Der Verkehr zwischen ihnen und der Erde kann durch kleinere Apparate aufrechterhalten werden, so dass diese großen Raketen (wir wollen sie Beobachtungsstationen nennen) oben immer mehr für ihren eigentlichen Zweck umgebaut werden können.“((Oberth 1929, S. 351.))

Eine solche Station könnte als Plattform für Teleskope dienen, die die Erdatmosphäre beobachten und andere Aufgaben der Raumfahrtwissenschaft ausführen könnten. Die Raumstation könnte auch zum Auftanken für jene Raumschiffe dienen, die entfernte Bereiche des Sonnensystems ansteuern oder von dort her zurückkommen.

Abbildung 2.2: Oberths Raumspiegel. Der Spiegel bewegt sich in einem Orbit um die beiden Erdpole (Nord-Süd) und reflektiert Sonnenlicht auf die Erde, die sich unter der Flugbahn dreht (West-Ost). Teile der dunklen Erdoberfläche könnten so erleuchtet werden. Quelle: Willy Ley, Rockets, Missiles and Space Travel, The Viking Press, 1957
Abbildung 2.2: Oberths Raumspiegel. Der Spiegel bewegt sich in einem Orbit um die beiden Erdpole (Nord-Süd) und reflektiert Sonnenlicht auf die Erde, die sich unter der Flugbahn dreht (West-Ost). Teile der dunklen Erdoberfläche könnten so erleuchtet werden. Quelle: Willy Ley, Rockets, Missiles and Space Travel, The Viking Press, 1957

Eine der vielen besonderen Ideen Oberths war der Weltraumspiegel, ein Gedanke, den Krafft Ehricke später in allen Einzelheiten ausarbeitete. Oberths Raumreflektor (s. Abbildung 2.2) könnte Sonnenlicht auf bestimmte Gebiete der Erde zurückreflektieren. Mit einem Reflektor von 1000 Kilometern Durchmesser, dessen einzelnen Elemente sich um 45 Grad schwenken lassen, ließen sich nach Oberths Berechnungen 78 Quadratkilometer Erdoberfläche beleuchten. Die reflektierenden Spiegel sollten in verschiedenen Größen und Formen zur Verfügung stehen, weil sich dadurch unterschiedliche Verwendungsmöglichkeiten ergäben. Obgleich sich damals die Streuung und Brechung des Lichts bei Eintritt in die Atmosphäre nicht genau errechnen ließen, entwickelte Oberth erstaunliche Vorstellungen über den Weltraumspiegel.

Oberth glaubte zum Beispiel, der Weg nach Spitzbergen oder die nordsibirischen Häfen ließen sich mit Hilfe des gebündelten Sonnenlichtes solcher Spiegel im Winter eisfrei halten. Schon mit einem Reflektor von nur 100 Kilometer Durchmesser könnten weite Länderstrecken im Norden durch Streulicht bewohnbar gemacht werden. In unseren Zonen könnte der Weltraumspiegel „im Frühjahr die gefürchteten Wetterstürze (Eismänner) verhindern und damit die Obst- und Gemüseernten ganzer Länder retten“.

Oberth schlägt vor, den Spiegel eher über den Polen als am Äquator zu positionieren. Auf diese Weise ließe sich aufgrund der Erddrehung praktisch jede Region mit dem Spiegel erreichen und viele Aufgaben auf einmal bewerkstelligen.

In allen Einzelheiten beschreibt er, wie der zum Bau des Reflektors erforderliche Maschendrahtrahmen mit der Rakete ins All gebracht und dort entfaltet werden sollte. „Raumtaucher“ – wie er sie nennt – würden dann die reflektierende Natriumschicht darauf befestigen. Die Astronauten trügen dabei Raumanzüge der gleichen Art, wie wir sie seit über zwanzig Jahren kennen, wenn Astronauten außerhalb des Raumschiffs „Spazierengehen“. Um das Raumschiff verlassen zu können, brauchen die Astronauten an ihren „Raumtaucheranzügen“ Krallen und Haken, mit denen sie sich an geeigneten Stellen festhalten (Abbildung 2.3).

Nach Oberths Auffassung wäre es unpraktisch, die Männer mit Luft aus der Kabine zu versorgen. Vielmehr sollten sie „komprimierte Luft in Zylindern“ auf dem Rücken mitführen. Genauso werden seit 1965 Raumspaziergänge durchgeführt. Die „Taucher“ sollten aber über ein Telefonkabel mit der Kabinenmannschaft, vor allem dem Piloten, ständig in Verbindung bleiben.

Abbildung 2.3: Der Raumtaucher bei Tätigkeiten außerhalb des Raumschiffs. Für Arbeiten außerhalb des Raumschiffs entwickelte Oberth eine Art „Taucheranzug“. Neben dem Sauerstoffbehälter (P) ist der Anzug mit Klauen und Haken ausgestattet, womit sich der Astronaut an der Außenwand des Raumschiffs festklammern kann. Ein Halteseil (F) hält die Verbindung mit dem Raumschiff. Quelle: Hermann Oberth, Wege zur Raumschiffahrt, Oldenbourg, 1929
Abbildung 2.3: Der Raumtaucher bei Tätigkeiten außerhalb des Raumschiffs. Für Arbeiten außerhalb des Raumschiffs entwickelte Oberth eine Art „Taucheranzug“. Neben dem Sauerstoffbehälter (P) ist der Anzug mit Klauen und Haken ausgestattet, womit sich der Astronaut an der Außenwand des Raumschiffs festklammern kann. Ein Halteseil (F) hält die Verbindung mit dem Raumschiff. Quelle: Hermann Oberth, Wege zur Raumschiffahrt, Oldenbourg, 1929

Oberth meinte, die ausgeatmete Luft könne man ins Weltall entweichen lassen. Sie gäbe den Astronauten sogar genügend Schub zur Fortbewegung. Die Kabine sollte außerdem eine Druckschleuse haben, damit beim Aussteigen keine Luft entweichen kann. Auch dies ist heute üblich.

Aber Oberth erkannte auch, dass andere Himmelskörper, zum Beispiel entfernte Galaxien, vom Menschen nicht unmittelbar zu erreichen sind. So beschäftigte er sich mit der Aufgabe, wie man entfernte Himmelskörper mit unbemannten Sonden erreichen könne. Damit war weniger eine praktische Frage verbunden, als vielmehr die Absicht, der Leserschaft zu zeigen, mit welch komplexen Fragestellungen die Astronautik umzugehen hatte. Oberth stellte dabei einfache Gedankenexperimente an; der Leser sollte zum Beispiel die in Abbildung 2.4 gestellte Frage beantworten: Wenn ein „sehr langlebiger Raketenfahrer“ von einem um die Sonne kreisenden Asteroiden einen Fixstern erreichen wollte, der eine Billiarde Kilometer entfernt liegt, welche Route würde er wählen und welche Flugzeit müsste er einplanen, wenn seine Rakete einen idealen Antrieb von 6 Kilometer pro Sekunde erreicht?

Abbildung 2.4: Oberths Aufgabe zur Berechnung von Flugbahnen. In seinem Buch von 1929 erörtert Oberth bereits die optimale Flugbahn zu entfernten Sternen. Die kürzeste Verbindung von A‘ zu A ist die schwierigste Bahn. Beim Start von Punkt C würde sich die Eigengeschwindigkeit des Planeten zur Raketengeschindigkeit hinzuaddieren. Würde die Rakete aber von Punkt X aus starten und eine Bahn um die Sonne wählen, so würde die Anziehungskraft der Sonne die Rakete beschleunigen und mit hoher Geschwindigkeit auf die Bahn D‘B bringen. Quelle: Hermann Oberth, Wege zur Raumschiffahrt, Oldenbourg, 1929
Abbildung 2.4: Oberths Aufgabe zur Berechnung von Flugbahnen. In seinem Buch von 1929 erörtert Oberth bereits die optimale Flugbahn zu entfernten Sternen. Die kürzeste Verbindung von A‘ zu A ist die schwierigste Bahn. Beim Start von Punkt C würde sich die Eigengeschwindigkeit des Planeten zur Raketengeschindigkeit hinzuaddieren. Würde die Rakete aber von Punkt X aus starten und eine Bahn um die Sonne wählen, so würde die Anziehungskraft der Sonne die Rakete beschleunigen und mit hoher Geschwindigkeit auf die Bahn D‘B bringen. Quelle: Hermann Oberth, Wege zur Raumschiffahrt, Oldenbourg, 1929

Die erste, gefühlsmäßige Antwort wäre, sofort zum Fixstern aufzubrechen, um auf der Bahn A‘A in 5.555.600 Jahren dort anzukommen.

Eine zweite Möglichkeit wäre, 20.000 Jahre zu warten, bis der Asteroid drei Viertel seines Umlaufs um die Sonne vollendet hat und seine Bewegung gerade auf den Fixstern hinzielt. Auf dieser Bahn C‘C addiert sich außerdem die Geschwindigkeit des Raumschiffs zu der des Asteroiden hinzu, und die Reisezeit vermindert sich auf insgesamt 4.780.000 Jahre.

Die beste Lösung wäre jedoch, wenn der Raketenführer nach einigen hundert Jahren startet, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die der Geschwindigkeit des Asteroiden genau entgegengesetzt und nicht ganz so groß ist. Dabei verbraucht die Rakete eine Antriebskraft von 1 Kilometer pro Sekunde und beschreibt eine langgestreckte Ellipse um die Sonne. Im Perihel, dem Bahnpunkt, der der Sonne am nächsten steht, wird eine Geschwindigkeit von 500 Kilometer pro Sekunde erreicht – mit Hilfe des Gravitationsstoßes bei Annäherung an die Sonne. Letztlich erreicht die Rakete auf der Bahn D‘D eine Endgeschwindigkeit von 70,9 Kilometer pro Sekunde, und die Reise dauert dann insgesamt nur 470.000 Jahre, das heißt ein Zehntel bis ein Zwölftel der ursprünglich geplanten Reisezeit.((Oberth 1929, S. 144 ff.))

Unter Ausnutzung der Anziehungskraft anderer Planeten (auch „Swing-by“-Manöver genannt) erreichte in den 70er Jahren die US-Sonde Voyager Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun. Nur auf diese Weise konnte die Sonde zu sämtlichen äusseren Planeten gelangen.

Als Wege zur Raumschiffahrt 1929 erschien, war die Astronautik zu einem international anerkannten Wissenschaftsgebiet geworden. 1928 stifteten der französische Bankier Andre Hirsch und Robert Essnault-Pelterie einen internationalen Raumfahrtpreis, der unter dem Namen REP-Hirsch-Preis bekannt wurde. 5000 Franken wurden für „denjenigen Autor oder Experimentator ausgesetzt, der im abgelaufenen Jahr das meiste geleistet hatte, um die Idee der Weltraumfahrt zu fördern“.((Ley, 1957a, S. 123.))

Hermann Oberth erhielt 1928 den ersten REP-Hirsch-Preis für sein Buch Wege zur Raumschiffahrt. Als besondere, einmalige Anerkennung seiner Arbeit war der Preis für ihn verdoppelt worden.

Aus den Raketenbegeisterten der zwanziger Jahre waren in den dreißiger Jahren Amateur-Experimentatoren geworden. Sie bildeten in den Jahren des Zweiten Weltkriegs den Kern des deutschen Raketenprogramms. Aus ihnen ging schließlich die Gruppe hervor, die in Amerika in den sechziger Jahren den ersten Menschen auf den Mond brachte. Sie hatten sich an Hermann Oberths zwei Büchern, den Schriften Willy Leys und den Artikeln der Rakete schier die Zähne ausgebissen, obwohl der phantastische Film Frau im Mond alles so plastisch ausgemalt hatte.

Aber das harte Studium der ersten Entwürfe versetzte sie nun in die Lage, mit den systematischen, gründlichen Raketenexperimenten zu beginnen.

  1. Ley 1926, S. 68. []